Felix Salten: Der unanständige Tanz

             Man muß nicht gerade ein Bischof sein, um sich über die modernen Tänze zu entrüsten. Shimmy und Foxtrott, Blue und Tango haben eine ganze Menge andere Feinde, die ansonsten beileibe keine Seelenhirten sind. Erst noch der emsig zappelnde Charleston und der aufreizend drollige Black Bottom wecken erbitterte Gegnerschaft. Wie viele Leute geraten schon in Wut, wenn das Orchester spielt, das diese neuen Tänze begleitet. Der stöhnende Singsang des Saxophons, das Schlagwerk, bis zu rasenden Exzessen entfesselt, die gestopften Ziehposaunen und die Hörner, deren strahlendes Leuchten zu komischem Jaulen erlischt…, „ich bitte Sie, ist das noch Musik?“ Mit empörten Augenfunkeln wird diese Frage oft gestellt. Haß und Verachtung schwebt dann um die festgeschlossenen Lippen, wenn man lächelnd antwortet: „Ja.“

             Zumeist sind es sehr ehrbare und sehr ernste Menschen, die solchen Zorn gegen die Jazzkapellen sowie gegen die neuen Tänze aufbringen. Es sind Frauen und Männer, alte und junge, und ihr Ernst wie ihre Ehrbarkeit bleiben schließlich das Einzige, was ihnen zum Vorwurf gemacht werden kann. Weil ihre Abkehr von all dem modernen Wesen gar oft den pharisäischen Unterton hat: Herrgott, ich danke dir, daß ich nicht bin wie diese! Denn auch die anderen, diejenigen, die am Saxophon, am exzessiven Schlagwerk Gefallen finden, die anderen, die Shimmy tanzen, Charleston zappeln, Black Bottom zucken, jawohl, auch diese sind durchaus ernste und zum überwiegend größten Teil ehrbare Menschen. Sie denken sich weiter nichts, wenn sie derart auf den leichten, fröhlichen Schaumwellen der sonst so schweren Gegenwart dahinschaukeln.

             Den Bischöfen, Kardinalen und ihren untergebenen Priestern, den Prälaten, Kaplänen kann man den Widerstand gegen die neue Form des Tanzes, weiß Gott, nicht verargen. Sie sind […] dem Treiben dieser Welt doch ein wenig fern, sind ihm doch ein wenig fremd, und es gehört zu ihrem Beruf, in allem, was sie nicht ganz verstehen, in allem, was Gewohnheit nicht approbiert hat, Sünde zu wittern oder Entartung. Das dauert so lange, bis sie dahinter kommen, daß sich das Maß der Sünde in der Welt so ziemlich gleich bleibt, jetzt wie vor hundert Jahren […] Sie werden sich eines Tages erinnern, wie oft die Menschen wegen ihrer Sündhaftigkeit verdonnert wurden, wie man ihnen  von einem zum anderen Säkulum Entartung prophezeit hat; sie werden feststellen müssen, daß die Menschen mit der unaufhaltsam fortschreitenden Zeit im ganzen sanfter, humaner, // sittlich verantwortungsvoller geworden sind. Und wenn die Bischöfe sich auch kaum entschließen dürften, den Jazz und Fox zu segnen, was man von ihnen gar nicht verlangt, so werden sie doch auffhören, dem Saxophon und dem Charleston zu fluchen. Was man ruhig erwarten kann.

             Anders die Leute, die den Tanz der Gegenwart beschimpfen, um von ihrer brav konservativen Gesinnung Zeugnis abzulegen, um ihre Anhänglichkeit an alles „Gute, Edle und Schöne“ zu betonen oder um ihre Anständigkeit nur recht hervorzuheben. Die sind niemals und durch nichts zu versöhnen. Ws sie brave konservative Gesinnung nennen, ist ein Erstarrtsein in einer gewesenen, nie wieder kommenden und nie wieder möglichen Gesellschaftsordnung. Was ihnen das Gute, Wahre und Schöne bedeutet, gilt dem lebendigen Heute nur noch als der altväterliche Trödel von vorgestern. Und ihre Anständigkeit…, du lieber Himmel! Wenn man die Wahl hat zwischen Menschen, die sich unbedenklich und harmlos der Gegenwart hingeben, und Menschen, die säuerlich preziös ihre ausgezeichnete Anständigkeit hervorheben, soll man keine Sekunde zaudern, sich für die Unbedenklichen zu entscheiden. Anständigkeit bleibt unter allen Umständen stillschweigende Voraussetzung. Eine Anständigkeit, die überhaupt von sich redet, wird zur Beleidigung für alle übrigen Menschen, wird abgeschmackt und außerdem verdächtig. Mit diesen Leuten lohnt es gar nicht, zu diskutieren.

             Höchstens kann man mit denjenigen sprechen, die bisher nur aus Indolenz in die Verurteilung der neuen Daseins-, Umgangs- und Tanzformen eingestimmt haben. Mit denjenigen, deren Augen das Heute noch nicht sehen gelernt haben, deren Ohren die Gegenwart noch nicht zu belauschen vermochten, deren musikalischer Sinn sich dem modernen Rhythmus noch nicht anpassen konnte. Aber wie oft soll man ihnen denn sagen, daß neue Tänze allemal mehr mit sozialen und kulturellen Umwälzungen zusammenhängen, als mit gesteigerter Unsittlichkeit oder gar mit um sich greifendem Laster. Als man Sarabanden tanzte, Gavotten schritt und Menuette, waren die Menschen gewissenloser, verbuhlter und demoralisierter denn je vorher oder nachher. Im Ballsaal berührten die Paare einander freilich nur an den Fingerspitzen. Kein Herr hätte auch nur daran gedacht, daß es möglich sei, die Dame, die er zum Tanz führte, um die Mitte zu nehmen, sie im Arm zu halten. Aber alle Welt wußte, damals wie heute, aus Memoiren, aus Geschichtswerken, aus den reizenden Gemälden des Watteau, aus zahllosen Kupfern, die man jetzt pornographisch nennt, wie arg, wie orgiastisch, wie ungeniert es in den Alkoven, in den Boudoirs und in den famosen Gartenhäuschen zuging. Die königlichen Höfe, die damals mit den Feudalaristokraten herrschten und den Ton angaben, verhüllten ihre Ausschweifungen mit dem umständlichen Zeremoniell zimperlicher Manieren. Gewiß, der Tanz wird immer von erotischen Trieben bewegt, doch es bleibt immer ganz falsch, den Tanz als das Maß der Erotik, als das Kennzeichen für die Sitten oder die Sittenlosigkeit einer Epoche zu nehmen.

             Wie oft soll man die Leute daran erinnern, daß alle harten, alle herben Worte, die heute dem Foxtrott und dem Charleston gelten, schon einmal gesagt wurden, ebenso hart und ebenso herb. Vor mehr als hundert Jahren. Ueber den Walzer, der jetzt als der sittsamste aller Tänze gepriesen wird. Einst kam der Walzer gleichsam als Umsturzerscheinung, wie die modernen tänze jetzt als Folgen des Umsturzes kommen. Er kam nach der französischen Revolution, in der die Zierlichkeit des höfisch-adeligen Menuetts von der rasend triumphierenden Carmagnole zerrissen wurde. Er kam aus dem Bürgertum, das, auch unter dem politischen Druck nach Waterloo, geistig erwacht und befreit war. Im Walzer pochte der Rhythmus jener Zeit, schwang die herzhafte Aufrichtigkeit der einfachen, gesunden, tüchtigen Bürgerseele. Dennoch wurde der Walzer gerade so beschimpft wie heute Shimmy und Black Bottom beschimpft werden. Daß der Herr seine Dame um den Leib faßt, an sein Herz drückt, daß die Dame ihren Arm um die Schulter des Herrn legt, hat man damals genau so verspottet wie heute das zappelnde Gestammel des Charlestons. Sogar der böse Scherz, den man jetzt über die modernen Tänze macht, wurde damals vom Walzer im Umlauf gesetzt: So was tut man doch nur im Bett. Wie sich damals die konservativen Leute an das versunkene achtzehnte Jahrhundert klammerten, wollen die konservativen Leute jetzt vom versunkenen neunzehnten Jahrhundert nicht lassen. Lest die Witzblätter jener fernen Zeit, lest die Tagebücher, die Briefe der alten Damen und der alten Herren von 1810 oder 1820, der Leute, die in ihrer Jugend so zügellose waren , um später so tugendhaft zu werden, und ihr werdet, überrascht, zugeben, daß alles schon dagewesen ist. Damals begann, trotz Empörung der Alten wie der niemals Jungen, ein neues Jahrhundert, begann die Zukunft zu tanzen. Auch heute fängt ein neues Jahrhundert, fängt die Zukunft ihren Tanz an. Und ich fürchte, kein Sittenprediger, nicht einmal die Bischöfe werden imstande sein, da Einhalt zu gebieten.

             Ich kann mir nicht helfen, aber gerade die frech gewordene Erotik, von der immer so viel Geschrei hergemacht wird: gerade diese schamvergessene Sinnlichkeit finde ich in den modernen Tänzen nur sehr, sehr wenig. Sie sind oft genug, ich sagte das hier schon vor Jahren, ein Kopfrechnen mit den Füßen. Sie sind, besonders durch den Charleston, ein Fortsetzen des Sports im Ballsaale. Leichteste Leichtathletik. Körper//training, um die Linie zu erhalten. Gelenkigkeitsübung, bei der man, wie oft, kühl bis ans Herz hinan bleibt. Ich kenne von frühester Jugend an den Walzer und ich kenne den Shimmy, den Foxtrott, den Blue wie den Tango, und ich muß feststellen, daß keiner dieser vielgeschmähten Tänze auch nur annähernd die sinnliche Wirkung, den erotischen Zauber übt, wie der Walzer. […] Daß die älteren Damen und die alten Herren jetzt wieder so flott tanzen, müßte doch allen Sittlichkeitsaposteln, ob sie nun die Mitra tragen oder nicht, ein Licht aufstecken über die verhältnismäßige Harmlosigkeit der heutigen Tanzformen. Man wird schwerlich im Ernst behaupten wollen, daß alle alten Herren, die sich zum Jazz bewegen, nur der Begierde folgen, wieder im Arm eines jungen Menschen sich zu wiegen. Nein! […] Man stelle immerhin ein wenig Erotik mit in Rechnung, sie fehlt ja niemals gänzlich. Doch sie bleibt unter solchen Umständen so sehr im Hintergrund, ihr Einfluß ist so gering, daß all der Aufwand von Entrüstung dagegen gehalten, fast komisch erscheinen will.  

             Diese mondainen Tänze sind die Folge des Umsturzes. Aber nicht des Umsturzes europäisch-monarchistischer Gesellschaftsordnung. Bei diesem Umsturz geht es keineswegs um Kommunismus oder Fascismus. Keineswegs um solche Dinge, die mehr oder weniger europäische Lokalfarbe tragen. Sondern es ist ein Umsturz, der erst beginnt. Es ist die Erhebung der farbigen Rassen, der friedliche Negeraufstand, das Eindringen farbiger, uralter Kulturen in die weiße Kultur. Dieser Umsturz wird das Antlitz der Welt vom Grund aus verändern, wird dem Hochmut der weißen Rasse ein Ende bereiten und die Horizonte der Menschheit wunderbar erweitern. Natürlich gibt Amerika, besser die U.S.A., das Land, darin sich alle Völker, alle Nationen Europas zu einem neuen Volk vermischen, den Boden für diesen Umsturz ab. Alle diese Tänze, die also Vorzeichen für den Umsturz mehr als Begleiterscheinungen sind, alle diese Tänze kommen aus den Vereinigten Staaten und stammen aus Afrika. Alle diese Namen, Titel und Texte sind englisch und alle rühren von Niggern her. Man mag das, nach einer veralteten Denkweise, als Erniedrigung empfinden. Aber wer die aufschlußreichen Bücher von Frobenius gelesen hat, denkt anders. Frobenius ist einer der ganz wenigen Menschen, die schon vor zwanzig, dreißig Jahren den Kulturwert, den geistigen Besitzstand und die ungeheure Suggestivkraft der Neger erkannten.

             Anders denkt auch, wer wirkliche Jazzbands ohne Voreingenommenheit angehört hat. Ueber Musik fachgemäß hier zu sprechen, bin ich weder befugt noch gesonnen. Mag sein, daß die Klänge eines Whitman-Orchesters auch gar nicht Musik im hergebrachten Sinn sein wollen. Aber Stimmen der Zukunft sprechen da, eindringlich bis zum Erschütternden. Jedenfalls habe ich es oft erlebt, daß Berufsmusiker von Rang, etwa wie Busch in Dresden, sich dem Zauber eines Jazzorchesters begeistert hingeben, daß sic dem an Menschenstimme eigentümlich erinnernden Gesang des Saxophons gerade so entzückt lauschen wie ich und daß sie gleich mir elektrisiert werden vom harten, unglaublich polyphonen Schlag und Rhythmus der Trommeln. Wie mich diese Trommeln an das eintönige, nervenaufpeitschende Dröhnen afrikanischer Negertrommeln erinnern und wie mich die Durchdringung der Urwaldmusik mit geistigen Elementen der weißen Rasse… tröstet, scheint mit eine weite, eine große Welt als künftige Menschenheimat zu erstehen. Das Eindringen des amerikanisch-negroiden Wesens läßt sich an „Schlagern“ spüren, wie an dem vielgespielten „Ich hab‘ mein Herz in Heidelberg verloren“, wo das deutsche Lied vom Genre des Schmachtfetzens im exotischen Putz marschiert, wie an „Valencia“, das eine entfernte Verwandtschaft mit Bizet besitzt und vom feurigen Rhythmus der Gegenwart durchzuckt ist.

