Grete von Urbanitzky

Grete von Urbanitzky, Verfasserin des bekanntesten österreichischen Lesbenromans in der Zwischenkriegszeit Der wilde Garten (1927), ist heute in der Literaturgeschichte vor allem für ihre unrühmliche Rolle auf dem P.E.N-Kongress 1933 in Ragusa bekannt, als sie sich in der Diskussion um die Bücherverbrennungen in NS-Deutschland gemeinsam mit einer Gruppe deutschnationaler österreichischer Autoren dem Protest der Delegation von NS-Deutschland anschließt. Wenige Jahre später stehen auch ihre Romane auf der „Schwarzen Liste“ der Nationalsozialisten und sie muss Deutschland verlassen. Das folgende Porträtmodul fokussiert die Spannungsfelder zwischen Urbanitzkys problematischem politischen Engagement sowie ihren radikalen Entwürfen weiblicher Rollenbilder und Identitäten.

Von Veronika Hofeneder | Jänner 2017

Inhaltsverzeichnis

  1. Völkisch-Nationale Anfänge
  2. Wien – Ragusa – Berlin
  3. Exil in der Schweiz
  4. „Frau und doch kein Weib“
  5. Ausnahmefrauen
  6. „Liebe zwischen Frau und Frau“
  7. Eine politische Autorin?

1. Völkisch-Nationale Anfänge

Grete von Urbanitzky wird am 9.7.1891 als erste von fünf Töchtern in Linz geboren, ihre Eltern sind Angehörige deutschsprachiger Minderheiten der Donaumonarchie in Siebenbürgen und im Banat. In autobiographischen Skizzen aus der Zeit des Ersten Weltkrieges betont sie mehrmals ihre „deutsche“ Abstammung (GU 1918), aus der Existenz zweier französischer Großmütter versucht sie erst in den 1960er-Jahren „in legitimatorischer und exkulpatorischer Intention“ (ML, 185) Kapital zu schlagen. Das Verhältnis zu ihrem Vater ist sehr eng und prägt nicht nur auf literarischer Ebene die positive Ausgestaltung patriarchaler Autoritäten in ihren Romanen, sondern durch dessen Nähe zu deutschnationalen Kreisen auch ihre politische Einstellung. Mit dem Besuch des Lyzeums in Linz und eines Gymnasiums in Zürich erhält Urbanitzky eine für Frauen im beginnenden 20. Jahrhundert sehr fundierte Bildung, in Zürich beginnt sie auch ein Studium der Naturwissenschaften und der Philosophie. Dieses bricht sie allerdings nach ersten literarischen Erfolgen ab und übersiedelt 1909 nach Wien. Ihre beiden Ehen werden bereits nach kurzer Dauer (die erste auf Drängen des Vaters wegen der Schulden des Paares) wieder geschieden, mit der Schwester ihres zweiten Mannes, Mia (Maria) Passini, verbindet sie eine lebenslange Freundschaft. Passini ist eine wichtige Mitarbeiterin von Urbanitzky, umsichtig redigiert sie die Arbeiten der Freundin, darüber hinaus begleitet sie Urbanitzky auf deren Reisen und lebt bis zu ihrer eigenen Heirat im Jahr 1945 mit ihr zusammen.

1911 erscheint Urbanitzkys erste Publikation, der Sammelband Sehnsucht (GU 1911); es handelt sich um eine Auswahl ihrer Jugendwerke, die eine romantische Künstlerkonzeption verhandeln – ein Thema, das zeitlebens ihr Schaffen bestimmen wird. Zwei Jahre später folgt der theoretisch-programmatisch ausgerichtete Band Wenn die Weiber Menschen werden… Gedanken einer Einsamen (GU 1913), der in direkter Anlehnung an Otto Weiningers Geschlechterdichotomie den Frauentypen Hure und Mutter einen dritten Typ hinzufügt: Die Ausnahmefrau bzw. die Künstlerin, die jedoch auf Mutterschaft und Liebe verzichten muss. Diese Konstruktion ist ein Versuch Urbanitzkys, für sich selbst und ihre Ambitionen in ihrem sehr konservativen Weltbild einen respektablen Platz zu schaffen (CG/SSB, 137).

Während des Ersten Weltkrieges und in den ersten Nachkriegsjahren publiziert sie zahlreiche Texte in Zeitungen und Zeitschriften vorwiegend deutschnationaler Ausrichtung wie z. B. im Neuen Grazer Tagblatt, Alpenland, Die Saat, Die Deutsche Nation, Großdeutschland oder Vierburgenland, in denen sie völkisch-nationales und rassistisches Gedankengut formuliert (ML, 189-191). Ihre eigene literarische und intellektuelle Produktion definiert sie selbst als „Arbeit für deutsches Volkstum und die Rasse der Erdlinge“ (GU 1918), der das deutsche und österreichische Volks- und Wertgefüge zerstörende Erosionsprozess sei nur durch die „Naturnotwendigkeit“ (GU 1920a, 1) des Anschlusses Österreichs an Deutschland abzuwenden.

Sie tritt auch mit wirtschaftswissenschaftlichen und finanzpolitischen Artikeln in Erscheinung, im Jahr 1917 ist sie eine regelmäßige Beiträgerin der Österreichisch-Ungarischen Finanz-Presse, darüber hinaus schreibt sie Gedichte, Lied- und Operettentexte und betätigt sich als Kabarettistin (UH 1990, 24f.).

Abb. 1: Ankündigung eines Urbanitzky-Abends im
Konzerthaus. In: Neues Wiener Tagblatt, 3.12.1919, S. 6

Doch dem völkisch-nationalen Lager ist sie in dieser Zeit auch durch kulturpolitische Aktivitäten eng verbunden, so veranstaltet sie im „Deutschen Schulverein“, einem Verband zum Schutz der deutschen Sprache, Lesungen, in Arthur Trebitschs Anthologie Deutscher Geist aus Österreich schreibt Urbanitzky als „Vorpostenkämpfer“ (GU 1920a, 1) einen Aufruf An die Dichter (GU 1920b). In dieser Zeit entstehen auch ihre völkisch-nationalen Romane Das andere Blut (GU 1920c), Die Auswanderer (GU 1921) und Die goldene Peitsche (GU 1922), die vehement für deutschnationale Ideologeme, wie den rassischen Antisemitismus und ein biologistisches Geschichtsbild, eintreten (ML, 186).

