Alfons Wallis: Kunst und Sozialismus. Offener Brief an den Herausgeber

                        Sehr geehrter Herr!

            In Ihrer Ansprache an die Fachgruppe der Künstler und Schriftsteller der Sozialistischen Vereinigung geistiger Arbeiter, in der ganzen Diskussion jener Versammlung, schien mir dieses verwirrend vermischt: die neue Einstellung zu einer veränderten Wirtschaftsform, eine Neueinstellung, die der Künstler natürlich wie jeder aus jedem anderen Beruf vornehmen muß: das zweite aber wäre jener Umstand, der mir allein das Recht auf den Titel „sozialistischer Künstler“ zu verleihen scheint; eine sozialistische Geistigkeit, Nerven und Gestaltungskraft, die ihren Motor in einer sozialistischen Kultur haben. Da ich unter den Berühmtesten unserer Zeit so wenige weiß, deren Mentalität sozialistisch ist, fürchte ich, daß Sie auch unter den weniger Berühmten allzu wenige dieser Art finden werden. Diejenigen aber, die eben auch in einem sozialistischen Staat leben wollen, womöglich besser leben wollen, deren Geistigkeit, deren Werk aber etwa aus einer aristokratischen, einer bürgerlichen und namentlich aus gar keiner Kultur stammt, werden offenbar recht zahlreich zu Ihnen gehen. Zum Nutzen des Sozialismus? Keinesfalls zum Nutzen der Kunst.

            So werden wahrscheinlich der Vereinigung sozialistischer Künstler die einzig Wichtigen fehlen: die Künstler, denen Sozialismus innerstes Erlebnis ist, nicht günstige und günstigere wirtschaftliche Tatsache. Erlebnis ist aber ein Metaphysikum, das man wohl schwerlich beschwören kann. So erschien es einigermaßen merkwürdig, als ein Kunsthistoriker in einer Versammlung ernstlichst vorschlug, durch theoretische Vorträge in Vereinigungen von Malern und Musikern Künstler für den sozialistischen Geist zu gewinnen. Wäre es mehr als ein verzweifeltes Wahlmanöver, hätte es etwas mit diesen Menschen in ihrer Eigenschaft als Künstler zu tun? Wer dürfte es wagen, „den Teil der Künstlerschaft, der heute noch dem Sozialismus fernsteht, in unser Lager zu ziehen“? Übrigens wird der Geist der sozialistischen Kultur wie der jeder anderen, seine eigene Kunst schaffen, seinen Künstlern wird er neue Lebensmöglichkeit, neue Vitalität sein, er ist in Gerhart Hauptmann, in Käthe Kollwitz, in manchem anderen Künstler von heute; aber vom Standpunkt der Kunst selbst ist natürlich eine sozialistische keineswegs wertvoller als eine adelige oder bürgerliche. Jede neue Zeit ist der Tod der Kunst des vergehenden Zeitalters: eine Fülle Herrlichkeit versinkt, weil andere Menschen sind, denen sie unnotwendig geworden ist. Die neue Kunst wird aber immer kommen, sobald sie ein Naturbedürfnis ist.

            Während mir dieses Ziel Ihrer Vereinigung, dem Sozialismus fremde Künstler in sozialistische zu verwandeln, weniger gefährlich denn unmöglich erscheint, so sehe ich in der wirtschaftlichen Organisation keine ganz harmlose, übrigens nicht neue Angelegenheit. Unverhältnismäßig viel Gleichgiltiges und Unfähiges wird geschützt, anstatt bekämpft zu werden. Es gilt eben das in diesem Fall Nichtssagendste, rein manuelle: Feder und Pinsel. Was wiegt der Fall auf, daß auf dem Theater zu X ein unerkanntes Genie um 100 Kronen monatlich spielen muß, verglichen mit der Tatsache, daß sich jährlich Hunderte Unfähiger zur Bühne drängen, weil es leichter ist als Postamt und Büro. Und sollte selbst um der wenigen Auserwählten willen der ganzen Masse ein Privileg erteilt werden, so wäre dem Mann, auf den es ankommt, erst recht wenig geholfen: er schriebe noch immer für die Schreibtischlade und wäre unerkannt wie zuvor. Da ist kein Unterschied zwischen einem kapitalistischem und einem sozialistischen Staat, übrigens ist die Not der Künstler wohl durch eine Überproduktion zu erklären. Es ist nicht wahr, daß das Volk nach Mozart schreit und „Torquato Tasso“, nach Schönberg und Spitteler. (Gern nimmt man das als Vorwand bei all den Versammlungen). Wie sollte auch für die Krönung einer Kultur Interesse vorhanden sein, wenn deren Fundamente wanken, wenn nicht ihre primitivsten Voraussetzungen vorhanden sind? Kunst ist das Endprodukt einer Kultur, sie muß aus dem Glück, der Fülle, dem Überfluß einer Klasse, eines Volkes wachsen. So brachte ein reiches Bürgertum kein kleines an Kunst hervor. Was kann der Künstler schon heute fordern vom sozialistischen Staat? (Welch kühnes Vokabel im Feber 1919!) Sein Tag wird kommen, wenn aller Tag kommt. Und bis dahin?