             Dieser Gegenwartsrhythmus hat etwas Unüberwindliches. Er wird sich von Sittenpredigten nicht aus der Welt schaffen lassen. So wenig wie die modernen Tänze, die eine Resultante aus Hygiene, Sport, Befreiung und Erotik sind, vor Entrüstungskundgebungen verschwinden. Die Leute, die im vergangenen Jahrhundert anfingen, Walzer zu tanzen, standen ethisch viel höher als die Gesellschaft, die zierlich Menuette schritt. Und die Leute, die jetzt Foxtrott tanzen, sind schon wieder um vieles weiter als die einstigen Walzertänzer. Die Menschheit wird immer besser und besser. Man muß nur an sie glauben, muß sie nur ein wenig lieben und sich Mühe geben, sie zu verstehen. Sie zu beschimpfen, ist freilich leichter. Und es ist so überaus bequem.

In: Neue Freie Presse, 30.1.1927, S. 1-3.

Rudolf J. Kreutz: Nochmals – die Dame

             Emil Lucka, der verehrte Dichter-Philosoph, hat kürzlich an dieser Stelle den Begriff „Dame“ historisch belichtet, kritisch untersucht, und ist nach mancherlei geistvollen Schlüssen zu dem Ergebnis gelangt, daß unsere Zeit dem Typus jenes „zimperlichen Halbwesens, dessen Daseinsinhalt Schönrednerei, Faxen, Toiletten und Tee bedeutet“ feindselig gegenüberstehe. Das weibliche Ideal unserer Epoche sei die Kameradin. Sie lehne schroff die Dame ab, deren Wesensmerkmale Reserviertheit, Umständlichkeit und Äußerlichkeit seien. Denn sie setze an ihre Stelle Mut, Tatkraft, Zuverlässigkeit bis zum Selbstopfer.

             Es sei gestattet, das Vorstellungsbild „Dame“ aus einem anderen Blickpunkte zu betrachten, von dorther nämlich, wo Definitionen zwar versagen, aber ein gefühlsmäßiges Etwas, mit Worten kaum erfaßbar, für die die Dame zeugt, für ihre seltene, aber um so beglückendere Erscheinung wirbt. Hierzu ist die Vertrautheit mit dem englischen „ladylike“ unerläßlich, einer sprachlichen Formel, die sich restlos ebensowenig verdeutschen läßt, wie etwa „gentleman“, der mit Ehren- und Edelmann nur höchst obenhin übersetzt ist.

             Ladylike – Was bedeutet das? Welche Eigenschaften umschließt das Wort? Eine Unzahl, die überall, wo Frauen nach wirklicher Kultiviertheit streben, nach seelischer und körperlicher Verfeinerung lechzen, stets – gleichgültig, welche „neue Sachlichkeit“ immer das Verhältnis der Geschlechter umformen mag – heiß erstrebt, wenn auch nicht gerade oft vollkommen erworben werden.

             Ladylike: Wollte man damit bloß damenhaftes Benehmen, damenhaftes Auftreten von Fall zu Fall bezeichnen, es wäre reichlich wenig erraten. Was der Engländer meint, beinhaltet eine weit größere Forderung: Stets damenhaftes Sein. Die Selbstverständlichkeit des Tadellosen in seelischer und körperlicher Haltung, die unaufdringliche Harmonie, die Takt heißt, die Unfähigkeit zu brutaler Gebärde, zum schrillen Wort, zu formlosen Außersichgeraten. Die Beherrschtheit in Anmut, die Sparsamkeit der Geste, so es in Freude oder in Leid. Und vor allem: Das völlige Fehlen jedes Konventionellen, Gezierten, Gewollten. Die Frau, in deren Nähe wir sogleich, magisch verzaubert, die Dame erkennen, wirkt immer natürlich. Wir fühlen die Verkehrsformen, die sie zeigt, als mit ihr organisch verwachsen, als naturhaft, wir ahnen, daß der Charme, den sie hat, nicht eingedrillt, sondern eingeboren ist. Und – als Entscheidendes – wir sind gezwungen, die Distanz zu wahren, die sie bestimmt. Womit, weiß Gott, nicht behauptet werden soll, daß die Dame unentwegt Sklavin dieser Distanziertheit sei. Ihr Weibtum folgt keinen „feineren“ Entwicklungslinien als das anderer Frauen, ist ebenso triebbedingt. Aber selbst im Taumel der Sinne, im Ueberschwang der Hingabe, wird ein Wunderbares sie davor schützen, sich dirnenhaft zu übersteigern. Warum sollte sie sich nicht auch zur guten Kameradin eignen? Der Begriff Dame schließt Kameradschaft ebensowenig aus, wie er sie voraussetzt. Er ist weder Hemmung noch Antrieb zu funktionellen Eigenschaften, weil er lediglich ethisch und ästhetisch Gipfelpunkte weiblicher Vollendung umfaßt.

In: Neue Freie Presse, 10.10.1928, S. 1.

David Josef Bach: Die Kunststelle der Arbeiterschaft

Als im November 1919 mit Beschluß des Parteivorstandes eine eigene Kunststelle der Bildungszentrale errichtet wurde, dachte man zunächst nur an eine bequemere organisatorische Zusammenfassung der vorhandenen Bestrebungen; ein Ausbau schien möglich und wünschenswert, aber seine Dimensionen waren nicht weniger als klar. Vorhanden war nicht allzuviel. Vor allem die Arbeiter – Symphoniekonzerte, die in Wien im Gegensatz zu allen anderen Städten Deutschlands am Beginn der proletarischen Kunstpflege stehen und daher auch der ersten Wiener Volksbühne um einige Jahre voraus sind. Die Arbeiter – Symphoniekonzerte in ihrem äußerlich bescheidenen Umfang hatten zähe auch die Schwierigkeiten der Kriegszeit überstanden. Die Volksbühne jedoch, schon vor dem Kriege fast vollständig zugrunde gerichtet, schleppte nach dem Verlust des eigenen Theaters kümmerlich ein paar hundert Mitglieder weiter. Sie kamen so wenig in Betracht, daß, als nach dem Umsturz zum erstenmal Vorstellungen in den ehemaligen Hoftheatern, nunmehr Staatstheatern, stattfanden, diese Vorstellungen unter dem Namen der Arbeiter – Symphoniekonzerte gehen mußten, weil diese die einzige Organisation waren, die tatsächlich ganz Wien umfaßte. Mit der Gründung der Kunststelle war ein neues Organ geschaffen, daß auch für das Theater überhaupt für das gesamte Gebiet der Kunst dasselbe leisten sollte wie vordem die Arbeiter – Symphoniekonzerte allein. Da gab es nun die erste große Schwierigkeit. So groß nämlich das Bedürfnis der Arbeiterschaft nach guten Vorstellungen war, fast ebenso groß war nach den üblen Erfahrungen, die sie mit der ersten Volksbühne gemacht hatte, das Mißtrauen gegen den Zwang und die materielle Belastung einer neuen Volksbühne. Es mußte daher ein anderer Weg gewählt werden, der den Verhältnissen Rechnung trug, ohne das Ziel aufzugeben. Die Kunststelle ist zum Unterschied von allen ähnlichen Volksbühnenorganisationen nicht auf die einzelnen Mitglieder, sondern auf die politischen  und gewerkschaftlichen Organisationen aufgebaut. Die Kunststelle gibt die Karten nicht an den einzelnen Teilnehmer, sondern in vereinbartem Ausmaß an jede teilnehmende Organisation ab, die erst wieder den Betrieb an ihre Mitglieder übernimmt. Dadurch ist für beide Teile das Gefahrenrisiko ausgeschlossen, natürlich nur so lange, als die Kunststelle wirklich das Vertrauen der Arbeiterschaft genießt, weil davon die Höhe der Kartenbestellung durch die Organisation abhängt. Die Ausdehnung, die die Kunststelle nun tatsächlich gewonnen hat, weißt natürlich in erster Linie der Massen, dann aber wohl auch das Vertrauen der Massen zu dieser Kunstorganisation.

           Noch im Jahre 1919 stiegen wir auf durchschnittlich zwanzig Vorstellungen im Monat, im vergangenen Jahre bereits auf 39 und in den letzten zehn Monaten wurden nahezu eine halbe Million Eintrittskarten verbraucht. Noch in einer anderen Hinsicht muß die Kunststelle beweglicher sein, als es sonst Volksbühnenorganisationen zu sein pflegen. Wir haben Vorstellungen in den Theatern aller Grade und aller Arten. Diese große Bereicherung des Spielplanes, die durch ein einziges Theater allein, und wäre es das größte, niemals erzielt werden kann, bringt organisatorisch den Nachteil einer größeren Schwierigkeit bei der Kartenverteilung mit sich; ein mechanisches Gleichmaß ist vollkommen ausgeschlossen. Dazu kommt, dass die Preise der einzelnen Vorstellungen je nach dem Theater verschieden sind, ja auch die Preise der Vorstellungen in demselben Theater; jedesmal ist der Fassungsraum ein verschiedener, auch in demselben Theater wechselt die Zahl der verfügbaren Sitze, und da durchschnittlich alle zwei Monate eine Verteuerung eintritt, maß immer eine neue Umrechnung vorgenommen werden. Um nur ein Beispiel zu geben: Von 5000 Kronen, die eine Vorstellung im Burgtheater noch 1920 kostete, sind wir jetzt auf das nahezu Zwanzigfache gestiegen. Es darf dabei jedoch nicht übersehen werden, daß die Staatstheaterverwaltung selber bei diesen Arbeitervorstellungen finanzielle Opfer bringen muß. Damit allein wäre es nicht getan, denn die Einnahmen, welche die Kunststelle aus dem Kartenvertrieb erzielt, bleiben in den allermeisten Fällen hinter den Selbstkosten zurück. Dies ist der Punkt, an dem die Hilfe der Gemeinde Wien (gesperrt gedr. Im Orig.) in großzügiger Weise eingesetzt hat .

           Mußten wir noch das Jahr 1919 hindurch die Arbeiter-Symphoniekonzerte zum Beispiel ohne jede Subvention durchbringen, so wäre dies heute bei den Saal- und Orchesterpreisen schlechterdings unmöglich; es ist ausgeschlossen, die Preise so zu erhöhen, daß sich die Veranstaltung selber decke, will man nicht die Arbeiter aus den für sie bestimmten Veranstaltungen vertreiben. Die Gemeinde Wien widmet seit 1919  6 Prozent des Ertrages der Lustbarkeitssteuer der Unterstützung künstlerischer Veranstaltungen „für Arbeiter, Angestellte und Schüler“. Diese Unterstützung allein ermöglicht es, Arbeitervorstellungen und Arbeiter-Symphoniekonzerte aufrecht zu erhalten. Allerdings, die Grenze nach oben ist bereits erreicht und ob sie nicht überschritten wird, wenn eine neue, heute schon unausweichliche Verteuerung eintritt, werden schon die nächsten Wochen lehren. Von dem Kampf, den die Bühnenangestellten um ihre Existenzmöglichkeit führen müssen, werden auch die Arbeitervorstellungen berührt. Es hat schon im vergangenen Jahre nicht an Versuchen gefehlt, die Arbeitervorstellungen gegen die geistigen und manuellen Arbeiter des Bühnenbetriebes auszuspielen, selbstverständlich ohne Erfolg. Auf der anderen Seite ist es ebenso unmöglich, auf dem Umweg über die Subvention unsere Veranstaltungen zu einer größeren Beitragsleistung für die Theaterunternehmungen heranzuziehen. Theaterdirektoren schenken uns nichts; sie sind schließlich auch nicht dazu berufen. Eine nüchterne Betrachtung der Tatsachen lehrt, daß die Arbeitervorstellungen ein sehr großer wirtschaftlicher Faktor für die Wiener Theaterbetriebe geworden sind, ja daß einzelne Betriebe ohne diese Vorstellungen gar nicht aufrecht erhalten werden könnten.

          Aber noch mehr. Mit der Organisierung der Arbeitermassen als Theaterkonsumenten ist die Aufgabe einer proletarischen Kunststelle keineswegs erfüllt. Wenn wir die ursprünglich guten Instinkte eines neuen Theaterpublikums entwickeln, wenn wir es ohne Zwang, nur durch das Beispiel, durch Selbsterziehung, dahin bringen, nur Gutes und Wertvolles zu verlangen, so veredeln wir damit auch das Theater. Heute stehen die Dinge so, dass selbst die größten und reichsten Bühnen wirklich wertvolle Stücke nicht aufführen können, ohne sich vorher der Hilfe der Kunststelle zu versichern. Niemals wäre das deutsche Volkstheater an eine Neuinszenierung des „Don Karlos“ geschritten, niemals an die Aufführung von „Dantons Tod“, niemals wäre „Gas“ aufgeführt worden, wenn nicht die Kunststelle von vornherein eine Anzahl Aufführungen erworben hätte. Die Beispiele lassen sich leicht vermehren, auch für andere Bühnen. Es gereicht den Direktionen zur Ehre, daß sie diese Hilfe benützen, um auch ihr künstlerisches Programm durchführen zu können. Diese Hilfe zu gewähren ist nicht immer ganz leicht. Denn die Kunststelle kann den Bühnen weder den Dramaturgen noch den verantwortlichen Oberregisseur ersetzen, sie kann aber auch nicht zugeben, daß die literarischen Versuche der Wiener Theater ausschließlich auf Kosten der Arbeiterschaft unternommen werden. Daß es kein Literaturcafé gibt, welches jetzt nicht sogenannte, „revolutionäre“ Stücke liefern würde, oder Dramen, die an die „Zukunft“ appellieren, versteht sich. Doch die Arbeiterschaft braucht nicht ein „Theater der Intellektuellen“, das heißt in Wahrheit ein Theater des papierenen, totgeborenen Geistes, sondern sie braucht das Theater des Volkes, des Volksganzen, zu dem alle lebendige und lebensfähige Kunst gehört.