2. Wien – Ragusa – Berlin

Urbanitzky gehöre zu jenen Schriftstellern, „die den kulturellen Verbindungsdienst zwischen der Reichspost und der Neuen Freien Presse besorgen.“ (KK, 69) Diese spöttische Bemerkung von Karl Kraus in der Fackel zeigt die unbestritten bedeutsame, aber zugleich in politischer Hinsicht ambivalente Rolle, die Urbanitzky im literarischen und kulturellen Leben der Ersten Republik einnahm.

Denn ihr Engagement im Wien der Zwischenkriegszeit ist vielfältig und geht über das völkisch-nationale Lager hinaus: 1923 gründet sie gemeinsam mit Raoul Auernheimer, Arthur Schnitzler, Siegfried Trebitsch und dem Verleger Ernst Peter Tal die österreichische Sektion des internationalen P.E.N-Clubs und wird dessen Generalsekretärin. In dieser Phase der relativen Liberalisierung schreibt sie ihren Roman Der wilde Garten (GU 1927), der das in den 1920er-Jahren provokative – und von Urbanitzky selbst erlebte – Thema der lesbischen Liebe in den Mittelpunkt stellt, und schließlich ihren Ruf als „unmoralische“ Schriftstellerin, die sich „schlüpfrigen“ sexuellen Themen widmet (CG/SSB, 139), begründet. Eine wirkliche Distanzierung von deutschnationalem und antisemitischen Gedankengut erfolgt aber nicht. So thematisiert der gemeinhin als philosemitisch gehandelte Roman Mirjams Sohn (GU 1926) zwar ein Sujet aus der jüdischen Geschichte, das Auftreten einer Führerfigur im Amsterdamer Ghetto im 17. Jahrhundert, bedient jedoch durch seine antimessianische Handlungsstruktur (die Ermorderung des Heilands durch die Juden) und einer stereotypen und rassistischen Figurenzeichnung wiederum antisemitische (wie auch misogyne) Ideologien (VP).

Abb. 2: Porträt Grete von Urbanitzky, Anfang der 1930er Jahre, © Bildarchiv Austria

Urbanitzkys Arbeitspensum ist bemerkenswert, neben ihrer beachtlichen belletristischen Produktivität (bis 1943 erscheinen 32 Romane von ihr, die in rascher Folge hohe Auflagen erleben) arbeitet sie als Pressechefin der Wiener Volksoper, betreibt eine eigene Literaturagentur und fungiert als Herausgeberin der Zeitschrift Roman der Millionen, die in monatlichen Abständen einen Roman in deutscher Erstübersetzung bringen sollte, nach der 4. Nummer jedoch aus wirtschaftlichen Gründen eingestellt werden muss (UH 1993, 76). Von 1925 bis 1928 ist sie als Redakteurin für die linksliberale Tageszeitung Der Tag tätig, außerdem ist sie Mitarbeiterin des aggressiv antimarxistischen Neuen Wiener Journals. Privat pflegt sie neben Kontakten zum nationalen Lager wie Arthur Trebitsch oder Robert Hohlbaum auch Freundschaften mit liberalen, jüdischen und nichtjüdischen Schriftstellern wie z. B. Richard Specht, Herwarth Walden und Felix Salten (UH 1990, 45-53).

Diese ideologische Ambivalenz manifestiert sich auch auf literarischer Ebene, denn ihre in den frühen 1930er-Jahren erschienenen Erfolgsromane Eine Frau erlebt die Welt (GU 1931) und Karin und die Welt der Männer (GU 1933) lassen sich politisch nicht eindeutig festlegen. Auch wenn beide Romane explizite Stellungnahmen für den Nationalsozialismus enthalten und häufig als entsprechende „Bekenntnisbücher“ gelesen werden (z. B. LM, 186), fehlt ihnen der zeittypische NS-Rassegedanke und auf Ebene der Handlungsführung unterläuft vor allem Karin und die Welt der Männer die faschistischen Ideologien (vgl. SSB, 5-7; CG/SSB, 140; UH 1989, 390-393).

Eine klare Parteinahme für den Nationalsozialismus erfolgt dann doch auf real-biographischer Ebene: Im Mai 1933 solidarisiert sich Urbanitzky beim internationalen P.E.N.-Kongress in Ragusa (Dubrovnik) als österreichische Delegierte mit der gleichgeschalteten deutschen Delegation und verlässt mit dieser aus Protest den Saal, als der internationale P.E.N.-Kongress die Bücherverbrennungen in Deutschland verurteilen will. In Folge der daraus resultierenden Auflösung des von ihr begründeten Wiener P.E.N.-Clubs und der medialen Kritik an ihrer Solidarisierung mit der deutschen Delegation sowie aus Furcht, in Österreich wegen ihrer Mitgliedschaft (seit 1932) und ihres offenen Engagements für die verbotene NSDAP in Österreich strafrechtlich verfolgt zu werden, emigriert Urbanitzky 1933 nach Berlin. Hier ruft sie in Zeitungsartikeln und Radiointerviews zum Boykott jüdischer und anderer liberaler österreichischer Schriftsteller auf, womit sie wesentlich zu den von der NS-Kulturpropaganda verhängten Publikationsverboten auf dem traditionell bedeutsamen deutschen Buchmarkt beiträgt (UH 1990, 190-225; UH 1993, 82f.). Obwohl ihr Roman Karin und die Welt der Männer kontinuierlich neue Auflagen erlebt, fällt Urbanitzky auch in Deutschland bald in Ungnade: 1934 wird sie gemeinsam mit Mia Passini von der Gestapo verhaftet, 1935 werden ihr Roman Mirjams Sohn und ihr Lesbenroman Der wilde Garten verboten, im Jahr darauf ergeht die Weisung der Reichsarbeitsgemeinschaft Deutscher Werkbüchereien auch Eine Frau erlebt die Welt, Durch Himmel und Hölle (GU 1932) sowie Ursula und der Kapitän (GU 1934) aus den Werkbüchereien zu entfernen. Aufgrund einer anonymen Anzeige im Jänner 1936 bei der Berliner Gestapo, die Gerüchte über die jüdische Herkunft ihrer Mutter aufgreift, übersiedelt sie mit ihrer Freundin Mia Passini nach Paris. Hier schreibt sie ihr nach Eigenaussage wichtigstes Buch, den historischen Roman Unsere Liebe Frau von Paris (GU 1938), sowie einige unpolitische Unterhaltungsromane, die im österreichischen Verlag Zsolnay erscheinen (GU 1935a, GU 1935b, GU 1937, GU 1939). Als ihr Zsolnay 1940 mitteilt, keine weiteren Bücher von ihr publizieren zu wollen, nimmt sie Verhandlungen mit dem Schweizer Morgarten Verlag auf. Bei Kriegsausbruch befindet sie sich mit Passini in der neutralen Schweiz, wo die Freundinnen eine Aufenthalts- und Arbeitsbewilligung bekommen. Sie leben in Lugano und Ascona, werden jedoch von den anderen dort lebenden Schriftstellern „geschnitten“ – Urbanitzkys Rolle in Ragusa ist noch nicht vergessen (CG/SSB, 142).

