„Gegen den Verdummungsfeldzug der Reaktion…“: Zu Leben und Werk von Maria Leitner (1892-1942)

Als lange Zeit „Verschollene des antifaschistischen Regimes“ haben Julia Killet und Helga W. Schwarz Maria Leitner (1892-1942) in einer Monografie von 2009 in den Blick genommen: Obgleich die aus dem heutigen Kroatien gebürtige österreichische Journalistin und Schriftstellerin v .a. mit ihren sozialkritischen Reisereportagen aus den USA in der Zwischenkriegszeit beachtliche Resonanz gefunden hat, sind einzelne Aspekte ihrer Vita mitunter noch in ein Dunkel gehüllt. Wiederholte Exilierungen und illegales politisches Engagement der Frau „im Sturm der Zeit“ (Killet/Schwarz) erschweren die Forschung, die seit den ausgehenden 1980ern ‚die‘ Leitner allmählich wiederentdeckt hat.

Von Rebecca Unterberger | Oktober-November 2017, überarbeitet 2019

Inhaltsverzeichnis

  1. „Fräulein“ im Werden
  2. Eine Frau reist in die Neue Welt
  3. Hotel Amerika (1930)
  4. Berlin(er) erzählen
  5. Mädchen mit drei Namen (1932)
  6. „Nun aber sitzen sie im Sattel …“
  7. Elisabeth, ein Hitlermädchen (1937)

1. „Fräulein“ im Werden

Ich veröffentlichte einige Bücher über meine Reisen und einen Roman, „Hotel Amerika“, der sehr erfolgreich war und in einigen Sprachen veröffentlicht wurde. Neue Auflagen dieser Bücher und meines neuen Romans (der als Hintergrund die Bauxit-Minen in Surinams Dschungel hat, die ich besucht habe) wurden gedruckt, als die Nazis an die Macht kamen. Aber dann wurden meine Bücher verbrannt und mein Name erschien auf der Schwarzen Liste. Das geschah hauptsächlich, weil ich viele Berichte von den Lebensbedingungen in Deutschland und der bereits frühen Manifestierungen der Nazis handelten. Ich machte mit dieser Arbeit für antifaschistische Zeitungen weiter, aber natürlich im Geheimen und unter sehr gefährlichen Umständen, als die Nazis an die Macht kamen und zeigte die gigantischen deutschen Kriegsvorbereitungen … Ich wurde in verschiedene KZ-Lager gesteckt, und ich war in der Gefahr von den französischen Behörden an die Deutschen ausgeliefert zu werden. Ich habe immer gegen die Ungerechtigkeit gekämpft und gegen die Nazis, die ich als Gefahr für den Weltfrieden betrachtete. Aber ich war niemals Mitglied einer politischen Partei. Lassen Sie mich nicht zugrunde gehen!!! Ich bin gesund und munter, aber wie lange noch? Das ist die Frage. [zit. bei: Schwarz: 42f.]

Diese eindringlichen Worte richtete Maria Leitner am 20.5.1941 an Theodore Dreiser – im Ringen um Unterstützung bei ihren Bemühungen, aus Frankreich in Richtung USA aufbrechen zu können. Der US-amerikanische Schriftsteller nahm sich tatsächlich des Falls Maria Leitner an, doch blieb der als Kommunismus-nahe eingeschätzten Journalistin und Autorin die Einreise schließlich verwehrt (vgl. ebd.). Leitner verstarb 50jährig, physisch und psychisch erschöpft, am 14.3.1942 in Marseille.

Der Brief von 1941 ist ein – erst spät gefundenes – Dokument zu einem Leben, das immer noch Fragen offenlässt. Geboren wurde Maria Leitner am 19.1.1892 in Varaždin, im heutigen Kroatien gelegen. Die Tochter eines Bauunternehmers wuchs in Budapest auf, wohin die Familie 1896 verzogen war, und absolvierte ebendort die „Ungarische Königliche Höhere Mädchenschule“ (1902-10). Leitner wurde in den Alltagssprachen Deutsch und Ungarisch, aber auch in Englisch, Französisch und Stenografie unterwiesen – und verfügte somit über ein gutes Rüstzeug für eine journalistische Karriere. Ein Kunstgeschichte-Studium führte sie dann nach Wien und Berlin, wo sie Praktika im Kunstverlag und in der Galerie von Paul Cassirer absolvierte, der sich damals um die progressive europäische Kunst- und Literaturszene verdient gemacht hat: Davon zeugen die von Cassirer verantworteten Zeitschriften PAN und Weiße Blätter oder die von Lajos Hatvany mitfinanzierte Monatsschrift für ungarische Kunst und Wissenschaft Jung-Ungarn.

1913 fand Leitner Anstellung bei dem Boulevardblatt Az Est (dt. Der Abend) in Budapest; während des Ersten Weltkriegs sollte sie dann als Korrespondentin für Budapester Zeitungen auch aus Stockholm berichten (1917). In Budapest zählte Leitner zum Kreis um die avantgardistischen Zeitschriften Nyugat und Ma und verkehrte gemeinsam mit ihren beiden Brüdern Max und Johann – wie etwa auch Lajos Kassák – im sogenannten Galilei-Kreis (1909-1919), einer von revolutionären Studenten und jungen Literaten dominierten sozialistisch-pazifistischen Vereinigung. Vermutlich unterhielt Leitner, die seit ihrem Deutschlandaufenthalt mit dem Wirken von Rosa Luxemburg, Clara Zetkin und Louise Otto-Peters vertraut war, zudem Kontakte zur österreichisch-ungarischen Frauenbewegung, etwa mit der Redakteurin der Wiener Arbeiterinnenzeitung Adelheid Popp und der Budapester Funktionärin und Journalistin Mariska Gárdos.

Dass Leitner sich fundiert über aktuelle (gesellschafts-)politische Entwicklungen orientiert hat, davon zeugt ein Bericht im Pesti Futur (dt. Pester Kurier) vom 23.10.1918:

Das Fräulein hatte während des Krieges für ungarische Zeitungen aus Stockholm berichtet …, eine interessante selbstbewusste Dame, die bei meinem Eintritt im ‚Aktionsbuch‘ blätterte, einem Werk, das keine zehn Personen in Pest kannten …, sie bat mich, dass ich sie in meinem Bericht nicht erwähnen soll, denn sie wünsche nicht, das Unglück ihres jüngeren Bruders für sich auszunützen[,] [zit. bei: Schwarz: 13]