Bezeichnend genug können in Wien auch Volksstücke und wirklich lustige Possen nicht aufgeführt werden, wenn nicht die Arbeitermassen dafür eintreten. Wir haben A n z e n –

g r u b e r vor dem Verschwinden aus den Spielplänen gerettet, wir werden ähnliches bald für

N e s t r o y leisten müssen. Während das Amüsierbedürfnis der Zahlungsfähigen dem „Schwan“ von Molnar nachläuft, hat die Arbeiterschaft allein sechzehn Aufführungen seiner besten Dichtung „Liliom“ ermöglicht. Ein redlicher Künstler wie Rudolf H a w e l hätte es mit seinem Volksstück „Der reiche Aehnl“ nicht über zwei Aufführungen gebracht, wenn nicht die Kunststelle eingegriffen hätte; jedes Mal hat jubelnder Beifall dem Volksdichter gedankt. Und wie war es den mit Raimund? Als Karl E t l i n g e r, den jetzt Berlin als Schauspieler und Regisseur festhält, die „gefesselte Fantasie“ bearbeitet und neu einstudiert hatte, fand sich hierfür überhaupt kein Theaterdirektor: erst als sich die Kunststelle von vornherein verpflichtete, wagte es ein Theater. In Berlin hat jetzt das Staatstheater die „gefesselte Fantasie“ in der selben Bearbeitung, mit dem selben Etlinger als eine Art Sensation herausgebracht, bei uns in Wien hatten wir die Sensation von achtzehn Aufführungen ausschließlich vor Arbeiterpublikum. Noch ein besonders bezeichnendes Beispiels verdient Erwähnung: die „Troerinnen“ des Euripides, eine der besten Aufführungen des Burgtheaters, waren schon abgesetzt, da wagte es die Kunststelle mit vier Aufführungen, und der tiefe Eindruck, den die Dichtung auf proletarische Hörer machte, gab ihr Recht. Natürlich war es ein Wagnis und wir müssen oft genug wagen. Richtung und Haltung gibt die Ueberzeugung, daß a l l e Kunst, insofern sie überhaupt Kunst ist, revolutionär ist und revolutionär wirkt. In Deutschland, wo es Volksbühnen der verschiedensten politischen und religiösen Parteien gibt, wird lebhaft die Frage erörtert, ob und in wieweit Kunstwerke herangezogen werden dürfen, die nicht unmittelbar dem begrenzten Fühlen und Wollen eines bestimmten Kreises entsprechen. Aber ist nicht diese Fragestellung an sich irreführend, falsch? Grundsätzlich müssen wir daran festhalten, jede Kunst, die ihren Namen verdient, dem Volk zu erschließen. Die taktischen Probleme, die sich bei der Durchführung ergeben, sind nicht Fragen der p o l i t i s c h e n Opportunität, oder nur in einem sehr geringen Grade, sondern der künstlerischen und kunsterzieherischen. Auch hier sind Wagnisse, ja Irrtümer und Fehler unvermeidlich, doch vor lauter Schwierigkeiten und der Furcht davor darf uns nicht der Weg verloren gehen, den die Arbeiterklasse, der Erbe der Zukunft, zuschreiten bestimmt ist.

           Die Frage  der Durchführung hat die Kunststelle auch einen Versuch unternehmen lassen, der für die Volksbühnen, zumindest die proletarischen, etwas Neues darstellt. Das im Wesentlichen schon längst bekannte Prinzip der Wanderbühnen nämlich ist hier eigenartig ausgestaltet worden. Wenn man die Arbeiter aus diesem oder jenem Grund nicht zur Kunst bringen kann, so muß man die Kunst zur Arbeiterschaft bringen. Dies gilt nicht bloß für die Provinz, sondern auch für Wien selbst, wo in den Randbezirken Zehntausende von Proletariern wohnen, die Scheu, auch Bequemlichkeit, von dem Besuch der großen zentralen Bildungs- und Kunststätten abschreckt. Aber wie wir mit politischen und gewerkschaftlichen Vorträgen überallhin dringen müssen, so auch mit der Kunst. Also spielt die Kunststelle in Floridsdorf, in Leopoldau, in Simmering, in Breitensee u.s.w. überall, wo es nur ein halbwegs brauchbares Podium gibt. Wir haben in B e t r i e b s k ü c h e n Wiener Abende veranstaltet, die hellen Jubel weckten und sofort wiederholt werden mußten. Aber wir spielen auch  T h e a t e r, und zwar mit unserer eigenen V e r s u c h s b ü h n e, die von der offiziellen Wanderbühne des Unterrichtsamtes und ähnlichen Veranstaltungen wohl zu unterscheiden ist. Denn wir können uns bei der „Neutralität“ der Kunst nicht gänzlich bescheiden. Es gibt künstlerisch durchaus wertvolle und jedenfalls künstlerisch zu rechtfertigende Stücke, ernste und heitere, ja auch Lieder, Couplets, Soloszenen und dergleichen, die ihre revolutionäre sozialistische Gesinnung ganz unbekümmert ausdrücklich aussprechen. Sie könnten niemals aufgeführt werden, böte die Versuchsbühne nicht Möglichkeit dazu. Sie ist eine richtige s o z i a l i s t i s c h e Bühne, die jungen, unbekannten Autoren, jungen noch unerprobten Schauspielern und einem noch jungen, weil noch unverkünstelten Publikum dient. Sie erfüllt damit eine der Aufgaben, die uns auf dem Gebiet der Kunst und der Kunsterziehung gestellt sind, und gerade sie macht besonders klar, daß auch dieses Gebiet nicht für sich allein existiert, sondern das alles miteinander in einen Zusammenhang gehört, in dem Befreiungskampf des Proletariats überhaupt.

In: Arbeiter-Zeitung, 30. Oktober 1921, S. 7.

Victor Wittner: Unterhaltungen mit Zeitgenossen. III. Bei Max Reinhardt

             Viele mögen ihre Wohnungen haben; wenige residieren.

             Zu diesen gehört Max Reinhardt. Seine Residenzen sind: Berlin, Wien, Salzburg. Diese Residenzstadt teilt er mit einem Erzbischof, und in Berlin dürfte er sich den demokratischen Lebensformen der Reichshauptstadt anpassen; in Wien aber könnte er Alleinherrscher sein – wenn er nur wollte: denn keine andere Stadt, kein anderes Publikum huldigt ihm so respektvoll, so bedingungslos, so … herzlich. Reinhardt, der seltene Resident, weiß es, und er unterschätzt auch nicht seine persönliche Affinität zu dieser Stadt, die, still zwar und verträumt, „große Vorteile dem Künstler bietet“, und in der er seine ersten Schritte in die Welt, die von den Brettern bedeutet werden, hoffnungsvoll gemacht hat; und in der, wie in keiner anderen, die Vergangenheit einer reichen und glanzvollen Geschichte und die Gegenwart und Ewigkeit einer herrlichen Landschaft einander anschauen. Wer wollte nicht hier zuhause sein?

             Max Reinhardts Zukunft ist, vom Theater in der Josefstadt abgesehen, die alte Hofburg. Ueber einen Wendelaufgang, den man (reichsdeutsch) die Konditorentreppe nennen könnte, wenn er nicht (österreichisch) die Zuckerbäckerstiege hieße, gelangt man in seine Wohnung. Durch Vorsäle, in denen Diener schweigen und eine eichhornschweifige Samtkatze um den Wartediwan heimelt, durch große, weiße, golden passepoilierte Doppeltüren mit hochsitzenden, zarten Klinken – was der Katze ihre Rasse, ist der Tür ihr Stil – in Reinhardts Arbeitszimmer. Teppichfrei glänzt das Parkett, Licht flutet aus dem venezianischen Luster, aus dem dicken Kaminfeuer, wird vom goldenen Spiegel verdoppelt, und tröpfelt auch, tritt man hinzu, vom abendlichen Heldenplatz her rötlich durch die Scheiben, die auf ihn blicken. An den Wänden leuchten die ernsten Farben lothringischer Fürsten. Rechts der Schreibtisch. An der Wandmitte runder Tisch und Fauteuils. Ein Zimmer, vornehm und einfach. Das ist die Szene.

             Ein Mann tritt auf, mittelgroß, ruhig wiegender, gelassener Gang, Anmut in den Schultern, blau blitzende Augen, volles, dunkles Haar (keines fehlt), an den Schläfen leise ergrauend, das strenge Viereck der Stirn mit dem Parallelogramm der Falten regelmäßig rahmend, nach unten schneidende Mundwinkel, blitzend weiße Zähne, Musikantengrübchen im Kinn – jünger als die überfünfzig Jahre, die er zählt. Wer ist’s? – Der Direktor des Deutschen Theaters, der Kammerspiele, der Komödie, des Berliner Theaters in Berlin, des Josefstädter Theaters in Wien, Herr auf Leopoldskron, preußischer Professor und Professor an der Hochschule für darstellende Kunst in Wien – Professor an sich. Mit „Professor“ wird der berühmte Regisseur angesprochen, die Zeit und die Verehrung seiner vielen Schüler hat diesem Titel den adelnden Artikel „der“ verliehen und den Träger zum Begriff erhoben. Der Professor also, obschon ein Anhänger des bekannten Imperativs „Bilde Künstler, rede nicht“ – wie oft bannt er wortlos seine Schauspieler, ihr Innerlichstes herzugeben –, nimmt den Faden der Unterhaltung auf und läßt ihn bis zum Ende dieses lehrreichen Gesprächs nicht abreißen.

             Von seinem Schauplatz geht es aus, Wien, das Max Reinhardt „das letzte Bollwerk für Repertoire und Ensemble“ nennt. Er weist daraufhin, daß weder London noch auch Paris (mit Ausnahme der Comédie) Ensembletheater besitzen und daß auch in Berlin die Ensembleeinheiten längst gesprengt sind. „Repertoire“ und „Ensemble“ seien aber ausschlaggebend für die Bedeutung eines Theaters. Die höchste Ausbildung dieser künstlerischen Elemente zeige das russische Theater. In Rußland werde freilich das Theater vom Staat gefördert, vollkommen bewußt und mit den reichsten Mitteln, die zur Verfügung stünden. An Stelle dieser Subventionen träte in Berlin die Steuer und sie bewirke, daß die Erhaltung eines Ensembles und eines Repertoires ein kostspieliges Unternehmen geworden sei.

Amerikanische Eindrücke.

             Wie ist es in Amerika? Dort erhalten merkwürdigerweise auch andere öffentliche Institutionen, wie Schulen, Spitäler, Galerien, Bibliotheken, keine staatliche oder städtische Unterstützung – hingegen werden alle diese lebenswichtigen Unternehmungen aus reichen Privatmitteln erhalten; und darin lägen eben die Möglichkeiten einer großen Entwicklung auch des Theaters. Auf diese Weise nämlich erneuere sich ständig der Inhalt und der Geist dieser philanthropischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Unternehmungen.

             „In Amerika sind die Museen kein einsamer Ort. Sie würden staunen, wie lebendig sie sind. Das Interesse des Publikums wird auch rege erhalten, sogar mit Plakaten wird die bildende Kunst propagiert. Zum Beispiel mit diesem: „Wann haben Sie zuletzt ein Museum besucht?“ Diese Museen sind aber auch sehenswert, und eine Sammlung wie die der Frau Gardener in Boston steht einzig da.“

             Newyork ist daher, nach Reinhardts Ansicht, zu einer Theaterstätte allerersten Ranges berufen. Es gebe übrigens am Abend kein anderes Vergnügungsleben als im Bereich der Theater (denn die Restaurants und die anderen Lokale seien um 9 Uhr abends schon tot).

             „Newyork ist eine fabelhafte Theaterstadt, es hat ein wundervolles Publikum. Und ich glaube auch an die Zukunft des amerikanischen Theaters, denn dort bereitet sich etwas Neues vor, was mit der körperlichen Begabung des Amerikaners zusammenhängt. Der amerikanische Schauspieler ist von Haus aus tänzerisch begabt und gebildet, es ist erstaunlich, wie viele originelle Tanzkräfte die kleinste musikalische Komödie ausspielen kann. Jeder Schauspieler in Newyork kann tanzen und tanzt. Ein neuer Rhythmus geht von ihm aus, der etwas absolut Zwingendes und Hinreißendes hat.“

             Auch das europäische Theater wird sich, nach Reinhardts Meinung, in dieser Richtung entwickeln (und tat es bereits in Rußland, wo von der Schauspielkunst bis zur Akrobatik nur ein Tanzschritt ist): die Ausbildung des Schauspielers von morgen wird das musikalisch-tänzerische Element berücksichtigen müssen. Das Schauspiel neigt heute zur Musik und Max Reinhardt ist von dieser Entwicklung als einer organischen und aktuellen Fortbildung so sehr überzeugt, daß er, einer der ersten, einem einfachen Prosalustspiel Musik lieh und durchgehend verwendete („Victoria“, ein großer Erfolg). Umgekehrt glaubt er aber auch, daß die Oper prosaische Elemente in ihre Struktur aufnehmen wird. Und so werden sich Schauspiel und Oper einander nähern und vielleicht eine neue und einheitliche zeitnahe theatralische Form bilden.

Der ideale Theaterdichter.