Abb. 4: Buchcover Unsere Liebe Frau von Paris (1938)
3. Exil in der Schweiz

Im Vergleich zu anderen exilierten Schriftstellern befindet sich Urbanitzky in einer privilegierten Position: Sie kann unbehelligt schreiben und publizieren und sich damit ihren Lebensunterhalt verdienen. Bereits im Jänner 1939 aus formalen Gründen (wegen ihres Wohnsitzes außerhalb des Reichsgebietes) aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen, wird 1941 anlässlich des Erscheinens ihres Romans Miliza (GU 1941), dem pazifistische Tendenzen vorgeworfen werden, ihr Gesamtwerk auf die „Schwarze Liste“ der Nationalsozialisten gesetzt.

Auf die zunehmenden Schwierigkeiten im Dritten Reich zu publizieren, reagiert Urbanitzky zunächst mit bewusst „unpolitischen“ Unterhaltungsromanen wie Es begann im September (GU 1940) und Miliza (GU 1941), die im Schweizer Scherz Verlag erscheinen. Mit den in den Romanen verhandelten Themen wie der Frankophilie, einer klaren Antikriegshaltung sowie einem deutlichen Bekenntnis zum internationalen Europäertum vollzieht Urbanitzky wieder einmal einen ideologisch opportunen Positionswechsel. Auffällig ist dabei zum einen ihre Abhängigkeit vom jeweiligen Einflussklima, dem sie ausgesetzt war (wie bei ihren Publikationen aus den 1920er-Jahren das deutschnationale Gedankengut, das ihr von ihrem Vater vermittelt worden ist, sowie die durch Weininger propagierte Misogynie), und zum anderen ihr „Schielen auf den Markt“ (CG/SSB, 142). So entdeckt sie ihre multinationale Herkunft erst nach dem Zweiten Weltkrieg, als dies politisch von Vorteil erscheint.

Eine explizite Abkehr vom Nationalsozialismus erfolgt auch erst dann, als die Publikation ihrer Werke in Deutschland endgültig unmöglich geworden ist: In Der große Traum (GU 1942) sowie Der Mann Alexander (GU 1943) distanziert sie sich von jeglicher Form totalitärer Herrschaft.

Nach 1945 blendet Urbanitzky ihr eigenes nationalsozialistisches Engagement völlig aus und stilisiert sich mit der Berufung auf das Verbot ihrer Bücher und ihrer Emigration als Verfolgte und Opfer des NS-Regimes. Sie lebt nun in der Schweiz von den Einkünften ihrer wieder gegründeten Literaturagentur. An ihre schriftstellerischen Erfolge kann sie jedoch nicht mehr anknüpfen, die Neuauflagen ihrer Romane Der Mann Alexander (1948) und Es begann im September… (1949) sind nur mäßig erfolgreich. Aufgrund des Einspruchs von Elisabeth Castonier, die auf Urbanitzkys nationalsozialistische Vergangenheit hinweist, scheitern weitere geplante Buchprojekte im Desch Verlag (UH 1990, 384f.; UH 1993, 81).

Der Auftrag von Bruno Kreisky an Urbanitzky im Jahr 1965 ein Österreich-Buch aus der Sicht einer Emigrantin zu schreiben, wirkt wie eine „Farce“, wenn man den faktischen Umgang Österreichs mit seinen Emigranten bedenkt: „Sarkastisch könnte man allerdings vermerken, daß die Parallelität der Haltungen Urbanitzkys zu denen des offiziellen Österreich sie vielleicht tatsächlich für eine derartige Repräsentanz prädestiniert hätten.“ (CG/SSB, 143) Zu einer Veröffentlichung des im Nachlass erhaltenen Buches kommt es jedoch nicht, da 1966 die ÖVP die Alleinregierung stellt und sich nicht an Versprechungen des SPÖ-Politikers Kreisky gebunden fühlt; vermutlich waren aber auch Interventionen von Friedrich Torberg und Robert Neumann ausschlaggebend.

Im Tod teilt Urbanitzky dann allerdings das Schicksal vieler EmigrantInnen, am 4.11.1974 stirbt sie, alkoholkrank und fast blind, völlig vereinsamt in Thonex in der Schweiz.

4. „Frau und doch kein Weib“
Abb. 5: Hohe Romanauflagen – Rückseite Buchcover
Unsere Liebe Frau von Paris (1938)

Die Diskreditierung von Urbanitzky aufgrund ihres offenen Engagements für das NS-Regime sowie die nationalsozialistische Diffamierung ihrer Texte als Pornographie dürfen mit als Grund für die nach 1945 nicht geglückte Wiederaufnahme ihrer schriftstellerischen Karriere angenommen werden. Gemeinsam mit dem Label der im deutschsprachigen Raum wenig prestigeträchtigen „Unterhaltungsliteratur“, das ihren Romanen über alle ideologischen Vorbehalte hinweg zusätzlich anhaftet, ist auch das Interesse der Literaturwissenschaft an ihrem Schaffen gering. Gut dokumentiert ist lediglich Urbanitzkys unrühmliche Rolle beim schicksalhaften P.E.N.-Kongress in Ragusa (KA; UH 1990, bes. 190-208), darüber hinaus interessiert man sich für sie im Kontext von Frau – Literatur – Nationalsozialismus (CW, GD, ML, MW, UH 1993) sowie im Rahmen feministisch/queer orientierter Forschungsansätze für die von Urbanitzky entworfenen Geschlechterrollen und (lesbischen) Weiblichkeitsbilder (AK, CK, HH, IK, SH, SP, UH 1989, VH, VKP, WP). Über (zumeist unpublizierte) akademische Qualifikationsarbeiten geht die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihrem Werk jedoch selten hinaus, auch die bisher einzige monographische Untersuchung über die Schriftstellerin ist eine unpublizierte – daher nur eingeschränkt zugängliche – Dissertation, die trotz ihres inzwischen über ein Vierteljahrhundert in der Vergangenheit liegenden Abfassungsjahres wegen der bisher einzigen Aufarbeitung des in der Wienbibliothek aufbewahrten Nachlasses von Urbanitzky eine nach wie vor grundlegende – vor allem bibliographische – Quelle für die Auseinandersetzung mit der Autorin darstellt (UH 1990). Darüber hinaus liegen von ihren Romanen auch keine aktuellen Neuauflagen vor.