Mit dem „Aktionsbuch“ war vermutlich eine von Franz Pfemfert herausgegebene Publikation mit Beiträgen von u.a. August Bebel, Johannes R. Bercher, Wladimir I. Lenin, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg gemeint; und mit dem „Unglück ihres jüngeren Bruders“, dass Johann – genannt János Lékai, in den USA später John Lassen – nach einem missglückten Attentat auf den ungarischen Ministerpräsidenten Graf István Tisza im Oktober 1918 festgenommen worden war (vgl. ebd.). In der am 21.3.1919 gegründeten Ungarischen Räterepublik wurde János, Mitglied der im November 1918 gegründeten Kommunistischen Partei Ungarns (KMP) unter der Führung Béla Kuns und als Redakteur bei der Zeitschrift Az Ifjü Proletaria (dt. Der junge Proletarier) tätig, dann in das Volkskommissariat für Volksbildung berufen; seit April 1919 fungierte er als ein Vorsitzender des Kommunistischen Jungarbeiterverbandes Ungarns. Max war gleichfalls KMP-Mitglied und Mitarbeiter bei Vörös Újság (dt. Rote Zeitung). Als die Weißgardisten unter General Miklós Horthy an die Macht gelangten, mussten die Geschwister Leitner schließlich nach Wien fliehen. Maria Leitner machte hier allerdings nur kurz Station, bis sie 1921 Anstellung beim „Verlag der Kommunistischen Jugendinternationale“ in Berlin fand. János wurde 1922 zu seiner eigenen Sicherheit von der KMP zur politischen Arbeit in die USA entsandt und arbeitete dort an Új Elöre (dt. Neuer Vorwärts) mit, der Tageszeitung der in den USA lebenden Ungarn. In Új Elöre erschien 1923 auch der Roman Die eiserne Ferse von Jack London – in ungarischer Übertragung von Maria Leitner.

2. Eine Frau reist in die Neue Welt

Belegt ist, dass Maria Leitner 1920 als Jugenddelegierte Ungarns am II. Kongress der Kommunistischen Internationale (Komintern) in Moskau (19.7.-7.8.) teilgenommen hat. Dort lernte sie Willi Münzenberg kennen, den Mitbegründer und Generalsekretär des „Provisorischen Auslandskomitees zur Organisierung der Arbeiterhilfe für die Hungernden in Rußland“ (später: „Internationale Arbeiterhilfe“, IAH), für die sie sich auch fortan engagierte. Als Leiter des Neuen Deutschen Verlags (ab 1924) und Herausgeber der Arbeiter Illustrierten Zeitung sollte sich Münzenberg für Veröffentlichungen aus Leitners Feder stark machen. In der von Münzenberg verantworteten kommunistischen Boulevard-Tageszeitung Die Welt am Abend erschien 1929 denn auch Leitners erste literarische Veröffentlichung: Mit der Novelle Sandkorn im Sturm führte Leitner zum zehnten Jahrestag der Zerschlagung der Ungarischen Räterepublik in ein burgenländisches Dorf zur Zeit der Konterrevolution und erinnerte damit an die vergeblichen Bemühungen der Rätesozialisten, die Dorfbevölkerung für ihre Sache zu gewinnen [Schwarz: 23; Killet: 124f.].

Aus: Die Rote Fahne, 24.10.1926, S. 5

Von Einfluss auf Leitners journalistische Karriere waren vor allem ihre Verbindungen zum Ullstein-Verlag, in dessen Zeitungen und Zeitschriften sie seit Mitte der 1920er Jahre Beiträge platzieren konnte. Im Auftrag des Verlags reiste Leitner im März 1925 in die USA – bereits zum zweiten Mal, hatte sie doch János 1923 in der Neuen Welt besucht. Diesmal aber stand ein mehrjähriger Aufenthalt an, der es Leitner ermöglichen sollte, aus der Perspektive eines greenhorn für Ullstein zu berichten. Rund 80 Stellen kreuz und quer durch die USA, die Karibik und Mittel- bzw. Südamerika nahm Leitner an, um mit ihrem Lohn als Kellnerin, Zigarrendreherin, Tabakarbeiterin, Packerin oder Köchin ein Auskommen zu finden und sich auch ihre inner-amerikanischen Reisen finanzieren zu können. Leitners (Sozial-)Reportagen über ihre Erfahrungen und Beobachtungen erschienen zunächst unter dem Titel Unbekanntes Amerika in der Illustrierten UHU, aber einzelne auch in der Wiener Roten Fahne, bevor sie in Form der Sammlung Eine Frau reist durch die Welt (Berlin-Wien, Agis Verlag 1932) nochmals auf große Resonanz stießen: 1934 wurde eine polnische Übersetzung, 1937 die ungarische der Frauenrechtlerin Mariska Gárdos in Fortsetzungen in der Budapester Zeitung Népszava (dt. Volksstimme) veröffentlicht.

Zu geringe Löhne, mangelnder Schutz am Arbeitsplatz, unfaire Behandlung, unerfüllte Träume und die stets drohende Arbeitslosigkeit nahm Leitner in ihren Reportagen ebenso in den Blick wie die Ausbeutung der Urwald-Ressourcen durch Kolonialmächte und internationale Konzerne. In Petroleumland, dem letzten der insgesamt acht Abschnitte der Sammlung von 1932, entlarvte sie etwa in der Reportage Curaçao, die Insel der einstigen Sklavenhändler die Protagonisten internationaler Großkonzerne, die „Gebieter des Petroleums“, als (neue) Konquistadoren und „Patrizier“: „Die neuen Herren, das ist die Royal-Dutch-Shell-Company, das sind Deterding und seine Aktionäre“, deren gegen die Arbeiterschaft gerichteten Ausbeutungs- und Repressionsmechanismen sich in Leitner’scher Darstellung kaum von denen der vormaligen „Sklavenhändler“ unterscheiden [EF o.S.]. Mit dem anti-kolonialistischen Roman Wehr dich, Akato!, der in der Arbeiter-Illustrierten-Zeitung bis zu deren Verbot im März 1933 in Fortsetzungen erschien, sollte Leitner dann auch als Romanschriftstellerin in die Guayanas, in die „größten Urwälder der Welt“, wo eine US-amerikanische Aluminiumgesellschaft „die ungeheuren Schätze, die verborgen im Walde liegen, ausbeuten [will]“, führen – um laut Annonce aufzuzeigen, „welche sinnlosen Opfer das kapitalistische System fordert“ [Schwarz:29].

Aus: Die Rote Fahne, 8.1.1933, S. 10

Welche sinnlosen Opfer das kapitalistische System fordert, darauf hat Leitner auch mit ihren dem Arbeitsalltag US-amerikanischer Frauen gewidmeten Skizzen den Blick gelenkt: Als Arbeiterin im Schatten der Wolkenkratzer zeigt sich Leitner in Eine Frau reist durch die Welt im ersten Kapitel in New York, wo sie in einem Mega-Hotel, einem Automatenbüffet, als Dienstmädchen, als Kleiderverkäuferin und als „Candy-Girl“ in einer Süßwarenfabrik angeheuert hat. Letztgenannter Arbeitsort etwa entpuppt sich, wie in der Reportage Candy-Girl im Schlaraffenland gezeigt wird, mitnichten als ein ebensolches: „Wenn Sie eine Minute zu spät kommen, wird eine halbe Stunde abgezogen“, begrüßt „die ‚forelady‘, die Vorarbeiterin“ die neue Mitarbeiterin, die umgehend in das Arbeitsgetriebe absorbiert wird.