             Was erwartet Reinhardt vom kommenden Theaterdichter? Wie steht er zu den gegenwärtigen?

             „In keiner Zeit waren die starken Theatertalente so gering an Zahl wie heute. Möglicherweise hat sie der Krieg vernichtet. Anderseits werden die jungen Leute heute von technischen Dingen mehr angezogen: viele Menschen mit Phantasie, die vielleicht schöpferische Werte dem Theater geben könnten, wenden sich technischen Abenteuern, Entdeckungen und Erfindungen zu. Wie dem auch sei, der dramatische Nachwuchs ist tatsächlich nicht so dicht, wie vor dem Krieg. Daher gibt es heute so viele Regisseure. Denn wenn wieder ein Dichter käme, der aus dem Wesen des Theaters heraus Stücke schriebe, er würde den Regisseur überflüssig machen. Shakespeare und Moliere waren ihre eigenen Regisseure. Und auch Gerhart Hauptmann hätte Schauspieler werden können, so sehr von echtem Theatergeist war er besessen. Aber auch Rainmund und Nestroy sind Beispiele für Dichter, die aus dem Theater für das Theater arbeiteten. Heute fehlen sie, das Drama wurde literarisch, und das Literarische bedarf eines Mittlers, der es auf die lebendige Bühne übersetzt (ebenso wie die alten Stücke der Vergangenheit): dieser Mittler ist der Regisseur.“

Ferdinand Bruckner – kein Rätsel.

             Nun hat man es erfahren, warum sich Max Reinhardt, was ihm oft vorgehalten wird, für die dramatische Produktion der heutigen jungen Dichter nicht durchaus erwärmen und interessieren kann. Aber es finden sich glückliche Ausnahmen: eine Erscheinung etwa wie Ferdinand Bruckner. Wie erklärt sich übrigens, daß diese Dichter persönlich noch nicht zum Vorschein kam?

             „Ich kenne Ferdinand Bruckner nicht persönlich, aber das eine weiß ich: daß er ein Dichter ist. Ich habe übrigens keinen Augenblick an ein Kollektiv geglaubt, das ein Stück wie „Die Verbrecher“ verfaßt haben könnte. Ich kann es auch sehr gut verstehen, daß ein wirklicher Dichter kein Interesse für die theatralische Verwirklichung seiner Visionen aufbringt, oder aber daß er Hemmungen hat, der Darstellung seines Werkes beizuwohnen. Der Fall Bruckner ist ja nicht so originell: auch Frantischek Langer, mit dem wir wiederholt Briefe gewechselt haben, war nicht zu bewegen, eine Aufführung seiner „Peripherie“ zu besuchen und obschon wir ihn öfters eingeladen hatten und auch sein Eintreffen gemeldet worden war, erschien er niemals in unseren Theatern. Trotzdem wird seine Existenz nicht angezweifelt, bloß weil man schon von früher her wußte, daß er Arzt ist und in Prag lebt.“

             Von Bruckners Stück sprechend, erklärt Reinhardt (der zu seinem Bedauern verhindert war, es selbst zu inszenieren), daß er die kurzen Bilder für die eigentliche Form des Theaters hält, wie sie denn auch die Form der Sturm- und Drangdichter gewesen sind. Und damit ist die Unterhaltung beim Film angelangt.

Die Krisis des Films.

             Reinhardt gibt zu, daß der heutige Film von einer (künstlerischen und wirtschaftlichen) Krisis bedroht ist. Er findet auch, daß das Interesse des Publikums für den Film ein wenig nachgelassen hat. Es sei kein glückliches Zeichen für die Macht des Films, daß in Newyork, wo der Film die drittgrößte Industrie des Landes darstelle, neben dem Filmen noch andere Dinge als Attraktion laufen müßten (Tänze, Varietés, und so auch in Berlin die „Bühnenschau“). Ferner:

             „Der Tonfilm hat drüben eine wahre Panik hervorgerufen. Nun glaube ich zwar nicht an eine unbeschränkte Entwicklung und Herrschaft des Tonfilms, wohl aber, daß die nächste Gestalt des Films von dieser Erfindung profitieren wird. Der Film wird aus seiner Stummheit erlöst werden, aber nicht in dem Sinne, daß er nun durchgehends die menschliche Sprache sich aneignen soll – denn das wiederspräche dem absoluten Sinn des Films – sondern, daß er die musikalischen und die Geräuschelemente (die technischen Lebensfunktionen) in ungeheurem Maße aufnehmen wird. Sie wissen, daß auch heute ein Film ohne begleitende Musik nicht wirkt, und zum großen Erfolg des „Potemkin“-Films hat zweifellos seine eigene Musik beigetragen. Die technische Erfindung des Tonfilms ist für den Augenblick so faszinierend, daß die Tonfilmtheater in Newyork am stärksten besucht werden. Die Filmkrisis aber ist eine Folge der schlechten Bücher. Nie war, in Hollywood wenigstens, das Bedürfnis nach guten Filmmanuskripten so stark wie eben jetzt. Es zeigt sich auch hier, daß das literarische Werk dem Film nicht viel geben kann; auch er verlangt nach der Dichtung aus dem Wesen des Films heraus. Der seltene Fall eines Filmdichters, der auch den Regisseur ersetzt, ist Chaplin bereits eine historische Figur. Seine Filme sind Meisterwerke, denn er schreibt keine Texte, die erst in den Film übersetzt werden müssen: er sieht alles in Bildern. Auch die heutigen Russen sind, von ihren Tendenzen abgesehen, Meister des Films, und wenn auch die schauspielerischen Einzelleistungen in Hollywood höher stehen (Chaplin, Gish, Jannings und andere), den Film als Gesamtkunstwerk haben die Russen zuhöchst ausgebildet.“

             Und wie steht es mit Reinhardts eigenen Filmplänen?

Reinhardts Pläne für Hollywood, Wien, Salzburg.

             „Der Film ist eine Form des Theaters, und ich bin ein viel zu leidenschaftlicher Theatermensch, als daß ich an ihm vorübergehen könnte. Und im übrigen glaube ich auch, daß sich der kommende Film mit seinen neuen Elementen in seiner Gesamtwirkung dem Theater nähern wird.“ Max Reinhardt hat sich also entschlossen, Anfang des nächsten Jahres nach Amerika zu gehen und in Hollywood einen Film zu drehen. Das Buch wurde in diesem Sommer von Hofmannsthal geschrieben unter Mitwirkung von Lillian Gish („eine geniale Person, eine ungewöhnlich gescheite Frau“) und Reinhardt selbst. Es ist ein völlig neues Drama, das auf keines der alten Subjekte Hofmannsthals zurückgeht, es spielt heutzutage, in den Alpenländern und im Bauernmilieu, ohne daß es darum ein Bauern- oder Volksstück wäre: rein menschlich ist die Fabel. Den Vertrag mit den United Artists (jener Gesellschaft, die auch die Produktion Chaplins, Fairbanks-Pickfords, Griffiths vereinigt) hat Reinhardt bereits unterschrieben. Die Hauptrolle wird Lillian Gish spielen, in den anderen Rollen werden auch russische und deutsche Schauspieler beschäftigt sein.

             Nach seiner Rückkehr aus Hollywood – der Film wird ihn dort drei Monate festhalten – wird Reinhardt seine Lehrtätigkeit an der Wiener Schauspielerakademie aufnehmen und ein Seminar eröffnen mit Hilfe eines Kreises von lehrenden Schauspielern und Regisseuren, unter denen er vor allem die Professoren Roller und Strnad nennt, die heute und hier „das stärkste Wissen vom Theater“ besäßen. Die Frage seiner persönlichen Anwesenheit in Wien sei keine, er wolle sich selbstverständlich mit voller Kraft und Zeit der akademischen Tätigkeit widmen, nachdem man ihm das Schönbrunner Theater zur Verfügung gestellt hat.

             Was die Salzburger Festspiele anlange, so stehe auch dieses Unternehmen vor seiner Umgestaltung; daß er es aber selbst übernehmen würde, wie es hieß, davon könne nicht die Rede sein. Das Unternehmen müsse notwendigerweise finanziell passiv sein, da der Aufwand für Dekorationen, Kostüme und die komplizierte technische Einrichtung jedes Stückes sehr kostspielig sei; denn das Festspielhaus verfügt über keine Theatermaschinerie. Wenn aber selbst die Oper, die das ganze Jahr spiele, auf Subventionen angewiesen sei, wie sollten sich die August-Festspiele allein erhalten? Mäzene müßten es tun.

In: Neue Freie Presse, 4. November 1928, S. 16.

Oskar Maurus Fontana: Wille und Weg der Volksbühne

Vorbemerkung der Redaktion. Die interessanten Ausführungen Fontanas werden sicherlich nicht ohne Widerspruch bleiben, der im Einzelnen ja schon durch andere Aufsätze in dieser Nummer vorausgenommen ist. Aber die Bemerkungen Fontanas sind wichtig, und sie tragen viel zur notwendigen Diskussion und Klärung des ganzen Problems bei.

             Das Theater ist – soziologisch betrachtet – eine Gruppenbildung. Eine Gruppe kann nur von Ähnlichen gebildet werden. Unsere bürgerlichen Theater aber sind Versuche von Gruppenbildungen zwischen ganz und gar Unähnlichen. Jeder will was anderes: der Direktor, der Schauspieler, der Dichter und jeder im Publikum. Wie kann da eine Form entstehen und wachsen? Sie muß zerfallen. Ihr fehlt jede Bindung der Einheitlichkeit im Willen, im Geist. Alle großen Theaterepochen hatten diese Geschlossenheit. Warum zum Beispiel war das alte Burgtheater möglich? Das Publikum wollte durch feine Unterhaltung über die politischen Miseren eines wankenden Reiches gebracht werden und das Theater wollte das Publikum durch feine Unterhaltung über die politischen Miseren eines wankenden Reiches bringen. Dafür war Geld vorhanden. Mit Recht. Mit ebensolchem Recht ist es schwer, für das disparate Gebilde, welches sich heute Burgtheater nennt, auch nur bescheidene Mittel aufzubringen. Und wiederum: warum begibt sich jetzt das Entscheidende des Theaters in Rußland? Weil hier die Einheitlichkeit da ist, weil hier »Ähnliche« gruppenbildend wirken und so das Schöpferische entfesseln. Und dann, bei geglückter Gruppenbildung – das ist das Geheimnis – hat das Theater immer Geld.

             Unser Theater hat kein Geld. Schon das zeigt, wie sehr es aus dem »Lebensnotwendigen« in eine Sphäre des überflüssigen »Nur-Theaters« gerutscht ist. Wie aber kommen wir Westeuropäer zu einer Einheitlichkeit und damit wieder zu einem Beginn der Theaterkultur? Durch die Volksbühne, durch den Zusammenschluß des Publikums, das sich durch seinen Vereinigungswillen schon als »Ähnliche« zu erkennen gibt. Die Volksbühne ist die Theaterform von heute, weil dieser Theatertyp dem Stand unserer in Umbildung begriffenen Gesellschaft entspricht. Es ließen sich radikalere Formen denken, aber ihnen müßte eine radikalere Gesellschaftsumschichtung entsprechen. Die Volksbühne ist eine Gruppenbildung zwischen Demokratie und Prolet-Diktatur. Genau dort steht unsere Gesellschaft. Die Gesundheit des Volksbühnengedankens zeigt sich schon darin, daß der größte Trust der Theatergeschichte, der Reinhardt, Barnowsky, Robert in Berlin, zum Abonnentensystem zurückkehrt, zum »Stammpublikum« der früheren Bildungs- und Stadttheater. Nur freilich ist ein großer Unterschied: Der Trust sucht nur einen äußeren, einen rein wirtschaftlichen Zusammenschluß mit seinem Publikum, um sein altes Theater zu sichern – die Volksbühne will über die ökonomische Bindung hinaus, seinem Publikum innere, geistige Verschmelzung und Erneuerung geben. Das entscheidet.

             Darum wird die Volksbühne dem großen Kampf der Geister, der Europa durchschüttelt, nicht ausweichen können, sie wird ihn aufsuchen müssen, weil nur aus geistiger Klarheit uns wieder fester Boden kommen kann. Eine herrschende Geistigkeit mit ihren Machtmitteln geriet wie aufgelockerter Schnee ins Rutschen, vieles stürzte talab, manches hält sich noch an Vorsprüngen. Ganze Klassen verschwanden, andere wuchsen riesenhaft. Ein neuer Inhalt, eine neue Form werden gesucht. Nichts blieb unberührt. Das Soziale, das Sittliche, das Sinnliche, das Künstlerische, das Religiöse – alles hat seine alten Grenzgebiete verlassen – eine Völkerwanderung der Ideen.

             Dieses Ganze muß man in der Volksbühne spüren. Sie kann nicht mehr Besucherorganisation allein sein wie früher, sie kann auch der »Bildung« nicht mehr nur dienen, sie muß uns aufrufen, sie muß ein Theater der Lebendigen für Lebendige sein.

             Gewiß, eine Publikumsgenossenschaft, wie sie einmal die Volksbühne ist, kann keinen Geist ausbrüten, aber sie kann dem Kampf des Geistes eine gesunde Ökonomik gewährleisten. Hätten den gleichen Mangel an Vertrauen zur eigenen Kraft die 28 arbeitslosen Flanellweber gehabt, die sich 1843 in Rockdale zur Rettung ihrer Existenz als eine Genossenschaft vereinigten und erst ein Jahr später ein Anfangsbetriebskapital von 28 Pfund zusammenbrachten, so hätten sie nicht 1851 eine mit Dampfkraft betriebene Kornmühle, 1855 eine Baumwollspinnerei und 1863 eine Baugenossenschaft mit einer Million Friedensmark Kapital als Eigentum der Genossenschaft besitzen können.