Durchgängig präsent in Urbanitzkys Romanen ist das Thema des Geschlechterverhältnisses, wobei sich ihre Weiblichkeitsentwürfe, die stets zwischen Anpassung und Subversion pendeln, im Laufe ihres Schaffens wandeln: So evoziert sie ausgehend von Otto Weiningers Geschlechtertypologie zunächst maskuline emanzipierte Künstlerinnen, um über die Beschreibung moderner junger Mädchen in den 1920er-Jahren schließlich in den 1940er-Jahren mythische Mütterlichkeit und die Imagination einer Geschlechterversöhnung heraufzubeschwören.

Weiningers Geschlechterordnung erweitert Urbanitzky um den Typus der intellektuellen/künstlerischen Frau. Gleich der bei Weininger vorgenommenen biologistischen Zuschreibung geschlechtsspezifischer Charaktereigenschaften spricht auch Urbanitzky dem „Weib“ die Fähigkeit zu intellektuellen Leistungen ab und Frauen, die sich künstlerisch betätigen, kurzerhand die Weiblichkeit (UH 1989, 389). In ihrem Roman Das andere Blut (GU 1920c) spricht die positiv gezeichnete Schriftstellerin Erna Loreni diese Theorie unumwunden aus:

Die Künstlerin ist „Frau […] und doch kein Weib“ (GU 1920c, 274), „[u]nd es ist Gnade für die Frauen, daß jene so selten sind. Die Natur ist unerbittlich. Sie versagt dem Genie, dem sie geistiges Weiterleben schenkt, das Weiterleben in den Geschlechtern.“ (GU 1920c, 161f.)

Zusätzlich zum Kontrast Weib – Frau verhandelt Urbanitzky im Roman auch die Opposition Deutsche – Juden: Der rassebewussten, und zugleich emanzipierten Frau stellt sie die sexualisierte, „verjudete“ Schauspielerin gegenüber. Ist das „strenge Wollen“ der Künstlerin nicht in völkisches, heimatverbundenes Denken eingebunden, erscheint diese als „Priesterin eines neuen Phallusdienstes“, die „Gedichte einer seltenen Brünstigkeit“ (beides GU 1920c, 192) vorträgt. Dieser eindeutig rassistische Standpunkt wird auf Handlungsebene allerdings nicht bestätigt, denn der starke „deutsche“ Protagonist begeht aus unglücklicher Liebe Selbstmord, während der als schwach gezeichnete Mischling Bergen, Sohn einer jüdischen Griechin, die blonde Schwedin Elga, Tochter eines Rassenforschers, für sich gewinnen kann. Seine Abstammung wird Bergen in der Ehe jedoch immer mehr zum Problem; erst als Elga das gemeinsame Kind verliert und in Folge der Fehlgeburt unfruchtbar wird, kann er seine persönliche Entwicklung zum vollen Germanentum betreiben. Herrenmenschentum erscheint im Roman also nicht ausschließlich blutsbedingt, sondern kann genauso durch eigenen Beschluss und Verdienst erreicht werden (CG/SSB, 138).

5. Ausnahmefrauen

In ihrer Auseinandersetzung mit Weiningers Frauenbild postuliert Urbanitzky spezielle Rechte für „Ausnahmemenschen“ (wohl auch in Anlehnung an Nietzsches „Übermenschen“), womit sie versucht, für sich selbst in einem dichotomischen Weltbild, das sie im Prinzip anerkennt, einen Platz zu schaffen und zu finden (CG/SSB, 138). So haftet auch ihren Frauenfiguren stets das Moment des Außergewöhnlichen an, sie sind anders als die anderen und treten als Außenseiterinnen in Erscheinung (UH 1993, 78): „Immer schon war das Anderssein dagewesen. Gefühlt nur und darum noch nicht erkannt. Mara fand nie völlig in die Gemeinschaft der Anderen.“ (GU 1931, 41). So macht Mara, die Protagonistin aus Eine Frau erlebt die Welt, gefördert von einem geheimnisvollen Wohltäter, eine beinahe schon unglaublich anmutende berufliche Karriere als Astronomin und Konzertorganistin. Nach zahllosen Affären verliebt sie sich schlussendlich in einen jungen Mann, der sich als ihr eigener Sohn herausstellt und von demselben Gönner (entführt und) erzogen wurde. Als Mara die Wahrheit erkennt, flieht sie ins heimatliche Dalmatien, wo sie im Schlusskapitel zu einer  utopischen Urmutter und Religionsstifterin überhöht und stilisiert wird. Die Propagierung mythischer Mütterlichkeit ist von Maras lebensbestimmender Ausschlusserfahrung geprägt und im Zusammenhang mit den vorherigen Kapiteln, in denen sie sich für den italienischen Faschismus begeistert, höchst problematisch. Für das Chaos der Gegenwart der 1930er-Jahre seien das Fehlen „richtiger Männer“ und die Verwischung des Geschlechtergegensatzes verantwortlich:

Niemand ist so zu beklagen in unserer Zeit wie die wirkliche Frau. Der Mann ist bereit, den Frauen alle Gebiete zu räumen und damit den schlimmsten Dilettantismus einzulassen, der immer mit der Herrschaft der Frauen verbunden ist. Oberflächenkultur, Zivilisation. Und den wirklichen Frauen bleibt nur der Gigolo in einer Zeit, in der die Männer Bankiers und Ingenieure sind, die Geld und eine mechanistische Welt schaffen, in der sich Knaben verwirrt und vorlaut gebärden und damit Bewunderung erregen. (GU 1931, 449)

Als Exempel einer weiblicher Erfolgsgeschichte sind Maras außergewöhnliche Leistungen auf wissenschaftlichem und künstlerischem Gebiet in Kombination mit der vordergründig geglückten Vereinigung von Mutterschaft und Ausbildung/Beruf jedoch untauglich, denn diese wird vor allem durch die finanziellen Zuwendungen ihres – männlichen – Sponsors ermöglicht. Maras Motivation entspringt auch keinen humanistischen oder gar feministischen Idealen, sondern fußt in ihrer Verehrung und Unterordnung an eine höhere Gewalt. Durch die Benennung der Kapitel nach astrologischen Aspekten erhält dies im Kontext der in den 1930er-Jahren anthroposophischen Strömungen zusätzliche ideologische Brisanz (CB, 55f.).