Das Arbeitssystem ist hier ganz ähnlich wie das berühmte laufende Band. Quer durch den Saal laufen die Maschinen, vor denen die Arbeiterinnen packen. Eine Glaswand, mit je einer Öffnung vor 27 jeder Maschine, trennt uns von den Pralinenherstellern. Hier gibt es kein gemütliches Schlendern mehr, die Maschinen schreiben die Bewegungen der Packerinnen wie der Bonbonhersteller vor. Man steht hier in der eisigen Kälte acht oder manchmal auch neun Stunden lang, ohne einen Augenblick sich auszuruhen oder sitzen zu können[,]

Dabei schreit die forelady „uns ständig wie ein Phonograph in die Ohren: ‚Mädels, eure Hände müssen flinker werden, Mädels, eure Hände müssen flinker werden‘, immer ohne Unterlaß. So sieht es aus im Schlaraffenland.“ [EF o.S.] Trister noch zeigt sich der Arbeitsalltag in der im dritten Kapitel in den Blick genommenen Provinz, etwa Als Arbeiterin in einer Zigarrenfabrik. Nicht nur über die gesundheitsschädigende „Tabakluft“ („Wenn man die Fabrik betritt, hat man das Gefühl: Hier kann man nicht atmen.“), sondern auch über die Gründe für Fabrikansiedlungen fernab der Ballungszentren klärt Leitner auf:

Man wird diese Frauen natürlich billiger und länger arbeiten lassen können als in einer Großstadt, wo ihnen mehr Arbeitsgelegenheiten zur Verfügung stehen. Sie brauchen nicht soviel Zeit zu verfahren […]. In New York arbeiten die Frauen durchschnittlich acht Stunden, in der Provinz zehn und noch mehr[,] [EF o.S.]

und doch macht sich kaum Unmut breit. Die Gründe hierfür fokussierte die Rezension zu Eine Frau reist durch die Welt in der Wiener Arbeiterinnen-Zeitung:

In einer der größten Schuhfabriken Amerikas versagt der elektrische Strom. Es entsteht das Gerücht, ein Streik sei ausgebrochen. Sie näht Schnallen an die Schuhe und fragt die junge Amerikanerin, die neben ihr arbeitet, ob sie die Arbeit einstellen würde, falls der Streik proklamiert würde. Diese antwortet nicht, doch sie deutet mit den Augen erschrocken auf einen Vorarbeiter, der gerade dort steht. Abends wird sie in das Büro gerufen, wo man ihr den Lohn auszahlt mit der Bemerkung: „Sie sprechen zuviel, wir können Sie nicht brauchen.“ (N.N.: Maria Leitner: Eine Frau reist durch die Welt. In: Arbeiterinnen-Zeitung (1.3.1933), S. 19.)

Nichtsdestotrotz beweist Leitners Reporterinnen-Ich immer wieder, dass es sehr wohl – obgleich: sehr begrenzt – Möglichkeiten gibt, das „System“ subversiv zu unterlaufen, zu rebellieren: Durch vorsätzlich (zu) langsames Arbeiten oder vorgetäuschte Unbeholfenheit bringt sie Sand ins kapitalistische Getriebe.

3. Hotel Amerika (1930)

„Es ist ein Buch, wir aber werden das Gefühl nicht los, als hätten wir eine der großen amerikanischen Zeitungen aufgeschlagen und läsen die Reportage einer ausgezeichneten Journalistin“ (M.P.: Frauenschicksale. Ein paar Bücher, die davon erzählen. Das Kleine Blatt (11.2.1931), S. 14), konstatierte Marianne Pollak im sozialdemokratischen Kleinen Blatt mit Blick auf Maria Leitners ersten Roman Hotel Amerika (Berlin, Neuer Deutscher Verlag, 1930): Vergleichbar Ann Tizia Leitich z.B. verarbeitete Leitner ihre USA-Aufenthalte nicht nur in Reportage-, sondern auch in Roman-Form. Und sowohl im Falle Leitichs als auch im Falle Leitners wurde diese Fasson eines auf weiblicher ‚Vagabondage‘ basierenden Schreibens von Verlagsseite für Reklamezwecke eigens hervorgekehrt:

Wir sind es gewohnt, dass Männer durch die Welt vagabundieren, aber dass eine Frau es wagt, auf Hotels und auf alle anderen Reisebequemlichkeiten zu verzichten, und nicht einmal als Globetrotter, auch nicht als eine der üblichen Dutzendjournalistinnen, sondern auf ihre Art durch die Welt reist, das ist nicht nur neu, das ist vor allen Dingen eine Leistung[,] [zit. bei: Killet: 115]

war auf dem Klappentext zu dem – laut Untertitel – „Reportage-Roman“ zu lesen, mit dem Leitner ein erfolgreicher Wurf gelang: 1931 wurde Hotel Amerika auch ins Spanische, 1937 dann von Mariska Gárdos für die Zeitung Népszava ins Ungarische übersetzt.

Aus: Das Kleine Blatt, 11.2.1931, S. 14

Anders als der Neue Freie Presse-Korrespondentin Leitich mit ihren an eine bürgerliche Leserschaft adressierten Depeschen, war Leitner mit ihren USA-spezifischen Texten – und auch als Romanschriftstellerin – vor allem daran gelegen, ihr Publikum von der Notwendigkeit und letztlich auch Durchschlagkraft sozialistischer Ideen zu überzeugen. Leitners Beiträge aus und über Amerika erschöpften sich nicht in der Schilderung dortiger Landschaften oder Lebensverhältnisse: Zentral stand die Situation der Arbeiter- und Angestelltenschaft in den bereisten Ländern, aus deren Darstellung die deutschsprachige Leserschaft unschwer Schlüsse auch für die eigene Lebenssituation ziehen konnte.

Shirley, die aus Irland gebürtige Protagonistin in Hotel Amerika, leistet ihre Arbeit als Wäschermädchen im New Yorker Luxushotel „Amerika“ unter unmenschlichen Bedingungen zunächst im Vertrauen auf ihre Träume von einem besseren, d.h. gleichfalls luxuriösen Leben: „Nun, Shirley wird herauskommen aus all dem Dreck, sie wird ein anderes Leben führen als bisher, ein gutes Leben. Sie wird nicht ewig ausgeschlossen bleiben von allem, was angenehm ist.“ [HA 33] Die Ereignisse eines einzigen Tages aber, den der Leitner’sche Entwicklungsroman skizziert, lassen Shirley ihre Träume, konkreter: den amerikanischen Traum from rags to riches verabschieden und zu einer klassenbewussten Mitstreiterin für sozialistische Ideen werden. „[H]eute morgen dachte ich, es ist der letzte Tag, und wirklich, es ist so gekommen. Und doch ganz anders, als ich ahnte“ [HA 179], wird Leitners Protagonistin besagten Tag resümieren, an dem ein mittäglicher Aufstand der Belegschaft schlussendlich zu Shirleys Entlassung geführt hat.