             Alle Genossenschaften haben klein angefangen, ehe sie die heutige Größe erreichten. Auch die Volksbühne. Wer die Volksbühne in Wien will, darf sich freilich an keine Utopien und Großmachtträume verlieren. Die Wiener Volksbühne darf in ihren Anfängen nicht vom Bühnenreformertum belastet werden. Auch auf der Guckkastenbühne kann sich Wertvolles, Alarmierendes ereignen. Sich heute um den »Bühnenraum der Volksbühne« den Kopf zu zerbrechen, das gleicht der Sorge der Mutter: wie wird das Hochzeitszimmer des noch nicht geborenen Kindes aussehen. Laßt das Kind doch einmal zur Welt kommen. Dann wird sich alles andere schon finden.

             Wir müssen zu arbeiten beginnen. Im kleinen Umfang, so wie die Berliner Volksbühne begann, die ja auch nicht am ersten Tag hundertsechzigtausend Mitglieder und ein großes Haus hatte. So wie schließlich – erinnern wir uns – schon einmal die Wiener Volksbühne begann, ehe der Krieg sie zusammenschlug. Aus den Möglichkeiten heraus, die uns Wien und die ökonomische Situation vorschreiben, müssen wir arbeiten. Aber arbeiten! Und wir dürfen uns nicht unserer Armut schämen. Wir brauchen nicht auf sie stolz sein, aber wir müssen uns sie eingestehen und sie mit ihren eigenen Mitteln zu überwinden suchen. Freilich, wer den Anfängen der Volksbühne Monumentalität sichern will, wird verzagen müssen. Aber Monumente gehören den Toten. Die Volksbühne lebt. Sie hat mehr als dekorative Werte zu vergeben; revolutionäre Leidenschaft.

In: Kunst und Volk 3 (1928), Heft 1, S. 19-21.

Hans Margulies: Echo der Zeit

             Niemand kann aus seiner Haut heraus. Der Dichter, der Schriftsteller, am allerwenigsten. Denn was er kündet, ist das Geschehen der Welt, das Echo der Zeit, wie es sich in ihm, durch ihn geformt hat.

             Spätere Generationen werden deutlicher noch als wir die Trennungslinie, die durch die literarische Produktion unserer Zeit läuft, feststellen können. Aber auch heute schon ist sie, wenn auch noch nicht mit jener Genauigkeit, die nur der Rückblick ermöglicht, in den wichtigsten Punkten markant.

             Es wäre falsch oder zumindest sehr ungenau, wollte man sagen, daß die Reaktion auf politische Geschehen die Handhabe zu dieser Trennung gäbe. Ebenso ungenau wäre die Behauptung, daß es sich hier um die Gegensätzlichkeit der Generationen handelt. Wie es überhaupt schwer fällt, Geistiges auf eine knappe Formel zu bringen. Ein angedeuteter Vergleich möge diese ersetzen: Die einen empfinden die Gegenwart als mehr oder minder harmonische Fortsetzung der Vergangenheit, während die anderen als Grundlage ihrer Einstellung die Überzeugung besitzen, daß das Vergangene absolut vorüber und das Heute ein Anfang, ein völlig neues Beginnen ist.

             Namen werden dies vielleicht verdeutlichen, Gerhart Hauptmann, Thomas Mann, Arthur Schnitzler, Rainer Maria Rilke. Jakob Wassermann, Robert Musil gehören der einen, Henri Barbusse, Romain Rolland, Anatol France, Heinrich Mann, Leonhard Franck, Alfred Döblin, Otto Flake, Robert Müller der anderen Seite an.

             Am deutlichsten aber wird diese essentielle Scheidung, vergleicht man zwei soeben und gleichzeitig erschienene Bücher daraufhin miteinander, natürlich ohne mit diesem Vergleich etwas anderes als eine geistige, also keine ästhetische oder qualitative Gegenüberstellung bezwecken zu wollen.

             Jakob Wassermanns vierter Teil des „Wendekreis“, „Faber oder Die verlorenen Jahre“ (S. Fischer, Berlin) ist gewiß eine bewußt ehrliche Auseinandersetzung mit unserer Zeit, wie Wassermann sich ja seit jeher bemüht, auf das Geschehen rings um ihn zu reagieren, und der Entscheidung nie ausweicht. Warum aber ist dann dieser Roman doch nicht das geworden, was Wassermann selbst mit seinem „Wendekreis“, den Büchern der Zeitenwende, zu geben beabsichtigte? Es führt in keine Zukunft, es ist das Ablaufen des Vergangenen. Ein rein bürgerliches Problem: Eine Ehe, die in der Vorkriegszeit so harmonisch, so absolut glücklich sich gestaltet hat, wie dies nur in den allerseltensten Fällen denkbar ist, läßt sich nach der erzwungenen Trennung durch Kriegsdienst und Gefangenschaft des Mannes, nicht wieder fortführen, da in der Zwischenzeit die vorher Ineinanderlebenden sich auseinander entwickelt haben. Sie finden nicht mehr zusammen, wenn uns auch der Dichter mit der Hoffnung entläßt, daß irgendwann einaml wieder die Harmonie der gestörten Zeit hergestellt sein wird.

             Wer sehend durch die letzten zehn Jahre gegangen ist, weiß, daß das Thema dieses Romans vielfältig vom Leben variiert wurde, daß es wirklich ein Problem allzu Vieler ist. Und doch! Was geht uns das heute an? Ganz unpolitisch gesprochen. Die Ästhetik, Ethik und Moral dieser bürgerlichen Gesellschaft, um die es da geht, hat für uns ihre Bedeutung verloren, denn diese bürgerliche Welt ist an ihrem Ende angelangt, und was wir jetzt durchleben, ist ihre Auflösung und ihr Übergang in etwas Neues, das wir noch nicht voraussehen können, aber von dessen Kommen wir überzeugt sind.

             „Rebellen“ (Verlag Die Schmiede, Berlin) heißt das andere Buch, das als Gegenstück herangezogen werden soll. Sein Autor, Josef Roth, ein noch zu wenig bekannter Schriftsteller.

             Ein Jemand, einer aus der namenlosen Masse, hat im Krieg ein Bein verloren, dafür eine Medaille erhalten und eine Lizenz als Drehorgelspieler. Damit ist er, der Untertan, für sein Gefühl selbst schon Autorität, Behörde geworden. Sein Glück wird vollständig, als ihn sich eine junge Witwe mit Wohnung als Mann nimmt. Nachdenken ist nicht seine Art. Er hat, was er will. Und mißbilligt Unzufriedenheit und Empörung der anderen Invaliden. Da er in eine Invalidendemonstration gerät, packt ihn der Ärger und in dieser momentanen Verstimmung stößt er an einen Spießer, der auch wütend ist. Das Wort „Bolschewik“ fällt, und er, der staatstreue, autoritäre Invalide, fühlt sich angegriffen, fühlt in sich die Behörde beleidigt und schlägt mit der Krücke um sich und auch einen Polizisten. Lizenzentzug, seine Frau wirft ihn hinaus, verkauft seine Frau verkauft seine Drehorgel; Schluß des kleinbürgerlichen Glücks. Eine Vorladung zu Gericht für zehn Uhr. Aber um sieben Uhr schon wird er auf die Polizei gebracht und, ein Michael Kohlhaas, wird vorläufig einmal, weil sich der Polizeibeamte von ihm keine Vorschriften machen lassen will, für vierundzwanzig Stunden eingesperrt und natürlich in der Zwischenzeit, in seiner Abwesenheit, bei Gericht verurteilt.

             In der Zelle rebelliert es in diesem Ungeistigen, dessen Gerechtigkeitsgefühlt so brutal verletzt wurde. Eine ganz dumpfe, unwissende, unpolitische Umstellung auf die Gegenseite. Gegen den Staat, die Behörde, die Autorität. Nach verbüßter Haft – der Gefängnisdirektor ist bemüht, eine Wiederaufnahme des Prozesses zu erzielen – wird er im Dienst eines Konjunkturverbrechers Toilette-Aufseher in einem Kaffeehause. Da kommt die Vorladung zur zweiten Verhandlung. Schon glaubt er vor seinem Richter zu stehen und schüttet sein Herz aus, da begreift er, daß er tot ist und vor dem himmlischen Richter steht. Und rebelliert. Und sagt, was er in seinem dummen Herzen, in seinem Ungeist mit sich trägt. Aus der Kaffeehaustoilette ins Anatomische Institut, das ist der letzte Weg des Nachfahren von Crainquebille.

             Diese „Rebellion“ geht uns an. Das sind wir, die rebellieren, wir, die wir uns wehren, die es anders haben wollen, die wir wissen, daß wir ein Anfang sind, ein böser, häßlicher, unbequemer Anfang. Den wir aber auf uns nehmen, weil wir die Ungerechtigkeit des Gestern nicht in unser Heute tragen wollen. Denn wir wissen, daß unabhängig davon, ob wir es erwünschen oder nicht, etwas Neues begonnen hat, wenn auch das Gewesene noch fortlebt. Und darum sehen wir in Wassermanns neuem Buch nur den Beitrag zur Psychologie des Gestern, in dem von Roth aber spüren wir den Atem des Kommenden.

             Zwei gute Bücher, Bücher, die gleichzeitig erschienen sind und doch aus zwei Welten stammen. Echo der Zeit.

In: Der Tag, 26.11.1924, S. 4.

Richard Specht: Erotische Frauenbücher

[Rez. zu: Grete v. Urbanitzky: Der wilde Garten, Mela Hartwig: Ekstasen]

Immer noch, trotz aller Bemühungen der Psychologen und Psychoanalytiker, trotz aller zuständigen Gestaltungen der expressionistischen Literatur, ist, wie die Steglitzer Tragödie erst in den jüngsten Tagen wieder erwies1, die Zeit der Pubertät ein kaum erforschtes Gebiet, liegt wie unter Schleiern, hat etwas scheu Drohendes und Abwehrendes, das jeden forschenden Blick und jedes, auch das mildeste fragende Wort als Zudringlichkeit ablehnt und doch zugleich liebesbedürftig ersehnt.

Denkt man an dichterische Sublimierung dieser gefährlichsten, verworrensten, lockendsten, beängstigendsten und ahnungsbedrängtesten Jahre jeden Daseins, dann wird Wedekinds Frühlingserwachen als die genialste, mutigste und am tiefsten um all das Verborgene wissende Kindertragödie unter allen frühen und auch unter all den vielen späteren Formungen des Problems vor dem geistigen Auge stehen – weil hier alles aus schmerzhaftestem Erleben und rückhaltlosestem Bekennerdrang kommt und dabei ganz und gar nicht ins Seelisch-Gleichnishafte gerückt und aufs typisch Gültige gebracht worden ist.

An all diesen dichterischen und sogar an wissenschaftlichen Werken aber, die diese dunklen und vielleicht noch ungelöst gebliebenen Fragen der jugendlichen Psyche behandeln, fällt ein Besonderes auf: daß die Pubertätszeit der Knaben bisher eingehender untersucht und erwogen wurde, als die der Mädchen…//

Zu rechter Zeit kommt da ein kluges und tapferes Buch, das in all diese Dämmerbereiche hineinleuchtet und das neben dem Verdienst des unerschrockenen Schleierabreißens das zweite für sich in Anspruch nehmen darf, ein ungewöhnlich lebendiger, mit festen Griffen hingestellter, von starkem Blutschlag vorwärtsgetriebener Roman zu sein, den man nicht aus der Hand legt, ehe man die letzte Seite erreicht hat und der auch dann noch mit eindringlich mahnender Stimme im Leser nachklingt. Er ist von Grete v. Urbanitzky, die schon durch „Mirjams Sohn“, ihre letzte Erzählung, zu beträchtlichem Niveau gelangte, und heißt „Der wilde Garten“. Er trägt seinen Titel zu Recht. Ein Getümmel blühender Erscheinungen drängt sich um die Gestalt einer alten, gütigen Lehrerin, die längst nicht mehr ihr eigenes, nur mehr das Leben ihrer Schutzbefohlenen lebt. Und dieses liebe alte Fräulein erlebt nun fassungslos, voll Erbarmen und zugleich voll Entsetzen diese heiße, pochende, von Schauern durchfieberte Zeit mit, in der all die Kinder zu ihrem Frauentum erwachen und in ihrem ganzen Wesen verwandelt, durschüttert und unbegreiflich aufgejagt werden. All diese jungen Seelen, die so klar, so vertrauensvoll hingebreitet vor ihr lagen, kann sie kaum mehr verstehen und nicht mehr wiedererkennen. Sie muß Lasterhaftigkeiten anhören, die sich dann als eingebildete erweisen, muß die Verdrängung des Erotischen ins Religiöse und die Kunst mitansehen, aber auch die Unzucht der Phantasie, die sich in verruchten Tagebuchaufzeichnungen vor den Gespielinnen auslebt, ohne daß auch nur eine einzige Tatsache der Realität ihr entspräche. Sie muß den Tod eines Mädchens erleben, das von jeher durch ihren Vater, der Arzt ist, zu schonungslosem Austilgen aller Liebesillusionen verurteilt war und so viel an Brutalität, Verrat, unreiner Gier und Lüge gesehen hat, die als Liebe ausgegeben worden waren, daß sie sich des Kindes entledigen will, das sie in ihrer trotzdem wachen, unsäglichen Sehnsucht nach Zärtlichkeit empfangen hatte, weil sie nicht das Recht in sich fühlt, ein neues Leben dieser Welt auszuliefern. Das alte Fräulein Doktor wird durch all das Unfaßbare, Furchtbare und doch Uebermächtige des Frauenmysteriums derart aufgeschreckt, daß sie an sich irre wird. Sie schämt sich ihrer Hingabe an die vermeintliche Reinheit dieser Kinderseelen, die ihr in so häßlicher Weise abtrünnig geworden sind. Sie wird aua all ihrem Gleichmaß aufgescheuch – so ganz aus der Bahn geschleudert, daß sie ihren Beruf hinwerfen will, der ihr nur mehr wie ein törichter Selbstbetrug scheint. Aber sie wird durch das starke Wort des unglücklichen Arztes, der durch eigene Schuld das geliebte, mißleitete Kind verloren hat, wieder zu sich und ihrem wahren Wesen hingeführt und steigt in neuerer Gefaßtheit wieder auf den Schulkatheder, um aus neue junge Geschöpfe in guter Mütterlichkeit zu geleiten und sie durch unermattete Liebe zum Rechten zu bringen. Und: um ganz gewiß wieder von ihnen verraten und verlassen zu werden.