Die Titelheldin in Karin und die Welt der Männer (GU 1933) braucht im Gegensatz zu Mara dagegen keinen geheimnisvollen Organisator mehr im Hintergrund, sondern schafft den gesellschaftlichen und beruflichen Aufstieg von der kleinen Stundensekretärin zur einflussreichen finanzpolitischen Beraterin alleine. Diese verläuft jedoch parallel zur Konjunktur des Nationalsozialismus, für den Karin auch explizit Partei ergreift. Der Roman ist jedoch nicht ausschließlich als Bekenntnisroman zum Nationalsozialismus zu lesen: Rassistisches Gedankengut fehlt weitgehend, Karin schwärmt sogar für China und hat chinesische Freunde. Sie ist mit dem Serben Ivo verheiratet, der nicht als slawischer Untermensch erscheint, sondern als notwendige (süd)östliche Ergänzung des westlichen Menschen und darüber hinaus den Kontakt mit Heimat, nationaler Identität und Natur repräsentiert (SSB, 7; CG/SSB, 140). Auch die faschistischen Geschlechtertypologien erscheinen geradezu verkehrt, da der Mann Ivo den Zusammenhang mit Erde und Familie repräsentiert, während die im internationalen Börsengeschäft erfolgreiche Karin in die Welt hinaus geht, um Macht und Geld zu erlangen, und damit keineswegs dem nationalsozialistischen Frauenbild der „Kameradin“ entspricht. Karins „Bekehrung“ am Ende durch die Schwangerschaft wirkt eher konstruiert und wird durch Ivos Schlussworte zusätzlich relativiert: „Aber Karin, ich kenne dich gut und weiß, du bist eine Deutsche und kannst nicht los vom Kampf, wenn du seiner auch nun müde geworden bist, weil das Leben Größeres von dir verlangt. Du wirst einmal zurück wollen.“ (GU 1933, 524f.)

Abb. 6: Porträt Grete von Urbanitzky als Garçonne 1926, © Foto Fayer, Bildarchiv Austria.

Urbanitzkys Imaginationen einer weiblichen Kulturmission stießen allerdings nicht auf breite Begeisterung, ein zweiter geplanter Band von Karin und die Welt der Männer, der die Ereignisse ab 1932 (mit der NS-Machtübernahme) schildern sollte, wurde nie geschrieben. Ferner wurde in der 1934 erschienenen „ungekürzten Volksausgabe“ von Eine Frau erlebt die Welt bedeutende inhaltliche Änderungen vorgenommen, die z.B. den Inzest zwischen Mutter und Sohn abschwächen. Das letzte utopische Kapitel, das in einer Art Zukunftsvision die Erlösung der Frau imaginiert, fehlt gänzlich, das nunmehrige Romanende (vormals das Ende des vorletzten Kapitels) suggeriert einen Selbstmord Maras. Urbanitzkys Romane über Ausnahmefrauen berichten letztendlich von Ausschlusserfahrungen, die sich auch in der Wahl der Titel widerspiegelt, die eine Opposition zwischen „Frau“ und „Welt“ generieren. Die Mythisierung der Mütterlichkeit, die ein Garant für soziale Teilhabe sein könnte, reflektiert zwar die gesellschaftliche Ausschlusserfahrung, hebt sie aber nicht auf (UH 1989, 392-394).

6. „Liebe zwischen Frau und Frau“
Abb. 7: F. L.: Frühlingserwachen in der
Mädchenschule. Mama, was ist die Liebe?
In: Neues Wiener Journal, 6.10.1928, S. 8

Stellt das Anderssein den gemeinsamen Nenner weiblicher Identitätsfindung dar, transportiert es in weiterer Folge auch homosexuellen Codewert (UH 1989, 390; UH 1990, 114-125; UH 1993, 78-80). Alexandra Pseleuditi, die im Roman Der wilde Garten (GU 1927) die Maturantin Gert(rud) Hero verführt und zur Tänzerin ausbildet, wird durch ihre künstlerische Tätigkeit als Bildhauerin ebenfalls als Außenseiterin eingeführt: „Künstlerin war die Fremde, berühmt, unabhängig, maßlos stolz und von einer wilden, seltsamen Schönheit.“ (GU 1927, 24) Der Roman ist ein Plädoyer für die Liebe zwischen Frauen, die die Autorin als reine und edle Freundschaft darstellt. Bereits 1913 verteidigt Urbanitzky weibliche Homosexualität als „natürlichen“ Ausdruck des hohen Anteils an Männlichkeit in der Frau: „Die homosexuelle Liebe ehrt gerade das Weib mehr als das heterosexuelle Verhältnis, da die Neigung zur lesbischen Liebe in einer Frau eben Ausfluß ihrer Männlichkeit, diese aber Bedingung ihres Höherstehens ist.“ (GU 1913, 228) So werden auch die lesbischen Protagonistinnen in Der wilde Garten stereotyp mit männlichem Aussehen und Verhalten ausgestattet, tragen das schwarze Haar „nach Knabenart geschnitten[]“ (GU 1927, 95), sind „knabenhaft schlank[]“ (GU 1927, 210) und rauchen „lange schmale Zigaretten“ (GU 1927, 97). Mit diesen androgynen Attributen entsprechen die Romanfiguren ziemlich genau dem in den 1920er-Jahren beliebten Typus der Garçonne, dem auch Urbanitzky mit ihrem eigenen Erscheinungsbild glich.

Die Verteidigung der Homosexualität als Ausdruck von Liebe und Zuneigung und deren positive Konnotierung (die Beziehung zwischen den beiden Frauen ist die einzige im Roman, die glücklich und hoffnungsvoll verläuft) erfolgt bei Urbanitzky allerdings durch völkisch-nationale Stereotype, wie z. B. die Großstadt als Ort allen Lasters, was hingegen „natürlich“ sei, könne nicht „unmoralisch“ und „sündhaft“ sein:

Aber Sünde war dies nicht, dachte Alexandra, indes sie mit weichen Händen über das Haar der Schlafenden glitt. […] Denn dies war nicht Großstadt und lasterhafte Neugierde ermüdeter Sinne. Unschuld und Urbeginn lebte in dieser Nacht. […] Nein, Sünde war das, was die verirrten Nerven unter Bogenlampen, Geigenschwirren, Alkohol und Parfüm gaben und nahmen – auch wenn die überklugen Medizinmänner das in der Ordnung fanden. (GU 1927, 245f.)