„Aber die Fabel ist Nebensache im Vergleich mit dem Beiwerk der Beschreibungen und Einzelbezüge“, gab Siegfried Kracauer in der Frankfurter Zeitung (28.12.1930) für Leitners Erforschung der „Wolkenkratzerwelt von unten bis oben“ in seiner Besprechung unter dem Titel Luxushotel von unten gesehen zu bedenken: Der Roman

ist ein nützliches Buch; nützlich insofern, als er von amerikanischen Lebensverhältnissen erzählt, die in den üblichen Amerikabüchern unberücksichtigt bleiben. […] Im Interesse ihrer Wirkung sollten sich die revolutionären Schriftsteller um genauere Einblicke in die Gesellschaftsschichten bemühen, die sie aufheben wollen. [S.K., 400f.]

Anhand der Mittagsspeisung der Arbeiter und Angestellten etwa veranschaulicht Leitner nicht nur die Kehrseite zum überbordenden Luxus, der den Hotelgästen bereitsteht, sondern auch eine rigide Hierarchie unter der Belegschaft, die die mit dem Schlagwort ‚Amerika‘ in der Zwischenkriegszeit evozierten Ideen von Freiheit und Gleichheit konterkariert:

Es ist Mittagsessenzeit für das Personal. Nicht alle essen gleichzeitig und freilich auch nicht alle im gleichen Raum. […] Rein äußerlich wird so schon die besondere Stellung des Personals stufenweise zum Ausdruck gebracht. Die Trennung erfolgt aber nicht nur nach der Stellung, sondern auch nach den Geschlechtern und der Rasse: Männer und Frauen essen in getrennten Räumen, die Neger werden nicht mit den Weißen vermischt. [HA 86]

Erst erfolgt die Ausgabe an die Direktion und die „Offiziere“ – die höheren Angestellten –, dann an mittlere Angestellte, die sich bereits selbst bedienen müssen, sodann an das ‚niedere‘ Personal – an Haushälterinnen, Telefonistinnen, Stenotypistinnen und Kellnerinnen –, bis Leitner schließlich in die „Speiseanstalt für die Angestellten der niedrigsten Stufe“ führt: Hier essen

alle Schwerarbeiter des Hotels, die Hausmänner, die die Korridore reinigen und die schweren Staubsauger handhaben, die Männer, die die Wände in den Zimmern abwaschen, die Fensterputzer, die Kammerjäger, die ‚nützlichen Männer‘, wie man jene nennt, die die Marmorböden und Steinfliesen aufzuwaschen haben, die Heizer, auch die Träger, die Pagen und die Küchenjungen[,] [HA 91]

sowie „die Scheuerfrauen, die Stubenmädchen, die Wäscherinnen, die Wäschereimädchen, natürlich nur die weißen. Die Negerinnen essen in einem kleineren Nebenraum.“ [HA 87] Als faule Pellkartoffeln ausgegeben werden, wird der Unmut im Kollektiv („es ist etwas Neues, daß hier im Speiseraum Frauen und Männer, Schwarze und Weiße zusammentreffen.“ [HA 93]) immer lauter: „Man verwechselt uns mit Schweinen.“ [HA 90] Doch als der Personaldirektor sich bereit zeigt, Einzelne anzuhören, schweigen alle – aus Furcht, entlassen zu werden; und als er denn auch demonstrativ von den verdorbenen Speisen isst, löst sich die Ansammlung allmählich auf – bis Shirley ihre Stimme an den Personaldirektor richtet: „Sag, Papachen, wenn es dir hier so schmeckt, warum ißt du nicht immer mit uns?“ [HA 101] Shirley reklamiert hier erstmals eine Stimme für sich, wird von einer „Nummer“ zu einer klassenbewussten Einzelnen, die sich für das Speisesaal-Kollektiv stark macht:

Ich heiße Shirley O’Brien. Es ist schön, daß ich auch einmal meinen ganzen Namen sagen darf. Ich arbeite hier schon seit sechs Jahren, aber man hat mich selten nach ihm gefragt. Genügt es nicht, wenn man meine Arbeitsnummer weiß? Ich bin Nummer 2122. [HA 104f.]

Dass Shirley sich ihrer Lage bewusstgeworden ist und sich fortan nicht mehr in ihre Träume von Luxus flüchten wird, daran hat der Küchenjunge Fritz Globig maßgebend Anteil: Er repräsentiert die Arbeitenden, die bereit sind, sich gewerkschaftlich zu organisieren; er motiviert Shirley zu klassenbewusstem Denken und Handeln [Killet: 128].

Eine „saubere illusionslose Haltung“, die „doppelt für das Buch ein[nimmt]“, attestierte (der) Leitner in dieser Hinsicht Siegfried Kracauer, dessen Rezension für das Frankfurter Zeitung-Literaturblatt vor allem auch Kerngehalte seiner Studie Die Angestellten (1930) ansprach: „Der Individualismus der Angestellten wird gegeißelt, ihr kleinbürgerlicher Instinkt durchschaut, ihre Kümmerlichkeit ohne falsches Mitgefühl analysiert“, und der Leitner’schen Protagonistin schließlich die Erfahrung zuteil, „daß der rechte soziale Anstieg nur durch die Solidarität aller Erwerbstätigen erreicht werden kann.“ [Kracauer: 400f.]

4. Berlin(er) erzählen

Um 1930 lag Maria Leitners Lebensmittelpunkt in Berlin, und hier setzte sie die Arbeit für Ullstein mit Beiträgen für v.a. die Tageszeitung Tempo fort: Ein Kino- und Café-Pianist erzählt, Die Geschäftsführerin eines Schönheitssalons erzählt, Eine Kellnerin erzählt, Eine Hausfrau erzählt [T 52f.] oder Bettler erzählen [T 61f.] lauteten die Titel von darin veröffentlichten Reportagen Leitners, die – einem Tonband gleich – Stimm-Spuren von Großstadt-Typen einfing. Ein Schlichter Lebensbericht einer jungen Stenotypistin z.B., veröffentlicht am 18.9.1928, ließ eine junge Angestellte als Statthalterin der in der Zwischenkriegszeit vielbeschworenen Neuen Frau zu Wort kommen, und offerierte einen illusionslosen Blick auf das nur vermeintlich emanzipierte Leben der erwerbstätigen Frau:

Ich habe erst nur 90 Mark Gehalt. Davon muß ich zu Hause 50 Mark abgeben. Wenn ich noch abrechne, was ich für Elektrische und Krankenkasse brauche, bleiben mir kaum 30 Mark. Davon muß ich mir Kleider und Schuhe und alles, was ich noch brauche, kaufen. […] Ich bin siebzehn Jahre alt. Wenn ich es erwähne, seufzen die Leute und sagen, „Sie werden erst später wissen, wie herrlich es ist, siebzehn Jahre alt zu sein.“ [T 34f.]