              Ich will nicht davon sprechen, daß außerordentlich einprägsame Szenen in diesem Buche sind, von denen jene, in der die Lehrerin mit dem Klassenoberlehrer in eine verrufene Bar geht, um sich von der Anwesenheit einer Schülerin zu überzeugen, der dann die entgeisterten Erzieher noch bis zum Stundenhotel folgen, eine der erschütterndsten ist; will auch von der Fülle wirklich geschauter, atmender Gestalten nicht sprechen, die in diesem mit fester Hand ins Lebendige greifenden Buch ihr Eigendasein führen. Ich will über seine Romanqualitäten hinaus sagen, daß dieses Buch wichtig ist. Jede Mutter sollte es lesen. Sie wird dann in irgendeiner dieser Mädchentypen ihr Kind erkennen, wird aus einem Wort oder einer Tatsache, wird aus irgendwelcher seltsamen und doch aus urewigem Leiden kommenden Regung, in der sich all das dumpfe, wartende, drohend aufbrennende Erleben ausdrückt, plötzlich an Dinge erinnert werden, an denen sie unwillig vorbeigehört hat. Sie wird dann ihr Kind besser verstehen, wird ihm besser helfen und es vor Argem behüten können.

Und trotzdem muß ich zwei Bedenken äußern. Das eine ist durchaus künstlerischer Art: es betrifft eine gewisse Lockerheit im Aufbau, und vor allem eine merkliche Ungeduld und Flüchtigkeit im Sprachlichen, das in wesentlichen Teilen der Erzählung Tempo, Farbe und nervigen Rhythmus hat. Der andere Einwand ist gewichtiger, weil er das Menschlich-Ethische betrifft. In ihrem Bestreben, den Begriff der wahrhaften Liebe von dem des zwangläufig egoistischen des Gattungswillens zu trennen, geschieht es der von ihrem Thema hingerissenen Verfasserin, die im Verkünden des echten Liebesevangeliums der Zeit Worte von großer und beredter Schönheit findet, daß sie den Eros im griechischen Sinn als den reinsten, erhabenen Ausdruck des göttlichen Liebesgedankens zu betrachten scheint.

Ich kann mir kaum denken, daß dies der Endgedanke dieses herzenswarmen und gescheiten Buches sein soll. Wenn es so gemeint ist, kann kein Widerspruch heftig genug sein, aber schon die Möglichkeit des Mißverständnisses wäre gefährlich.

„Bücher sind oft stärker als alles andere; sie sind noch viel gefährlicher, als Sie wissen“, sagt jemand in dieser Erzählung. Das gilt auch von diesem Buch. Es gehört zu jenen, die durch den Mut zum Aussprechen von Dingen, um die sich die meisten feig herumdrücken, oft etwas beinahe Schmerzendes haben, und die für unreife oder frivole Menschen vielleicht wirklich gefährlich werden können. Aber für solche ist es nicht geschrieben. Und in der rechten Hand kann es zum Segen werden.

Was an diesem „Wilden Garten“ abseits der Gestaltung fesselt, ist das Allgemeingültige daran; die Aufrichtigkeit und der Mut im Anpacken und Durchleuchten eines fürs Leben entscheidenden Problems. Zum Unterschied von anderen Frauenbüchern, in denen oft ein Mißverständnis sichtbar wird: die Verwechslung von Erotik und Sexualität, von beseelter, vergeistigter Liebe und der bloß triebhaft-animalischen, oft krankhaft gesteigerten. Es gibt jetzt Erzählungen, in denen als Novelle dargeboten wird, was eigentlich nur Krankengeschichte ist.

Das ist auch der erste Eindruck, den ein eben erschienenes Buch von Mela Hartwig macht. Er ist vielleicht dadurch verstärkt, daß hier das Mißverständnis schon im Titel beginnt, der „Ekstasen“ heißt und eigentlich „Hysterien“ heißen sollte. Die Vermutung liegt nahe, daß die Verfasserin Krankenschwester war: in diesen zur Novellenform geweiteten Anamnesen ist ein frappierendes medizinisches Wissen aufgespeichert, diagnostisch und schildernd, bis in die oft exklusiv wissenschaftlichen Fachausdrücke, die den einzelnen Fall dem Eingeweihten deutlicher machen.

Am ehesten ist die letzte Erzählung des Buches, „Die Hexe“, die in der Weise der Alraune des Hanns Heinz Ewers einsetzt und einen mittelalterlichen , mit dem Feuertod endigenden Fall von scheinbarer Besessenheit und tatsächlicher Rutengängerei gestaltet, aus der Thematik des Ganzen auszuschalten. Während die ersten zwei Novellen – es sei gleich vorweggenommen: mit ganz außergewöhnlicher Begabung und mit leidenschaftlichem Temperament – zwei krasse und sicherlich durchaus vereinzelte Vorkommnisse sexualpathologischer Art hinstellen; die eingebildete Schwangerschaft eines Mädchens, dessen Sehnsucht in der Vorstellung einer Befruchtung durch den … wirklich: durch den Mond erfüllt wird und das in ganz phantastisch unreale und zu symbolischer Satire sublimierte Konflikte mit den Behörden gerät. Ein nicht durchaus verständlicher und trotzdem oft stark berührender Vorgang, neben dessen Unwirklichkeit der fast unwahrscheinliche, aber weit gegenständlicher gefaßte des novellistischen Gegenstücks beinahe naturalistisch anmutet. Es ist die Darstellung einer unerfüllt bleibenden oder richtiger: durch einen Mord enthüllten Inzestliebe. All das wirkt erregend durch die Vehemenz, die Uebersteigerung des Tempos, durch den fliegenden Atem im Erzählen; und wirkt abstoßend durch das klinisch Genaue, durch die Verwechslung von psychiatrischem und dichterischem Problem und nicht zuletzt durch die Lust am Abscheulichen, am brutalen, ja schamlosen Wort, das überaus bezeichnend für den subjektiven Zustand der Gestalt sein mag und doch durch eine fast kokette Sucht verletzend ist, die Dinge nicht nur beim rechten, sondern mit dem unverhülltesten Namen zu nennen. Krankengeschichte.

Das ist auch die dritte Novelle des Buches, und trotzdem ist sie außerordentlich, gibt dem Ganzen seinen Wert und ist eine der stärksten Talentverheißungen der letzten Zeit. Das macht: weil hier etwas Gültiges, beinahe Alltägliches und eben deshalb Ergreifendes zur Erscheinung wird und nicht nur ein besonderes, einmaliges Kapitel der Psychopathia sexualis. Diese „Aufzeichnungen einer Häßlichen“ sind ein Stück Frauentragödie, zeigen das jammervolle Schicksal der infamerweise immer verhöhnten und bestenfalls unwillig beiseitegeschobenen häßlichen alten Jungfer auf, ihre grauenvolle Sehnsucht, ihr Verzweiflung, die Marter ihres Vertrocknens, die Lächerlichkeit und zugleich die entsetzliche Kläglichkeit ihres Werbens um Liebe, um Zärtlichkeit, ja um ein bißchen Lüge; und schließlich die Rebellion ihres gepeinigten Leibes und ihre Entsagung. Auch hier nur ein Fall von Hysterie. Aber, von ein paar allzu grotesken Strichen abgesehen, mit scharfem und dennoch erbarmendem Auge gesehen, aus illusionslosem, aber wahrhaftem und verstehendem weiblichen Herzen heraus gestaltet, zum Typischen erhöht und eben deshalb er-// schütternd in jede Seele greifend, die für die unscheinbaren und gerade durch die Schuldlosigkeit, die oft gerade ganz zarten und liebreichen Frauen auferlegt werden, noch nicht stumpf geworden sind. Eine starke Dichterleistung.

Dieser Erzählung halber wird das Buch von allen Frauen gelesen werden. Von den Häßlichen als Trost im Schwesterschicksal und als bezwingende Spiegelung des eigenen. Und von den Schönen in frohlockender Dankbarkeit für das Leben, das ihnen all dies Demütigende und Leidvolle erspart hat. Daß auch ein bißchen Schadenfreude dabei sein dürfte, werden sie sich ja kaum eingestehen.

Neue Freie Presse, 26.2.1928, S. 25-27.


  1. Mord- und Selbstmordfall in Berlin, der als aufsehenerregender Prozess (gegen Mitschüler Paul Krantz, der dann freigesprochen werden musste) im Februar 1928 verhandelt wurde. Dabei ging es um homoerotische Neigungen, zurückgewiesene Liebeserwartungen und ungeklärte Rollen mitbeteiligter Erwachsener. Vgl. die Berichterstattung in der NFP zum Prozessausgang vom 21.2.1928.

Johannes Biederhofer: Verbrecherkult auf der Theaterbühne

             Wie sehr die Demokratie, wie sie heute allgemein verstanden wird, nicht nur gute Kräfte entbindet, sondern fast noch mehr allem Zersetzenden und Dämonischen Freipaß gibt, das wird fast nirgends sichtbarer als an der Entwicklung des heutigen Theaterwesens. Es ist unglaublich, wie sehr im Zeichen der Demokratie, die die Zensur abgeschafft hat, die Korruption auf der Bühne um sich greift, die Korruption in der Form des immer häufiger Werdens von Stücken mit der Verherrlichung von Krankheit und Verbrechen. Es ist unmöglich, die Dinge so weitergehen zu lassen, wie sie gehen. Abschaffung der Zensur kann doch niemals heißen, allem was die Grundlagen von Kultur und Gesellschaft untergräbt, Freiheit zu geben. Wenn es dennoch gewissen Linkspolitikern gefällt, Verfassungsparagraphen so auszulegen, so dürfen christliche Politiker sich nie eine solche Auslegung zu eigen machen. Sie haben vielmehr die Pflicht, den Feinden von Staat und Gesellschaft, wie sie heute auf der Bühne predigen, mit aller Kraft entgegenzuwirken, das heißt, ihnen das Wort zu entziehen.

             Die ganze Dringlichkeit dieser Aufgabe kann nicht besser veranschaulicht werden als durch Hinweis auf etliche Theaterstücke, wie sie, nachdem sie zunächst in Berlin Mode waren, auch in Wien und in anderen Großstädten Mitteleuropas Mode wurden.

             Da ist zunächst das Stück Die Dreigroschenoper (Wiener Raimund-Theater). Es wird nun schon seit Monaten allabendlich bei unvermindertem Zulauf des Publikums gespielt; wann die Zugkraft des Verbrecherstückes erschöpft sein wird, ist im Augenblicke noch nicht abzusehen. Das Raimundtheater hat sich für dieses Stück ein eigenes Orchester, das „Wiener Jazz-Symphonie-Orchester“ engagiert, denn die Musik des aus alten englischen Moritaten-Motiven zusammengestoppelten Stückes bewegt sich in modernsten Jazz-Rhythmen. Das Milieu: Straßenbanditen, Mörder, Diebe, Bettler und Dirnen. Der Hauptheld: Mackie Messer, ein „berühmter“ Raubmörder, „Chef einer Platte von Straßenbanditen“, wie ihn der Theaterzettel nennt. Er ist aber auch ein großer Frauenfreund und Herzensbrecher; zu seinen „Bräuten“ zählt gleichzeitig Polly, die Tochter des „Chefs einer Bettlerplatte“, und Lucy, die Tochter des Polizeichefs von London, was aber Herrn Messer nicht hindert, auch noch häufig Zeit zum Besuch eines Bordells zu erübrigen. Dies wird im Theater dann immer durch großprojizierte Aufschrift kinomäßig angekündigt -, worauf man den edlen Mörder in traulichem Umgange mit den Insassinnen des Dirnenhauses betrachten kann. Dem Milieu angepaßt ist auch die unsägliche rüde Ausdrucksweise dieses „Kunst“werkes. Der Verfasser, Bert Brecht, sympathisiert offensichtlich mit dieser Gesellschaft von Verbrechern und Dirnen, denen er, ein Verächter des satten Bürgertums, ganz recht gibt, wenn sie sich auf irgendeine beliebige Art Geld verschaffen. „Nur wer in Wohlstand lebt, lebt angenehm“, lautet der Refrain eines Couplets. Ein anderer: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.“ Diesem Bert Brecht, der aus seinem kommunistisch angehauchten Schundstück sehr fette Tantiemen in Mark und Schilling bezieht, ist übrigens in der letzten Zeit ein kleines Malheur zugestoßen: Es wurde ihm nachgewiesen, daß er einen in der Dreigroschenoper vorkommenden vielstrophigen Liedertext einfach gestohlen hat, und zwar von einem Franzosen François Villon. Herr Brecht mußte das zugeben und erklärte seinen Diebstahl in einer Zeitungsnotiz seelenruhig mit seiner „grundsätzlichen Laxheit in Fragen geistigen Eigentums“. In Berlin gab es über 200 Aufführungen der Dreigroschenoper, in Wien steht die 100. Aufführung bevor. In Graz aber gab es schon nach den ersten Aufführungen so entschlossene Kundgebungen der empörten Bevölkerung, daß die Dreigroschenoper schleunigst vom Spielplan abgesetzt werden mußte.