Von der Kritik wurde der Roman durchwegs positiv aufgenommen, RezensentInnen lesen ihn als Roman der weiblichen Pubertät, als „Frühlingserwachen in der Mädchenschule“ (FL, 8). [Abb. 7: F. L.: Frühlingserwachen in der Mädchenschule. Mama, was ist die Liebe? In: Neues Wiener Journal, 6.10.1928, S. 8, ANNO, Österreichische Nationalbibliothek, Wien.] Selbst Robert Hohlbaum, Vorkämpfer der nationalsozialistischen SchriftstellerInnen in Österreich, betont den vermeintlich zeitlosen Charakter des Romans (RH) (was diesen letztendlich jedoch auch nicht vor der Indizierung durch die Nationalsozialisten retten konnte). Das Argument der „Reinheit“, das die „geschlechtslose“ lesbische Liebe im Vergleich zur Liebe zwischen Mann und Frau auszeichne, verfehlt diesen Roman allerdings zur Gänze, da gerade die sexuellen Handlungen zwischen den Frauen explizit geschildert werden. Wie diese eindeutigen Darstellungen leidenschaftlicher Sexualität von den Zeitgenossen überlesen werden konnten (oder wollten?) bleibt verwunderlich:

Wenn die Nacht sie hieß die Arme auftun, so waren es nicht mehr die lösenden Spiele heidnischen Genießens, an die sie sich gaben. Das war das ganze Sein, Körper und Seele, was brennend zueinander drängte, Glieder, die, immer tiefere Lust suchend, sich ineinanderschlangen und den restlosen Besitz des anderen im Taumel erkämpften. Fast Schmerz wurde ihre Lust. Erfinderisch und immer überraschend waren ihre Umarmungen, die sie aneinanderzwangen wie rasende Fechter. […] Wissend wurden ihre Hände und sehend. Keine Stelle war an ihren zuckenden, sich bäumenden Körpern, deren Lust sie nicht kannten, sie nicht in sehnsüchtiger Raserei zu steigern suchten. Wie Feuermale waren ihre Küsse, suchten, trafen wie Blitze im Dunkel. Und immer wilder suchten ihre Körper einander, trunken ineinandersinkend, alle Pforten des Lebens taumelnd und todesbereit geöffnet. (GU 1927, 266f.)

Neben der detaillierten Beschreibung der Liebesakte zwischen den Frauen bedient sich Urbanitzky im Roman auch einer Symbolsprache. Evoziert die griechische Abstammung Alexandras sowie der Vollzug der Beziehung mit Gert auf einer Insel (einem traditionellen Liebesort) in Griechenland das klassische Vorbild Sappho, belegt die Autorin zusätzlich Handlungen und Kleidung ihrer Protagonistinnen mit Codewörtern und Chiffren sowie erotische Stimmungen mit einer Farbsymbolik:

Als die Sonne schon tiefer stand, und das satte Violett immer siegreicher in das Blau des Meeres, in das Braun, Gold und Grün des Waldes drang und selbst die weißen Klippen mit zärtlichen Schatten umfing, saßen sie am Südhang der Insel, wo der schwarze, rauhe Wein der Fischerleute wuchs. (GU 1927, 237)

Die Farben Violett und Grün stehen als Codefarben für lesbische (bzw. allgemein homosexuelle) Liebe, der satte Sonnenuntergang ist der Auftakt zur ersten Liebesnacht der beiden Frauen, die ihr Begehren endlich stillen, aneinander „satt“ und vollständig werden können (SH, 120f.; VKP, 129-142). [Abb. 8: Buchcover Der Wilde Garten (1927), Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur, Wien.]

So wurde Der wilde Garten, der als einer der bekanntesten österreichischen Lesbenromane gilt, bisher auch als einziger von Urbanitzkys Romanen im Zuge der Neuen (deutschen) Frauenbewegung im Jahr 1979 wiederaufgelegt. Während lesbische Liebe in diesem Roman durchgängig positiv und beinahe pathetisch überhöht als „Unschuld und Urbeginn“ (GU 1927, 245) dargestellt wird, entsprechen die wenigen lesbischen (Neben-)Figuren in anderen Romanen der Autorin wieder den typischen Klischees der Zeit: Sie verhandeln auf stereotype Weise dekadente und unmoralische Lebensentwürfe von Frauen, wie z. B. das drogen- und vergnügungssüchtige „Frauenzimmer“ (GU 1932, 335) Irene Nathusius in Himmel und Hölle oder die promiskuitive kokainabhängige Baroness Modersdorff im nachgelassenen Roman Aus dem Nest gefallen (GU 1943/1953), in dem neben Gert Hero und Alexandra Pseleuditi auch eine weitere Romanheldin, Karin Draskovic, als Gegenspielerin der mit autobiographischen Zügen ausgestatteten Antifaschistin (!) Katrin wieder auftaucht (UH 1990, 125-127; UH 1993, 87f.).

Abb. 8: Buchcover Der Wilde Garten (1927)
7. Eine politische Autorin?

Der im Nachlass erhaltene, unpubliziert gebliebene Roman Aus dem Nest gefallen (GU 1943/1953) ist vermutlich zwischen 1943 und 1953 entstanden und ist der einzige ihrer Romane, den Urbanitzky als „politisch“ (GU AR) verstanden wissen wollte: „Ich schreibe dieses Buch, wie ich es selbst erlebt habe, für die heutige Generation, um ihr den Grund der Diktatur zu erklären.“ (GU HN) Die Figur der Katrin, Kämpferin gegen Totalitarismen jeglicher politischer Ausrichtung, wird als Alter Ego der Autorin eingeführt und fungiert als Kronzeugin deren nationalsozialistischer Vergangenheit. Urbanitzky legt Katrin fast wörtlich die gleichen Argumente in den Mund, die sie selbst in einem Brief vom 8.4.1933 an den Internationalen P.E.N.-Club in London gebrauchte, in dem sie die NS-Regierung als das „letzte Bollwerk gegen den Bolschewismus“ verteidigte und die „jüdische Greuelhetze“ für falsche Nachrichten und „Lügenmeldungen“ über die Vorgänge in Deutschland verantwortlich macht (UH 1993, 81).