Und unter dem Titel Tauentzien-Girl (2.11.1928) präsentierte Leitner mitnichten eine Apotheose des keck-androgynen, neuen Girl-Typs. Sie dekuvrierte vielmehr dessen ‚Keck-ness‘ als eine verordnete und, in den Dienst der Reklame gestellt, als eine Service-Leistung im Graubereich zur Prostitution:

In der Tauentzienstraßen, an der belebtesten Ecke vor einem Geschäft, stehen zwei junge Mädchen in Kostüme gekleidet, wie sie nur die nach Erotik lechzende Seele eines Berliner Kaufmannes, eines Revue-Habitués ersinnen konnte. Eine trägt ein blutrotes Kleid, Hosen, darüber ein kurzer Rock, eine goldbetreßte Jacke, eine schief aufgesetzte Mütze und hohe Stiefel, die andere genau das gleiche in Lila. Über ihren Köpfen schwebt ein Riesenschild mit der Reklame der Firma. Beide versuchen dabei den Promenierenden Reklamezettel in die Hand zu drücken.

„Sagen Sie, wie viel verdienen Sie eigentlich mit dieser Arbeit?“, frage ich sie. […]

„Ich verdien 16 Mark die Woche und arbeite acht Stunden“, sagt die Lilagekleidete. […]

„Ich bin sechzehn“, sagt die Lilagekleidete. Ihre Mütze sitzt unerhört verwegen auf ihrem Kopf, aber darunter sieht man ein rundes, zartes Kindergesicht.

„Und für das Geld muß man sich so hinstellen.“ […]

„Ich möchte lieber ein Affe sein im Zoo“, sagt die Sechzehnjährige melancholisch, dann aber fügt sie ganz geschäftsmäßig hinzu: „Hier nehmen Sie doch einen Zettel. Beim Einkauf bekommen Sie dann 10 Prozent Rabatt.“ [T 28f.]

In ihren Tempo-Beiträgen ließ Leitner Berliner Typen zu Wort kommen, ohne dabei direkt anzuklagen. Daneben verfasste sie aber auch dezidiert(er) sozialkritische Reportagen für den ‚linken‘ Neuen Deutschen Verlag von Willi Münzenberg, d.h. für die Zeitungen Welt am Abend und Berlin am Morgen, die Arbeiter Illustrierte Zeitung oder das Magazin für alle. In der Welt am Abend brachte Leitner Anfang 1932 etwa die Serie Frauen im Sturm der Zeit. Zwischen Arbeitsstätte, Stempelstelle und Familienheim zur Veröffentlichung: Vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise und der grassierenden Massenarbeitslosigkeit waren hierin geringe Löhne, fehlende Aufstiegschancen, die (Un-)Vereinbarkeit von Beruf und Familie Gegenstand, am Rande auch Prostitution und Abtreibung.

Dieser Thematik hatte Leitner bereits 1931 die Reportageserie Opfer und Schmarotzer um den § 218 für das sozialdemokratische Volksblatt für das Vogtland gewidmet. „Ein trostloses Leben. Wenn sie ins Kino gehen will und sehen, wie hübsche Mädchen doch alle ihr Glück machen, muß sie sich mit ihren Abendessen tagelang einschränken“ [R 74], ist darin über das fallbeispielartig skizzierte Leben eines Mädchens zu lesen, das zweimal ungewollt schwanger wird: Nicht Liebe bindet sie an Kurt, sondern Hass – angefacht von dem tristen, kargen Dahinfristen in einer kleinen „Bude“. „Er ist überzeugt, daß sie es aus Heimtücke herbeigeführt hat, um ihn so einzufangen. Sie schwört darauf, das [sic] er sie auf diese Weise loswerden will, ja, daß er nach ihrem Leben trachtet.“ [R 75] Kurt verlässt das Mädchen, das arbeits- und obdachlos endet – Spätfolgen der Physis und Psyche gleichermaßen devastierenden Abtreibungspraktiken, über die Leitner ungeschönt Auskunft erteilt: In einer beliebten „Geschäftsstraße“ im Westen

werden Menstrualtropfen angeboten, extra stark. Und natürlich garantiert unschädlich, mit einem Ausrufezeichen. Allerdings wird empfohlen, in hartnäckigen Fällen gleichzeitig auch Menstrualtee und Menstrualpulver […] zu nehmen. Es werden auch Damen-Dragees angeboten, die sogar einen angenehmen Geschmack haben. Alles von zuverlässiger Wirkung. Jahrzehntelang erprobt! (Die Ausrufezeichen stammen alle nicht von mir, sondern von den Verfassern des Preisverzeichnisses.) [R 88]

Manches davon sei „weniger harmlos. Tampons, mit Arsenlösung getränkt“ etwa – und doch setzen die aufgrund des Abtreibungsparagrafen § 218 in die Illegalität gedrängten ‚Durchschnittsfrauen‘ beim Abortus ihr Leben aufs Spiel – anders als die sozial bessergestellten ‚Damen‘, denn: „Staatsanwälte suchen nichts Verbotenes in teuren Sanatorien“ [R 89].

5. Mädchen mit drei Namen (1932)

Die Themen der Berlin-Reportagen fanden schließlich Eingang in den – darin Hotel Amerika vergleichbar – Reportage-Roman Mädchen mit drei Namen, der in den Sommermonaten 1932 in der Welt am Abend in Fortsetzungen veröffentlicht wurde:

Maria Leitner schildert in diesem Roman, der besonders Frauen interessieren dürfte, die Erlebnisse eines jungen Mädchens, das aus der Provinz nach Berlin kommt, in die Fürsorge gerät, entflieht, neues Mißgeschick erfährt und zuletzt den Weg findet, der allein eine Rettung aus allem Wirrwarr verheißt. Ein Frauenschicksal in dieser Zeit wird in Maria Leitners Roman erzählt – packend und spannend. Unter den zahlreichen Frauenromanen, die in letzter Zeit das Schicksal alleinstehender Frauen geschildert haben, nimmt der Roman Maria Leitners einen ersten Platz ein [,] [M 142]

war in der Welt am Abend-Ankündigung über den (jungen) Frauen als eine Art Vademekum anempfohlenen Roman zu lesen.

Das „Mädchen mit drei Namen“ Lina hat in einem Hutgeschäft in Cottbus eine Lehre absolviert und ist danach aus dem engen Elternhaus („Sechs Personen in einer Zimmerküche.“ [M 172]) nach Berlin aufgebrochen. Die erste Station in Berlin, ein „Heim für Hausangestellte“, entpuppt sich als einschlägiges Etablissement und scheint Linas weiteren Weg zu weisen: Durch Vermittlung der Zufallsbekanntschaft Angelika findet Lina Anstellung als „Tanzdame“ im schäbigen Tanzpalast Bosporus, um nach einer Polizei-Razzia in ein „Pflegeamt“ verbracht zu werden.