             Der große diesjährige Erfolg des Deutschen Volkstheaters heißt Der Fall Mary Dugan, Komödie aus dem Amerikanischen von Bayard Veiller, gleichfalls durch lange Serien von Aufführungen in Berlin (bei Reinhardt) mit der nötigen Empfehlung für Wien ausgestattet. Das Publikum wohnt einer dreistündigen Gerichtsverhandlung bei. Mary Dugan, eine „bessere“ Dirne, ist angeklagt, den Mann, dessen bezahlte Freundin sie zuletzt war, in ihrem Schlafzimmer ermordet zu haben. Sie leugnet alle Schuld, doch ein völlig lückenloser Indizienbeweis spricht so sehr gegen sie, daß ihre Verurteilung zum Tode nicht ausbleiben kann. Der Staatsanwalt spielt mit ihr, wie die Katze mit der Maus, bevor sie ihr den Gnadenbiß gibt. Zum Verteidiger hat Mary Dugan einen Anwalt namens West. Plötzlich aber stürmt Jimmy in den Gerichtssaal. Wer ist Jimmy? Der Gerichtshof argwöhnt, er sei der heimliche Geliebte Marys und ihm zuliebe habe sie den guten, alten Herrn Rice während einer Schäferstunde umgebracht. Nicht doch! Jimmy ist der jüngere Bruder Marys, sie sind zwei Waisenkinder, und um ihn studieren zu lassen (hier ist das Publikum und der Gerichtshof tief gerührt!), hat Mary so viele Jahre lang ein Lasterleben geführt. Aber jetzt ist Jimmy fertig, jetzt ist er Anwalt, und er übernimmt mitten während des Prozesses die Verteidigung seiner Schwester. Und jetzt wendet sich plötzlich das Blatt, der Staatsanwalt muß seine Anklage Säule für Säule zusammenbrechen sehen. Und was kommt allmählich ans Tageslicht? Wer waren die eigentlichen Mörder? Niemand anderer als jener Herr West, Marys erster Verteidiger, und die ehrenwerte Witwe des ermordeten Herrn Rice, die mit dem Anwalt schon längst ein Liebesverhältnis hatte und den unbequemen Gatten beiseiteschaffen wollte. Sie werden beide im Gerichtssaale verhaftet, die Anklage gegen Mary aber wird selbstverständlich zurückgezogen. – Worauf beruht die Wirkung dieses Stückes, das als ungeheuer „spannend“ gerühmt wird? Das Publikum freut sich kindlich, daß unter seinen Augen und gewissermaßen mit seiner Mitwirkung (denn das Stück wird so gespielt, als sei das ganze Theater Gerichtssaal, zu welchem Zwecke sogar die Billeteure als Gerichtsdiener livriert sind) eine Schuldlose von schwerem Verdacht befreit und die wahren Schuldigen überführt werden. Aber noch über etwas anderes freuen sich die Leute: Daß sich der Staatsanwalt bis auf die Knochen blamiert, dieser Staatsanwalt, der, nachdem er durch seine falsche Beweisführung beinahe einen Justizmord heraufbeschworen hätte, zum Schlusse noch die Kühnheit hat, zu behaupten, seinem Scharfsinn sei es gelungen, die wirklichen Schuldigen zu finden. Hierüber bricht dann, während der Vorhang fällt, das ganze Haus in hämisches Lachen aus, gewissermaßen: Da sieht man wieder einmal, was für eingebildete Tröpfe diese Staatsanwälte sind! Dieses Stück, das seine Requisiten aus dem kitschigsten Kinodrama herübernimmt, hat also auch noch einen anderen Nebenzweck: Die Gerichtsbarkeit lächerlich zu machen, das Vertrauen des Volkes in die Diener der mit Blindheit geschlagenen Justitia zu erschüttern.

             Dem gleichen Zwecke dient noch viel deutlicher ein anderes Verbrecherstück, das gegenwärtig im Theater in der Josefstadt (Reinhardt) allabendlich gespielt wird, nachdem es in Berlin und vielen anderen Städten des Reiches über viele Bühnen gegangen ist und mancherorts stürmische Theaterskandale entfesselte: Die Verbrecher von Ferdinand Bruckner. Der Autorname Ferdinand Bruckner ist ein Pseudonym und niemand weiß, welcher wirkliche Name dahintersteckt. Seit vielen Monaten wird in der Sensationspresse ein großes Rätselraten betrieben, wer „Ferdinand Bruckner“ sein könne. Für den Mann hat sich die schlau gewahrte Anonymität schon reichlich bezahlt gemacht, denn sie wirkt als ununterbrochene Reklame. Wenn für Die Verbrecher der Theatervorhang hochgeht, zeigt die Bühnenöffnung den Querschnitt durch ein Großstadthaus, mit Wohnräumen zu ebener Erde, im ersten und zweiten Stockwerke. In sieben Zimmern wird gleichzeitig gespielt und überall geschehen Verbrechen: Diebstahl, Betrug, Erpressung, Meineid, Mord, Unzucht wider die Natur, Abtreibung der Leibesfrucht. Dabei geht es so wüst, so hemmungslos gemein zu, wie man es ähnlich auf einer Bühne noch niemals erlebt hat. Handlung und Sprache strotzen von derbster Deutlichkeit, die, wenn Ferdinand Bruckner Schule macht, seinen Nachahmern kaum eine Möglichkeit offen läßt, noch einen Schritt weiter zu gehen, als der Meister. Der nächste Akt zeigt wiederum einen Querschnitt, aber diesmal einen durch ein Gerichtsgebäude, in dem in vier Gerichtszimmern gleichzeitig Strafverhandlungen stattfinden. Einige der vorhin begangenen Verbrechen bilden Gegenstand dieser Prozesse. Und nun zeigt sich Ferdinand Bruckner als eingefleischter Verächter der Justiz: Alle vier Richter sind Idioten, aufgeblasene und bornierte, herz- und verständnislose Bediener einer Paragraphenmaschine. Alles, was sie machen, ist falsch, verfehlt die Verurteilungen, verfehlt die Freisprüche. Auch einen richtigen Justizmord gibt es: Ein Unschuldiger wird zum Tode verurteilt, während das Publikum weiß, daß nicht er den ihm zur Last gelegten Mord begangen hat, sondern eine Köchin, auf die während der Verhandlung nicht der Schatten eines Verdachtes fällt. Wo hinaus läuft dies alles? Offenkundig auf planmäßige Zerstörung des Rechtsbewußtseins im Volke, auf Erschütterung seines Vertrauens zu der Gerichtsbarkeit. Darum tat jener Rechtsanwalt sehr wohl, der bei der Wiener Erstaufführung im Josefstädter Theater mit lautem „Pfui“-Ruf gegen solche Kunst protestierte Er wurde daraufhin zur Polizei gebracht – und verwarnt, denn offenbar sind unsere Behörden der Ansicht, daß man solche Verhöhnungen der Gerichte nur gutheißen, nicht aber mißbilligen dürfe. Nicht der Einzelfall des Verbrechens interessiert diesen Ferdinand Bruckner. Er vervielfacht und steigert ihn. In jedem Großstadthause, sagt er, geht es täglich, stündlich so verbrecherisch zu, wie ich hier an einem Beispiel zeige. Und dann geht es wieder in jedem Gerichtsgebäude täglich so toll verständnislos zu, wie beispielsweise in diesem hier. Also, Verbrecher, seid schlau, seid raffiniert, leugnet eure Taten, verwischt ihre Spuren, eignet euch Kenntnis der Gesetze an, um durch ihre weiten Maschen entschlüpfen zu können, das übrige überlaßt dem Unverstand der Richter!

             Die Aufführung dieses Stückes hat auf katholischer Seite natürlich den Ruf nach dem längst geplanten, aber immer wieder hinausgeschobenen „Schund- und Schmutzgesetze“ (vielleicht nicht der beste Name für eine gewiß gute, ja unbedingt notwendige Sache) neuerdings laut werden lassen. Darauf hat sich der publizistische Vorkämpfer der Gegner dieses Gesetzes, Ernst Lothar, zu Wort gemeldet und in einem (von der „Schöneren Zukunft“ bereits zitierten) Feuilleton Die Austreibung der Scham zwar den ganzen sittlichen Tiefstand dieser völlig schamlosen Art von Literatur zugegeben, jedoch unter Ablehnung gesetzlicher Gegenmaßnahmen eine sehr sonderbare Abhilfe vorgeschlagen: Man müsse warten, bis es von selber besser werde. Wenn sich das Laster erst gründlich erbrochen habe, werde sich schon irgendeinmal wieder die Tugend an den Tisch setzen. Die Eiterbeule müsse gewissermaßen erst ausreifen. Operativer Eingriff verboten. Indes, fragt die Lehrer, die Jugendrichter, fragt Seelsorger und Ärzte, sie alle, die in ihrem Wirkungskreise immer wieder auf die Spuren dieser literarischen Seuche stoßen, fragt sie, ob sie der Meinung sind, hier dürfe noch länger gezögert und zugewartet werden! Nicht Literaten und Künstler dürft ihr fragen, am allerwenigsten solche, die selber Partei sind und Grund haben zu der Befürchtung, ihnen selber könnte durch ein Abwehrgesetz die Geschäfte gestört werden. Es ist bewußte Irreführung, wenn behauptet wird, Österreich stünde, wenn es solche gesetzliche Schutzmaßnahmen schüfe, in der ganzen Welt vereinsamt, gewissermaßen am Pranger, da. Was geschah vor etlichen Monaten im freien Amerika? In New-York wurden die Schauspieler und Schauspielerinnen, die an einer Aufführung des pornographischen Stückes The Pleasure Man von Miss West am Baltimore-Theater mitgewirkt hatten, verhaftet, und der New-Yorker Bürgermeister, Walker, gab im Anschlusse an diese Verhaftungen folgende Erklärung ab: „Das Vorgehen der Polizei tut das, da unsere Behörde entschlossen ist, Aufführungen unmöglich zu machen, die derart die Gesetze verhöhnen. Auf unseren Bühnen wird es keine Vorführungen mehr geben, die Themen von solcher Sittenlosigkeit behandeln, daß man sie nur als unanständig bezeichnen kann. Bei meinem Feldzug gegen die unanständigen Theaterstücke auf den New-Yorker Bühnen rechne ich auf die Unterstützung aller Behörden und aller Privatleute.“

             Als es kürzlich den Wiener Katholiken durch machtvolle Protestkundgebungen gelang, die Aufführung der gotteslästerischen Komödie Ehen werden im Himmel geschlossen von Hasenclever zu verhindern, las man in den linksgerichteten Zeitungen wieder das Lied von der „klerikale Unduldsamkeit“. Ist es nicht überduldsam, daß die Aufführungen von Stücken wie Die Dreigroschenoper oder Die Verbrecher monatelang widerspruchslos hingenommen werden? Ein Beispiel wirklicher Unduldsamkeit in Kunstdingen ereignete sich vor wenigen Wochen in Köln. Dort wurde am Stadttheater das Drama Die Laterne von Ilgen gespielt, aus dem man angeblich an einigen Stellen eine antisozialistische oder antikommunistische Tendenz heraushören kann. Die Kommunisten veranstalteten einen wüsten Theaterskandal und nun verlangte die sozialistische Rathausfraktion von dem Intendanten Modes, er müsse das Stück unter Aufsicht des marxistischen Theaterdezernenten umarbeiten. Modes fügte sich dem Diktat, doch es nützte ihm wenig, denn auch die umgearbeitete „Laterne“ wird immer noch von Kommunisten gestört, die auf den Galerien randalieren und mitten während der Vorstellung die „Internationale“ singen. Und ist das etwa duldsam, wenn der von dem berühmten französischen Filmregisseure Jacques Feyder gedrehte Film Die neuen Herren (nach der gleichnamigen Komödie von Flers), in welchem die Unfähigkeit eines vom einfachen Arbeiter plötzlich zum Minister beförderten Sozialdemokraten humoristisch glossiert wird, auf Betreiben der Sozialisten in ganz Frankreich verboten wurde? Aus Furcht vor politischen Kundgebungen lehnte auch die „Ufa“ für Deutschland diesen Film ab, der jetzt endlich unter amerikanischer Flagge seinen Weg machen wird.

             Wer die Entwicklung unserer Bühnenliteratur, die immer hemmungsloser auf Verherrlichung und Gutheißung alles Krankhaften, Lasterhaften, Verbrecherischen ausgeht und zugleich jede zur Warnung oder Ahndung berufene Autorität zu untergraben trachtet, jahraus, jahrein beobachtet, der muß als richtig bestätigen, was die Wiener „Reichspost“ nach der Verbrecher-Erstaufführung schrieb: Die Schaffung des Gesetzes zur Abwehr von Schmutz und Schund ist eines der dringendsten Gebote der Stunde geworden.

In: Schönere Zukunft, Nr. 34, 26.5. 1929, S. 719f.

Erich Kühn: Nostra maxima culpa

Zum Thema: „Am Sterbebett der deutschen Seele“. – Triumphe des jüdischen Schrifttums.