Auch im Roman Der Mann Alexander (GU 1943) distanziert sich Urbanitzky deutlich vom Totalitarismus. Neu in diesem Roman, der die Exilsituation eines Geschwisterpaars verhandelt, ist die Einsicht der Notwendigkeit politischen Engagements: Die Geschwister Alexander und Nadine fühlen sich schuldig wegen ihres Versäumnisses, sich nicht um Politik ihres Landes gekümmert zu haben. Die Figur des Alexander könnte möglicherweise autobiographisch gemeint sein, in Urbanitzkys Nachlass sind Briefe zwischen Mia Passini und Urbanitzky erhalten, in denen sich die beiden mit den Namen Nadine und Alexander ansprechen (UH 1993, 86). Im Rückblick wird der Verlust von Ordnung in der Zwischenkriegszeit nun nicht mehr – wie in Urbanitzkys Publikationen in den 1920er-Jahren – mit völkischen und deutschnationalen Argumenten wie Antisemitismus oder Antiurbanismus erklärt, sondern auf die „Geschlechterverwirrung“ zurückgeführt: „Als wir von der Front heimkamen – na, da gab es doch alle Spiegelungen der Garçonne, die in allen Ländern geschlechtslos oder geschlechtsverwirrt den heimkehrenden Frontsoldaten Lilith, Teufelin oder Kamerad war …“ (GU 1943, 47).

Das Thema des Geschlechterverhältnisses, das rückblickend von Urbanitzky als Erklärungsmuster für die Krisenerfahrungen der Zwischenkriegszeit bemüht wird, zieht sich also durch alle ihre Romane und kann wohl als einer der Hauptgründe für ihre problematische Positionierung für und wider den Nationalsozialismus angesehen werden. Trotz Parteinahme und Solidarität mit dem NS-Regime geriet sie alsbald in Konflikt mit dessen Kulturbehörden, die ihre Romane wegen des Vorwurfs der Pornographie auf ihre Verbotslisten setzten. Mit der Bestimmung eines weiblichen Geschlechtscharakters und den Imaginationen einer „weiblicher Kulturmission“ ist Urbanitzky jedoch trotz ihrer unentschuldbaren politischen Aktionen eine wichtige Beiträgerin zum Geschlechterrollenverständnis von Frauen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und daher als so bedeutende wie kreative Schöpferin (alternativer) geschlechtsspezifischer Identitätskonzepte und Lebensentwürfe zu entdecken.


Literaturverzeichnis

Zitierte Primärliteratur

  • GU 1911 = Sehnsucht. Leipzig: Xenien 1911.
  • GU 1913 = Wenn die Weiber Menschen werden … Gedanken einer Einsamen. Berlin: Silva 1913.
  • GU 1918 = Mein Lebenslauf. In: Von der Heide. Monatsschrift für Kultur und Leben 10, 7, 1918, S. 1-3.
  • GU 1920a = Der Verlagsbuchhandel in Deutschösterreich. In: Alpenland, Abendblatt, 12.8.1920, S. 1.
  • GU 1920b = An die Dichter. In: Deutscher Geist aus Österreich. Dichterische Bekenntnisse ausgewählt von Arthur Trebitsch. Berlin u. a.: Antaios 1920, S. 84.
  • GU 1920c = Das andere Blut. Leipzig: Wunderlich 1920.
  • GU 1921 = Die Auswanderer. Wien: Wila 1920.
  • GU 1922 = Die goldene Peitsche. Leipzig: Haessel 1922.
  • GU 1926 = Mirjams Sohn. Stuttgart: Engelhorn 1926.
  • GU 1927 = Der wilde Garten. Leipzig: Hesse & Becker 1927.
  • GU 1931 = Eine Frau erlebt die Welt. Wien: Zsolnay 1931.
  • GU 1932 = Durch Himmel und Hölle. Wien: Zsolnay 1932.
  • GU 1933 = Karin und die Welt der Männer Wien: Zsolnay 1933.
  • GU 1934 = Ursula und der Kapitän. Wien: Zsolnay 1934.
  • GU 1935a = Nina. Geschichte einer Fünfzehnjährigen. Wien: Zsolnay 1935.
  • GU 1935b = Heimkehr zur Liebe. Berlin und Wien: Zsolnay 1935.
  • GU 1937 = Begegnung in Alassio. Wien: Zsolnay 1937.
  • GU 1938 = Unsere Liebe Frau von Paris. Der Roman eines deutschen Steinmetzen. Berlin und Wien: Zsolnay 1938.
  • GU 1939 = Das Mädchen Alexa. Berlin und Wien: Zsolnay 1939.
  • GU 1940 = Es begann im September. Bern: Scherz 1940.
  • GU 1941 = Miliza. Bern: Scherz 1941.
  • GU 1942 = Der große Traum. Bern: Scherz 1942.
  • GU 1943 = Der Mann Alexander. Bern: Scherz 1943.
  • GU 1943/1953 = Aus dem Nest gefallen. Unpubl. Manuskript. In: Nachlass Grete von Urbanitzky, Wienbibliothek, Handschriftensammlung.
  • GU AR = Allgemeines über den gesellschaftskritischen Roman. Unpubl. Manuskript. In: NL GU.
  • GU HN = Handschriftliche Notiz Urbanitzkys aus einer Inhaltsangabe des zweiten Buches von Aus dem Nest gefallen. In: NL GU.