Am nächsten Morgen mußten wir zu der Ärztin zur Untersuchung. Jetzt erst begann ein richtiges Gejohle.

„Brauchen wir uns gar nicht gefallen lassen.“

„Solche Gesetze gibt’s ja gar nicht mehr.“

„Wir sind ja keine Kontrollmädchen.“

„Sowas gibt’s ja gar nicht in der Republike[sic].“

„Auf dem Papier nicht.“

„Auf dem Papier gibt’s vieles nicht, was es in Wirklichkeit gibt.“

„Die feinen Herren, die in den Nachtlokalen große Zechen zahlen, die brauchen hier bestimmt nicht aufzumarschieren.“

„Unter denen gibt’s nur Gesunde.“ [M 170f.]

Lina wird im Fürsorgeheim untergebracht – und das bedeutet: spärliche Verpflegung, ständige Überwachung und Hausarbeitsdienst in der Gesellschaft ‚gefallener‘ Mädchen wie Ella, einer fünfzehnjährigen Warenhausdiebin, oder der vor väterlichem Missbrauch geflogenen Prostituierten Lisa. Lina aber kann entkommen und findet gemeinsam mit Angelika Anstellung in der Bar Paradies, wo sie, diesmal als „Evelyn“, mit Harry („so hieß er; er sah auch so aus: englisch und interessant“ [M 185]) bekannt wird: Als der erfolglose Geschäftsreisende, der die Juden für sein berufliches Missgeschick verantwortlich macht, des Diebstahls überführt wird, werden auch Angelika und Lina als Komplizinnen festgenommen. Angelika wird aufgrund einer (ungenannten) sexuell übertragbaren Krankheit in ein geschlossenes Krankenhaus eingewiesen, Lina in einem katholischen Kloster untergebracht. Dort findet sie sich – nunmehr „Annunciata“ genannt – in Gesellschaft anderer, nach Dafürhalten der Fürsorgestellen auf die ‚schiefe‘ Bahn geratenen Mädchen wieder. Anna etwa ist wegen ihrer Streikbeteiligungen, ihres sozialistischen Engagements eingewiesen worden, wird aber nicht müde, für ihr politisches Credo einzutreten:

Allein kann ich mich nicht befreien, allein kann ich die Klostermauern nicht niederreißen. Aber zusammen mit den Millionen, die das gleiche Ziel haben, können wir es erreichen. […] Ich meine die Millionen Proletarier, ich meine dich und mich und uns alle, die das gleiche Schicksal haben. [M 200]

Dass Lina sich zunehmend von Annas politischen Visionen, vor allem aber auch deren Kritik an den Ungerechtigkeiten hinter den Klostermauern („Ja, wir arbeiten hier ohne Lohn und unsere Arbeit wird an Geschäfte verkauft, die noch mehr an uns verdienen. Wir aber bekommen nicht einmal satt zu essen.“ [M 203]) überzeugt zeigt, führt schließlich zu ihrem Ausschluss aus dem Kloster-Kollektiv. Lina findet Zuflucht bei Annas Bruder Franz: „Franz gab mir Bücher und Zeitungen zu lesen; er und Anna nahmen mich auch zu Versammlungen mit.“ [M 205] Als sie vor Franz eine Lebensbeichte über ihre Stationen bei diversen Fürsorge-Institutionen ablegt, klärt der sie auf:

„Aber warum haben sie dich doch gehetzt und gestraft? […] Du sollst die Fehler in dir selbst suchen und nicht in der Welt, die dich umgibt, nicht in der Gesellschaft, die dich zu einem solchen Leben zwingt. Das ist der Zweck der Übung. Du sollst Buße tun, die Augen niederschlagen und die Welt um dich nicht sehen. […] Denn, wenn du nicht in dir selbst die Fehler suchen wirst, sondern in der Welt, die dich umgibt, dann, so befürchten sie, wirst du erst einmal diese Welt verändern wollen. In dieser neuen Welt werden wir uns alle schon selbst verändern.“

„Ja, ja, ja.“

„Wollen wir zusammen den Weg suchen? Wollen wir zusammen kämpfen?“

Ja, ich war bereit.

Wunderbar neu wurde mir die Welt.

                                   Ende. [M 209f.]

Wie in Hotel Amerika für Shirley der Küchenjunge Fritz, fungiert für Lina Franz als Lichtfigur bei der Konversion hin zu einer klassenbewussten Kämpferin für eine ‚Neue‘ Welt.

6. „Nun aber sitzen sie im Sattel …“

Die Forderung nach Solidarität und gemeinsamen Aktionen zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen stand in Maria Leitners journalistischem Schaffen stets zentral, doch um 1930 wandelte sich die Beobachterin – unter dem Eindruck des zunehmenden Vorwaltens der politischen Reaktion – mehr und mehr zu einer Beteiligten. Maria Leitner war Mitglied des 1928 gegründeten Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller und zählte wie u.a. auch Bertolt Brecht, Johannes R. Becher, Erich Mühsam und Anna Seghers 1931 zu jenen Mitgliedern des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller (SDS), die gegen die Pressenotverordnungen und reaktionäre Tendenzen im Vorstand des SDS protestierten und daher vorübergehend ausgeschlossen wurden.

Im Rahmen der Werbekampagne anlässlich des Launches der Zeitschrift Der Weg der Frau, zu deren Mitarbeiterinnen Leitner neben u.a. Käthe Kollwitz zählte, ließ Leitner 1931 an der aufklärerischen und damit eminent politischen Bedeutung von (Frauen-)Zeitschriften, allgemeiner: engagiertem Journalismus im Dienste der Propaganda für die „proletarische Sache“ keinen Zweifel:

Die Frage, warum die Frauen in so großen Massen im reaktionären Lager stehen, wird viel diskutiert … Gegen den Verdummungsfeldzug der Reaktion ist umso schwerer anzukämpfen, weil die Mehrzahl der Frauen (Hausfrauen, Heimarbeiterinnen, Angestellte und Arbeiterinnen der Kleinbetriebe) viel isolierter von ihren Klassengenossen leben als die Männer. Ich glaube, dass der Weg der Frau besonders geeignet ist, auch diese Frauen für die proletarische Sache zu gewinnen und ihnen ihre Lage klar zu zeigen. [Killet: 115]

Um den Blick auf die Reaktion, auf die faschistische Gefahr zu lenken, machte sich Leitner 1932 zu einer Entdeckungsfahrt durch Deutschland auf, so der Titel einer in Welt am Abend veröffentlichten Reportage-Serie: Am 2.11.1932 etwa berichtete sie aus einem Strelitzer Dorf, in dem bei den letzten Wahlen 114 von 160 Wählern für Hitler votiert hatten.