Was den ›Erfolg des jüdischen Schrifttums‹ anbetrifft, so wäre dazu zu bemerken: Ein hoher Prozentsatz von Theater, Presse, Verlagsanstalten, Depeschenagenturen und Schriftstellern ist unter ausschlaggebendem jüdischen Einfluß.  Gleich einem dichten Netz kontrollieren und beherrschen sie, eng Hand in Hand arbeitend, Kunstmarkt und öffentliche Meinung. Sie unterdrücken das Aufkommen jedes nach deutschen Begriffen wertvollen Kunstwerkes, während der ganze Apparat in geschicktester Weise zur Reklame für jedes jüdische Geisteserzeugnis gebraucht wird. Mit einer sehr klugen Kunstpolitik wird jedes aufstrebende bedeutende Talent auch aus anderen Reihen rechtzeitig in das jüdische Lager geholt und so in jüdischem Sinn ›entgiftet‹. Hier versagt der Deutsche im Gegensatz zum Juden vollständig […] von einer ›Kunstpolitik‹ kann im nationalen Lager überhaupt noch nicht die Rede sein, schon weil man dort die Kraft und Wichtigkeit des geistigen Arbeiters vielfach gar nicht richtig wertet. Die Forderung, man möchte in unserem Lager zunächst einmal angesichts des Erfolgs des jüdischen Schrifttums die eigene Leistung steigern, ist gewiß berechtigt. Einen Erfolg wird das aber erst erzielen, wenn man auf unserer Seite einen Apparat ähnlich dem jüdischen geschaffen hat […] Weites ist zu untersuchen, welche Triebe denn eigentlich das jüdische Schrifttum so erfolgreich beim Deutschen spekuliert. Da ist es eine alte Klage, daß es alle die Werte herunterreißt und zerstört, die dem Deutschen seit je teuer und heilig sind; Gott, Vaterland, Ehe, Familie[…] kann der Jude in seinen Theaterstücken, Romanen und Witzblättern nicht genug beschmutzen. […] Alles in allem kann man wohl behaupten, daß der jüdische Literat seine Erfolge häufig mit dem erzielt, was Eduard Heyck sehr treffend ›Geschmacksunterbietung‹ nennt.1 Er wendet sich gern an die niederen Triebe und Instinkte, deren ›Ausleben‹ ihm höchster Diesseitszweck ist. Auch diese Neigung wurzelt natürlich in seiner ganzen Geistigkeit. Karl Marx hat bekannt: „Suchen wir das Geheimnis des Juden nicht in seiner Religion, suchen wir das Geheimnis der Religion im wirklichen Juden“. Welches ist der weltliche Grund des Judentums? Das praktische Bedürfnis, der Eigennutz! Ganz folgerichtig ist es daher, wenn der hochbegabte jüdische Dichter Arthur Schnitzler in seinen Schauspielen es mehrfach ausspricht, daß die Ordnung in uns etwas Künstliches, das Natürliche – das Chaos sei. Man muß und darf daraus ohne weiteres schließen, daß dem Juden der dem Deutschen ursprünglich eingeborene Trieb nach Ordnung, Recht, Maß, Selbstbeherrschung, Niederhalten der minderwertigen Instinkte, den alle unsere maßgeblichen Dichter preisen, artfremd ist. Das mag zugegeben werden, dass der Jude nicht anders wirken kann, wie er es tut. Doch unsere Pflicht der Selbsterhaltung gebietet es, uns mit allen Mitteln gegen einen Geist zu wehren, der unserem Wesen widerspricht. „Was euch nicht angehört, müsset ihr meiden. Was euch das Innere zerstört, dürft ihr nicht leiden“ sagt Goethe, der sicher nicht nur zufällig der Gestalt des Mephisto viele jüdische Züge verliehen hat.

In: Schönere Zukunft, 26. 9. 1926, S. 1248 2


  1. E. Heyck (1862-1941): Kulturhistoriker, Schriftsteller, Herausgeber, Archivdirektor, Privatgelehrter, Burschenschafter, Schwiegersohn des Schriftstellers Wilhelm Jensen, 1886f. Dozent u. Ao. Professor für Geschichte an der Universität Freiburg/Br., Hg. des Allgemeinen Deutschen Kommersbuch; 1898 Palästinareise, seit 1909 nur mehr Privatgelehrter in der Schweiz, 1937 von Hitler die Goethe-Medaille verliehen erhalten.
  2. Replik und Kommentar zu: Börries Freiherr von Münchhausen: Vom Sterbebett der deutschen Seele. In: Schönere Zukunft, Nr. 48, 5.9.1926, S. 1179-1180.

N.N. (= Friedrich Austerlitz): Das blutige Gespenst

Die Habsburger haben unser Volk in den Höllenrachen des Krieges hinabgestürzt, ihre Flucht ließ hier eine Wüste wirtschaftlicher Zerstörung, Tod, Hunger und Elend zurück. Doch nun soll gerade das Verbrechen den Verbrecher krönen. Aus unserem Hunger, aus unserer frierenden Not wollen die Monarchisten dem wiederkehrenden Karl seinen Thron zimmern. Das klingt wie hirnverrückter Widersinn, aber in Ungarn ist es doch bereits zur Tat geworden. Dort steht die Monarchie zugerichtet und fertig gebaut und harrt nur des Monarchen. Das vom Kriege entkräftete, durch alle Tollheiten politischen  Irrwahns müde gehetzte ungarische Volk ist so völlig seiner Macht der Selbstbestimmung entkleidet, so völlig durch die Banditenschar monarchistischer Söldner geknechtet, dass es schweigend zusehen muß, wie der Urheber aller Schmach als Retter in den Straßen ausgerufen wird. Und auch bei uns redet und raunt man von der rettenden Monarchie, die Verzweiflung soll auch an uns ihr Werk vollbringen. Von unserem Hunger nährt der Habsburger an seinem Flüchtlingshof seine liebsten Hoffnungen; unser kalter Herd, der Frost unserer ungeheizten Stuben wärmt wohlig sein einstweilen in Ruhestand versetztes liebenden Vaterherz.

Und er hofft nicht allein, freut sich nicht allein unseres Siechens und Hinsterbens. Nicht als ob die Wiederkehr der Habsburger irgend jemandem Herzenssache wäre. Noch nie ist eine Monarchie gefallen, die so wenig echten Royalismus im Lande ihrer einstigen Herrschaft zurückgelassen hätte. In Frankreich brannte das Feuer des legitimistischen Fanatismus hundert Jahre nach und ist jetzt noch nicht gänzlich erloschen; in Deutschland ist es die tiefernste Ueberzeugung vieler, dass nur das hohenzollerische Kaisertum die deutsche Einheit würdig verkörpert hat.  Von solchen Verirrungen des Herzens und des Verstandes brauchen wir hierzulande nichts zu besorgen. Die Habsburger verkörperten keines Volkes Sein und Wesen, im kalten Herrscherhochmut schwebten sie über allen „ihren“ Nationen, hatten an der Entwicklung, an dem Sehnen und Drängen keiner einzigen inneren Anteil, und so gibt es denn auch nirgends in ihrem einstigen großen Reiche Menschen, die aus uninteressiertem Empfinden, aus innerem Gefühl Anhänger der gefallenen Dynastie wären. Der Sturz dieses mehr als sechs Jahrhunderte alten Geschlechts hat kein Auge feucht gemacht.

Nicht die Herzen und die Ueberzeugungen haben sich zu Gunsten Karls verschworen, aber eine Koalition alles Gemeinen, Niedrigen und Verworfenen in unserem Lande ist für seine Wiederkunft geschäftig. Was der Vermögensabgabe entfliehen möchte, was um den Ertrag des Kriegswuchers bangt, was die „Begehrlichkeit“ der Arbeiter möchte „in Schranken gewiesen sehen“ und den alten Zustand des Fabriksdespotismus zurückwünscht, was aus der Herrschaft der Kirche in Schule und Familie seinen Vorteil zieht, der Kastengeist entlassener Söldlinge, bürokratischer Ranghochmut, dem ein freies und gleiches Volk Aergernis ist: all das wirbt heimlich und offen für die Monarchie und nimmt fröhlich die Not des Volkes und seine Verzweiflung zum Bundesgenossen. Die Verlogenheit der bürgerlichen Presse, die die Folgen der wirtschaftlichen und geographischen Unmöglichkeit unseres Scheinstaates in Sünden und Unterlassungen der Republik und in Verbrechen der sozialistischen Arbeiter umdeutet, ist sich ihres Zieles und Zweckes wohl bewußt. Die auf der Schädelstätte unseres Elends die Monarchie wieder aufrichten wollen, täuschen sich am allerwenigsten darüber, dass der Monarch an unseren  wirtschaftlichen Nöten nichts ändern kann, daß kein Krümchen Brot und kein Stückchen Kohle mehr ins Land kommen würde, wenn die habsburgische Sippe wieder einzieht. Allein wozu braucht es Brot und Kohle, wenn ein Monarch waltet, den eine schlagkräftige Prätorianergarde umgibt, nach der Art, wie sie Horthy gebildet? Ein hungerndes und frierendes Volk ist nur fürchterlich, wenn es durch Freiheit und Demokratie die Macht hat, die Folgen der allgemeinen Notlage allen aufzuerlegen. Schützt jedoch eine Horthysche Truppe die Kassen der Reichen vor den Notsteuern einer zusammenbrechenden Wirtschaft und den Unternehmer vor den Lohnforderungen der von der Teuerung gepeinigten Arbeiter, dann mag in seinen Stuben das Volk erfrieren und auf den Straßen vom Mangel entkräftet hinsinken: die Bourgeoisie wird diesem Schauspiel aus sicherer Ferne zusehen. Für die Reichen wäre eine auf Söldner gestützte Monarchie tatsächlich der Retter in der Not, der vollgültige Ersatz für Brot und Kohle.

Und dennoch und trotz der breiten Massen Gedankenloser, die im Wirtshause, auf der Straße, im Tramwaywagen murrend und maulend die Schmähungen der Reaktionäre auf die Republik in armseliger Torheit nachsprechen, ist die habsburgische Restauration eine totgeborne Idee. Man proklamiert sie in Budapest und intriguiert für sie in Wien. Aber Budapest und Wien sind die beiden einstigen Hauptstädte eines Reiches, dass nicht mehr ist und niemals mehr sein kann. In Budapest wie in Wien waren sich die früher machthabenden und jetzt nach der Restauration lüsternen Kreise niemals der wahren Grundlagen ihrer Macht bewußt, und haben, scheint es, auch durch den Zusammenbruch keine bessere Klarheit gewonnen. Weil sich in diesen beiden Städten eine Großmacht darstellte, in allen ihren Attributen sichtbar war, meinte man, hier sei ihr Sitz und ihre Grundlage. Doch nicht einmal Herzpunkte der großstaatlichen Macht, wie dies doch die Kulturzentren nationaler Staaten sind, waren jemals Budapest und Wien. Die Gebiete, aus denen Österreich ausschließlich, Ungarn zum großen Teil ihren wirtschaftlichen Reichtum, ja ihre wirtschaftliche Daseinsmöglichkeit zogen: die Sudetenländer, Galizien, Siebenbürgen, Kroatien, das Banat, sie lagen stets und liegen heute erst recht außerhalb der geistigen Einflußphäre der einstigen Hauptstädte, ehedem nur durch äußere Machtmittel an diese Mittelpunkte, die nie Anziehungspunkte ihres inneren Lebens und Werdens sein konnten, gebunden. Weil dem aber so ist, so fallen auch die Hoffnungen, die in Deutschösterreich die reaktionäre auf die horthysche Reaktion setzen, in nichts zusammen. Mag die monarchistische Intrigue über die deutschen und magyarischen Sprachgebiete hinaus an der Eifersucht einzelner slowenischer Volkskreise, an der slowenischen Unzufriedenheit Anhalt und Anknüpfung suchen: indem sie hier überall die reaktionär=klerikalen Strömungen aufsucht, regt sie den tschechischen und den südslavischen  Selbstständigkeitsdrang um so lebhafter gegen sich auf und erweckt sie zu desto früherer und kräftigerer Abwehr. Eine habsburgische Monarchie auf das wirtschaftliche Unvermögen der Magyaren und der deutschen Alpenlande, auf die beiden ihrer Existenzgrundlagen beraubten Millionenstädte ohne Hinterland, Wien und Budapest, gegründet, wäre ein Unding, eine Todgeburt. Aber der Habsburger könnte die Budapester oder die Wiener Hofburg nicht betreten, ohne dass sein Erscheinen an diesen alten Städten der Macht, in den alten Zentren einer Herrschaft der Völkerbedrückung, alle die einst bedrückten Völker zu einem Bunde der Abwehr zusammenschweißte.

Eine habsburgische Restauration mag sogar gewissen nationalistischen reaktionären Kreisen in Paris wohlgefällig sein, sie mögen ein wiederhergestelltes Habsburgerreich als Glied an der Kette wünschen und denken, die sie würgend  dem deutschen Volke um den Laib legen wollen. Aber darum ist dieses alles doch nur ein Traum ohne alle Möglichkeit der Verwirklichung. Am Eingang der Monarchie stünde ein Krieg an allen Grenzen, stünde der Kampf gegen eine Koalition, unter deren Druck am ersten Tag die Kraft der beiden verstümmelten, lebensunfähigen Rumpfstaaten zusammenbräche. Im Blut eines Weltkrieges ist das völkerknechtende Haus der Habsburger untergegangen. Den Versuch seines Wiederaufbaues würden die Fluten eines neuen Koalitionskrieges wegschwemmen.

In: Arbeiter-Zeitung 23. November 1919, S. 1f.