Sekundärliteratur

  • AK = Anja Kümmel: ‚Queer Temporalities‘? Zusammenhänge zwischen den Motiven ‚Arbeit‘, ‚soziales Geschlecht‘ und ‚Sexualität‘ in der fiktionalen Ausgestaltung der ‚Neuen Frau‘ auf der Folie soziokultureller Diskurse der Weimarer Zeit. Masterarbeit, Hamburg 2005.
  • CB = Caroline Bland: Through Science to Selfhood? The Early Generations of University Women in Fiction. In: Oxford German Studies, 45, 1, März 2016, S. 45-61.
  • CG/SSB = Christa Gürtler/Sigrid Schmid-Bortenschlager: Grete von Urbanitzky. In: dies.: Erfolg und Verfolgung. Österreichische Schriftstellerinnen 1918-1945. Fünfzehn Porträts und Texte. Salzburg u. a.: Residenz 2002, S. 135-144.
  • CK = Claudia Kuderna: „Anders als die anderen“ – Die Thematisierung der weiblichen Homosexualität in ausgewählten Romanen der Zwischenkriegszeit. Dipl. Wien 1994.
  • CW = Christine Wittrock: Weiblichkeitsmythen. Das Frauenbild im Faschismus und seine Vorläufer in der Frauenbewegung der 20er Jahre. Frankfurt/Main: Sendler 1983.
  • FL = F. L.: Frühlingserwachen in der Mädchenschule. Mama, was ist die Liebe? In: Neues Wiener Journal, 6.10.1928, S. 8.GD = Godele von der Decken: Emanzipation auf Abwegen. Frauenkultur und Frauenliteratur im Umkreis des Nationalsozialismus. Frankfurt /Main: Athenäum 1988.
  • HH = Hanna Hacker: Frauen* und Freund_innen. Lesarten „weiblicher Homosexualität“, Österreich, 1870–1938. Wien: Zaglossus 2015 [überarbeitete Neuauflage von 1987].
  • IK = Iris Kannenberg: Das Selbstverständnis von lesbischen Frauen zur Zeit der Weimarer Republik im Spiegel von vier Romanen: Maximiliane Ackers, Grete von Urbanitzky, Christa Winsloe, Emma Zelenka. Hochschulschrift Berlin 1989.
  • KA = Klaus Amann: P.E.N.: Politik, Emigration, Nationalsozialismus. Ein österreichischer Schriftstellerclub. Wien u. a.: Böhlau 1984.
  • KK = Karl Kraus: o.T. in: Die Fackel 640, Jänner 1924, S. 69.
  • ML = Michaela Lehner: Das Wort als Tat. Grete von Urbanitzky und Gertrud Fussenegger im Kontext völkisch-nationaler und nationalsozialistischer Literatur. In: „Kulturhauptstadt des Führers“. Kunst und Nationalsozialismus in Linz und Oberösterreich. Weitra: Bibliothek der Provinz 2008 (= Kataloge der Oberösterreichischen Landesmuseen, N. S. 78), S. 185-196.
  • MW = Maria Widmann: Widersprüche in den Weiblichkeitsbildern Grete Urbanitzkys unter dem Einfluß des Nationalsozialismus. Dipl. Salzburg 1996.
  • RH = Robert Hohlbaum: Der wilde Garten. In: Leipziger Neueste Nachrichten, 29.11.1927.
  • SH = Susanne Hochreiter: Sattes Violett. Österreichische Literatur von Frauen: lesbische Heldinnen, lesbische Identitäten. In: Wolfgang Förster u. a. (Hgg.): Der andere Blick. Lesbischwules Leben in Österreich. Eine Kulturgeschichte. Wien: MA 57 – Frauenförderung und Koordination von Frauenangelegenheiten 2001, S. 117-126.
  • SP = Sabine Puhlfürst: „Mehr als bloße Schwärmerei“. Die Darstellung von Liebesbeziehungen zwischen Mädchen/jungen Frauen im Spiegel der deutschsprachigen Frauenliteratur des 20. Jahrhunderts. Essen: Die Blaue Eule 2002.
  • SSB = Schmid-Bortenschlager, Sigrid: Thema Faschismus. Zu einigen Romanen österreichischer Autorinnen der dreißiger Jahre. In: Zeitgeschichte 9, 1981, 1, S. 1-16.
  • UH 1989 = Ursula Huber: Die Frau als „Künstlerin“. „Klugrednerei“? Fragen der weiblichen Identität und Macht in einigen Romanen Grete Urbanitzkys. In: Zeitgeschichte 16, 11/12, 1989, S. 387-395.
  • UH 1990 = Ursula Huber: „Frau und doch kein Weib“. Zu Grete Urbanitzky. Monographische Studie zur Frauenliteratur in der österreichischen Zwischenkriegszeit und im Nationalsozialismus. Diss. Wien 1990.
  • UH 1993 = Ursula Huber: Grete von Urbanitzky – ungeliebte Parteigängerin der Nationalsozialisten. In: L’Homme: Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft 4, 1, Juni 1993, S. 74-88.
  • VH = Verena Humer: Otto Weiningers Geschlecht und Charakter in Grete Urbanitzkys Werken. Dipl. Wien 2012.
  • VKP = Viktoria Katharina Pötzl: „wilde Pagen – queere Gärten“. Deviante Subjekte in der Literatur von Maria von Peteani und Grete Urbanitzky. Dipl. Wien 2009.
  • VP = Viktoria Pötzl: Antisemitische und philosemitische Geschlechterkonstruktionen im historischen Kontext am Beispiel von Grete Urbanitzky’s Mirjams Sohn (1926). Konferenzvortrag zu „Historische Romane von Frauen in der Ersten Republik Österreich“, Österreichisches Kulturforum, Warschau, November 2018. [Publikation geplant]
  • WP = Wilma Peters: Das Bild der lesbischen Frau in der Literatur der Weimarer Republik. Amsterdam: UvA, Duits Seminarium, 1988.

Abbildungsverzeichnis

  • Abb. 1: Ankündigung eines Urbanitzky-Abends im Konzerthaus. In: Neues Wiener Tagblatt, 3.12.1919, S. 6, ANNO, Österreichische Nationalbibliothek, Wien.
  • Abb. 2: Porträt Grete von Urbanitzky Anfang der 1930er-Jahre, © Bildarchiv Austria, Österreichische Nationalbibliothek, Wien.
  • Abb. 3: Die beschlagnahmte Urbanitzky. In: Das Echo, 1, 215, 5.11.1934, S. 2, Pressedokumentation Grete von Urbanitzky, Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur, Wien.
  • Abb. 4: Buchcover Unsere Liebe Frau von Paris (1938), Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur, Wien.
  • Abb. 5: Hohe Romanauflagen – Rückseite Buchcover Unsere Liebe Frau von Paris (1938), Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur, Wien.
  • Abb. 6: Porträt Grete von Urbanitzky als Garçonne 1926, © Foto Fayer, Bildarchiv Austria, Österreichische Nationalbibliothek, Wien.
  • Abb. 7: F. L.: Frühlingserwachen in der Mädchenschule. Mama, was ist die Liebe? In: Neues Wiener Journal, 6.10.1928, S. 8, ANNO, Österreichische Nationalbibliothek, Wien.
  • Abb. 8: Buchcover Der Wilde Garten (1927), Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur, Wien.