Die Nazis kamen auf die Dörfer, schimpften mit den Bauern und versprachen ihnen das Blaue vom Himmel: keine Zinsknechtschaft, keine untragbaren Steuern mehr, keine hohen Zölle, die die Viehhaltung, die einzige Verdienstmöglichkeit der Kleinbauern, unmöglich machen. […] Nun aber sitzen sie im Sattel, auch in weichen Ministersesseln, und nichts hat sich verändert. [T 104]

Dass sich die Lage für die Dorfbevölkerung eher verschlechtert habe, veranschaulicht Leitner mit der Wirtin im „Krug“, einer vormals glühenden Nazi-Anhängerin, die nunmehr aber über neue, ständig steigende Schulden Klage führen müsse.

Nach der Machtergreifung Hitlers wurden Maria Leitners Werke auf die „Liste 1 des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“ der Reichsschrifttumskammer gesetzt, und Leitner musste aus Deutschland fliehen: „Viel deutet darauf hin, dass sie zumindest anfangs zwischen dem deutschsprachigen Sudetengebiet, der Tschechoslowakei und Österreich pendelte.“ [Schwarz: 29f.]. Der Weg Maria Leitners führte schließlich nach Paris, dem Sammelpunkt vieler deutscher EmigrantInnen und des antifaschistischen Widerstands [Schwarz: 30-32], für den sich Leitner schreibend engagierte, mit Beiträgen u.a. für die Exilzeitschriften Das Wort (Moskau), Pariser Tageszeitung und Die Neue Weltbühne (Prag).

Leitner war, wie sie in ihrem Gesuch für ein Arbeitsstipendium der American Guild für German Cultural Freedom 1938 darlegte, „in die Emigration“ gegangen, „aber wiederholt in Deutschland“ gewesen: „Über meine Reisen im Hitlerreich veröffentlichte in fast allen deutschen antifaschistischen Zeitungen Reportagen“ [zit. bei: Schwarz: 33]. Leitner nützte diese Foren, um über offene wie geheime Kriegsvorbereitung im faschistischen Deutschland – 1937 z.B. über die Produktion von Zyklon B durch die I.G. Farben (vgl. ebd.: 35) – aufzuklären. Zum Jahreswechsel 1934/35 hielt sie sich im Saarland auf und beteiligte sich mit anonym veröffentlichten Beiträgen u.a. für die Saarbrückener Wochenzeitung Westland am politischen Kampf vor dem Volksentscheid, d.h. bevor das Saargebiet 1935 wieder an (Hitler-)Deutschland angeschlossen wurde.

Leitners Lebenssituation im Exil war eine prekäre, und ihr Gesundheitszustand verschlechterte sich zusehends. Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Paris wurde sie im Mai 1940 im nördlich der Pyrenäen gelegenen Camp de Gurs interniert. Leitner konnte fliehen und sich bis nach Toulouse durchschlagen. Sie bemühte sich hier um amerikanische Schreibaufträge, darum, zu Vortragsreisen in die USA eingeladen zu werden, etwa durch das eingangs zitierte Schreiben an Theodore Dreiser. 1938 war Leitner kurzzeitig als Sekretärin des US-amerikanischen Romanciers tätig gewesen, als dieser auf Einladung der ›Association Internationale des Ecrivains pour la Défense de la Culture‹ am Dritten Internationalen Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur – aus Anlass des Spanienkriegs – in Paris geweilt hatte. Mit Hilfsgesuchen wandte sich Leitner auch an Hubertus Prinz zu Löwenstein und die von ihm 1938 gegründete Hilfsorganisation American Guild for German Cultural Freedom, und pochte dabei zum Nachweis ihrer antifaschistischen (Kampf-)Gesinnung u.a. auch auf ihre letzte Romanveröffentlichung: „Ich schrieb auch einen Roman über das Leben der deutschen Jugend im Dritten Reich. Er wurde unter dem Titel Elisabeth, ein Hitlermädchen in der Pariser Tageszeitung veröffentlicht …“ [M.L.: Gesuch für ein Arbeitsstipendium der American Guild for German Cultural Freedom (1938), zit. bei: Schwarz: 33].

7. Elisabeth, ein Hitlermädchen (1937)

Protagonistin im in der Pariser Tageszeitung (22.4.-21.6.1937) veröffentlichten – laut Untertitel – „Roman der deutschen Jugend“ Elisabeth, ein Hitlermädchen ist die als Schuhverkäuferin im Warenhaus Alderman tätige Elisabeth Weber. Die in 20 Kapiteln dargereichte Geschichte um Elisabeth, in die Leitner authentische Lieder, NS-Gesetzesblätter und zeitgenössische Reden einmontiert hat, ist als Gegenstück zu nationalsozialistischen Jugendromanen wie etwa Ulla, ein Hitlermädel von Helga Knöpke-Jost (1933) konzipiert: Beide, Ulla und zunächst auch Elisabeth, sind neugierig auf die nationalsozialistische Ideologie und fasziniert vom (neuen) Gemeinschaftsgefühl [vgl. Killet: 130f.]. Als linientreues „Hitlermädchen“ offenbart Elisabeth ihre Wünsche von einem ‚guten Leben‘ dem erst Bankangestellten, dann SA-Mann und Geliebten Erwin Dobien wie folgt:

Und Hitler sagt: „Die Frau soll Mutter werden und ihr eigenes Heim haben.“ Das finde ich auch sehr richtig. Das ist doch nicht schön, zu Nutzen des Herrn Alderman das ganze Leben lang Schuhe zu verkaufen. Und dabei immer noch zittern zu müssen, man könnte noch diese jämmerlich bezahlte Arbeit verlieren [,] [EH 39]

Während Erwin im gutbürgerlichen Westen Berlins unweit des Kurfürstendamms aufgewachsen ist und sein Engagement für den NS die Familie mit Stolz erfüllt, steht Elisabeths Familie – der Vater, schwer verletzt aus dem Ersten Weltkrieg heimgekehrt, arbeitet als Nachtwächter bei Siemens und Schuckert in Reinickendorf – der Nazi-Begeisterung der Tochter skeptisch gegenüber: Elisabeth ist in einer ‚roten Gegend‘ im Norden der Stadt aufgewachsen, wo sie die in den NS-Jugendorganisationen indoktrinierte Ideologie fleißig in der Nachbarschaft, bei Arbeitern und Angestellten, lancieren möchte.

Einmal, das war noch ganz am Anfang, kam nachts SA in unser Haus. Da wohnte ein berüchtigter Kommunistenführer. Es war so still, die Leute horchten angestrengt. Man konnte Schläge hören und Geschrei, einen furchtbaren Schrei. Das war sicher die Frau […]. Mein Vater sah mich an, so von Wut erfüllt, als wäre ich schuld an dem, was da unten geschah. Aber wie sollte es mein Fehler sein, dass dieser Kommunist weiter hetzte. Ich habe es meinem Vater erklärt, warum niemand das Aufbauwerk des Führers stören dürfte. Ich glaube, dass er seitdem eingesehen hat, dass ich recht habe. [EH 39]

Die Einsicht, Recht zu haben, das Allvertrauen auf die Hitler’schen Heilsversprechungen aber wird allmählich brüchig. Als Elisabeth aufgrund der NS-Beschäftigungspolitik ihre Stellung im Warenhaus verliert – sie muss als „jugendliche“ Mitarbeiterin ihren Arbeitsplatz für ältere Kolleginnen räumen – und für die sogenannte „Landhilfe“ (zwangs-)rekrutiert wird, ist sie noch überzeugte Nazin und bereits von Erwin schwanger; am Ende des Romans wird Leitner sie „unehrenhaft“ aus dem Dienst ausgeschieden und von Erwin verlassen zeigen.

„Du bist nichts, deine Nation ist alles!“ [EH 125], prangt in großen Lettern auf einem Transparent auf dem Lagergelände. „Wir wollen euch Körper und Seele stählen, damit ihr fähig werdet, Deutschland ein gesundes, starkes Geschlecht zu schenken!“ [EH 129], lautet die Mission der Lagerleiterin Frl. Kuczinsky, eine vormalige Lehrerin, die die Tochter eines sozialdemokratischen Stadtverordneten geohrfeigt hat und daher aus dem Dienst ausgeschieden ist, bevor sie bei den Nazis Karriere macht: „Die Roten, die Untermenschen, hatten ihr Martyrium verursacht.“ [EH 127] Im Ringen um das neue „Geschlecht“ legt Kuczinsky ein „Archiv“ an, „in welchem jede einzelne als Wert oder Unwert der Nation gebucht werden sollte […]; so könnten die kranken Keime leichter ausgemerzt werden.“ [EH 140f.] Als Lagerinsassin Gilda auf die Geheimunterlagen stößt („Jede von uns hat einen Gesundheitspass und eine Stammrolle.“ [EH 193]), beschließen die Mädchen, diese zu vernichten und offiziell Beschwerde gegen Frl. Kuczinsky einzureichen. Schlussendlich aber ist es Elisabeth, über die Meldung erfolgen wird: Sie wird beschuldigt, als Anstifterin bei der Vernichtung des Archivs fungiert zu haben, und daher „nicht mehr des Dienstes an der Nation für würdig befunden“ [EH 218].

„Sie hat dich erst als ‚wertvoll‘ gebucht. Dann aber hat sie ein Fragezeichen gemacht: Schlechter Umwelteinfluss?“ [EH 196], war laut Gilda in Elisabeths Akt zu lesen. Der ‚schlechte Umwelteinfluss‘, das sind die mitunter ungeschönt-resigniert Kritik am NS-System übenden Mädchen im Lager: „Aber jetzt haben wir es wunderbar, nicht wahr?“, kommentiert etwa eine Grete die Zustände im Landhilfe-Lager, die sich nicht von ihrem früheren Fabrikarbeitsplatz („Hitze, Hetze, Ausnutzung“ [EH 121]) unterscheiden. Besonders betroffen macht der Fall Erna, auf die Kuczinsky Elisabeth zunächst als Spitzelin angesetzt hat. Denn Erna, die damit prahlt, nicht schwanger werden zu können, ist als ein „wissenschaftliches Experiment“ [EH 149] besonders im Auge zu behalten: „Den Schwachsinnigen schlitzt man den Bauch auf und schneidet alles raus, damit sie keine Kinder bekommen“, klärt Erna auf. Und: „Alle Kinder in der Fürsorge sind schwachsinnig oder asozial.“ [EH 153] Dies steht im Kontrast zu der von Elisabeth verinnerlichten Hitler’schen Mutterschaftsdoktrin ebenso wie Erwins Lösung für Elisabeths Schwangerschaft: Er drängt sie zu einer Abtreibung „von ganz zuverlässigen, nationalsozialistischen Ärzten – alles ist gesetzlich und gar nicht gefährlich, auch gesundheitlich nicht“ [EH 96].

Bei einem letzten Treffen in Frankfurt/Oder lässt Leitner Erwin enthusiasmiert von seiner zukünftigen Offizierslaufbahn („Wie großartig wäre es, ein neuer Moltke zu werden!“ [235]) berichten und fassungslos auf Elisabeths Ausscheiden aus dem „Dienst an der Nation“ reagieren – fassungslos umso mehr, als sie nach Beendigung der Beziehung dem angehenden Offizier den Wunsch verweigert, sich weiterhin mit ihm zu treffen: heimlich, „als wäre ich eine Jüdin“ [EH 241].


Literatur- und Siglenverzeichnis

  • [IS]      Julia Killet/Helga W. Schwarz (Hgg.): Marie Leitner oder Im Sturm der Zeit. Berlin: Dietz 2013.
  • Julia Killet: Mit spitzer Feder für Frauenrechte. In: Ebd., S. 115-133.
  • [SK] Siegfried Kracauer: Luxushotel von unten gesehen. In: Ders.: Essays, Feuilletons, Rezensionen. Bd. 5.3: 1928-1931. Hg. von Inka Mülder-Bach. Berlin: Suhrkamp 2011, S. 400f.
  • [EF]    Maria Leitner: Eine Frau reist durch die Welt [1932]. Online unter: http://gutenberg.spiegel.de/buch/eine-frau-reist-durch-die-welt-7402/1 (letzter Zugriff: 13.12.2017).
  • [HA]   Maria Leitner: Hotel Amerika. Berlin-Weimar: Aufbau 1974.
  • [M]      Maria Leitner: Mädchen mit drei Namen. Reportagen aus Deutschland und ein Berliner Roman 1928-1933. Hg. u. kommentiert v. Helga u. Wilfried Schwarz. Berlin: AvivA 2013.
  • [EH]    Maria Leitner: Elisabeth, ein Hitlermädchen. Ein Roman und Reportagen (1934-1939). Hg. u. kommentiert v. Helga Schwarz u. Wilfried Schwarz. Berlin: AvivA 2014.
  • [T] Maria Leitner: Tauentzien-Girl. In: [M] S. 28-29
  • Rolf Löchel: Funkelnde Lichter und ein langer Schatten. Der Aviva Verlag legt einen Band mit Reportagen und einer Erzählung von Maria Leitner auf (13.1.2014). Online unter: http://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=18767 (Stand: 13.12.2017).
  • Thomas Neumann: Alles normal vor achtzig Jahren. Maria Leitners Roman über den Alltag im Nationalsozialismus (5.12.2014). Online unter: http://literaturkritik.de/id/20076 (letzter Zugriff: 13.12.2017).
  • Helga W. Schwarz: Als Chronistin in stürmischer Zeit. In: Julia Killet/Helga W. Schwarz (Hgg.): Marie Leitner oder Im Sturm der Zeit. Berlin: Dietz 2013, S. 9-43.
  • Eva-Maria Siegel: Jugend, Frauen, Drittes Reich. Autorinnen im Exil 1933-1945. Pfaffenweiler: Centaurus 1993.