            Es war von einem Kunstministerium die Rede. Einer unserer berühmtesten Musiker sagte in dem Gespräch: „Was könnte ein Staatssekretär für Musik anderes tun, als sich um die bessere Ausnützung der Wasserkräfte für industrielle Zwecke zu kümmern?“

            Wer von den Künstlern dazu Mut und Kraft verspürt, der arbeite mit, nüchtern, sachlich, in der Partei, im täglichen Leben! Die übrigen mögen wie bisher weiterarbeiten: malen, komponieren, dichten. Und schweigen!

In: Die Wage. Eine Wiener Wochenschrift, Nr. 7, 14.2.1919, S. 160-161.

Max Adler: Die Aufgaben der marxistischen Arbeiterbildung

Aus einem Vortrag, gehalten auf der Landestagung der Arbeiterbildungsausschüsse Sachsens in Dresden am 12. und 13. Mai 1926. Der Vortrag erschien vor kurzem als Broschüre im Verlag des sächsischen Landesausschusses für sozialistische Bildungsarbeit. – In Österreich ist die kleine Schrift durch die Wiener Volksbuchhandlung, Wien VI, Gumpendorferstraße18, zu beziehen. [Anm. d. Red.]

Arbeiterbildung muß gesellschaftliches Wissen sein

            Die Arbeiterbildung hat seit jeher ein Hauptinteresse der sozialistischen Arbeiterbildung ausgemacht, ja man kann sagen, daß die Entwicklung des Sozialismus als proletarische Massenbewegung zusammenfällt mit dem Streben des Proletariats, sich aus eigener Kraft zur geistigen Selbständigkeit und Höherbildung zu entfalten. Und daher gehören ja auch die Arbeiterbildungsvereine überall zu den ältesten Organsationen des sozialistischen Proletariats.

            Hiebei tritt aber gleich von allem Anfang an ein bemerkenswerter Umstand hervor, welcher den Bestrebungen der Arbeiterbildung ihren besonderen Charakter gibt und sie sofort scharf von der bloß bürgerlichen Aufklärung und Volksbildung unterscheidet. Es handelt sich nämlich bei den Bildungsbestrebungen des Proletariats überall nicht bloß um die Ergänzung der nur allzu kärglichen Schulbildung, also nicht bloß um die Ausbildung oder Fortbildung in den allgemeinen Schulfächern, sondern gerade um das, was in dem traditionellen Schulunterricht nicht bloß der Volks-, sondern auch der höheren Schulen gar nicht gelehrt wird. Der gesamte traditionelle und offizielle Unterricht kennt bisher die Wissenschaft lediglich als Naturwissenschaft. Und so ist die wissenschaftliche Bildung, die er vermittelt, auch im wesentlichen eine bloß naturwissenschaftliche. Nur die Gesetze des Naturgeschehens kommen als wissenschaftliche Lehren in Betracht; daß es aber auch Naturgesetze des gesellschaftlichen Lebens und des geschichtlichen Werdens und Vergehens gibt, davon ist in dem bürgerlichen Schulunterricht keine Rede. Gerade aber die Sozialwissenschaft interessiert den Arbeiter am meisten. Denn wenn auch die Gesetze, nach welchen die Körper zu Boden fallen, natürlich auch für den Proletarier interessant und wichtig sind, weil sich auf deren Kenntnis erst das Verständnis der Natur und der menschlichen Technik aufbaut, so knüpft doch noch ein viel tieferes Interesse, nämlich das Interesse seines Lebensschicksals, an die Erkenntnis jener Gesetze, welche die Gestaltung der Gesellschaft und ihre notwendige Entwicklung in die Zukunft bestimmen. Die Arbeiterbildung ist daher von allem Anfang an mehr als bloße naturwissenschaftliche oder geographisch-geschichtliche oder ästhetisch-literarische Bildung gewesen. Sie ist vor allem auf die Erkenntnis der gesellschaftlichen Welt, in der das Proletariat lebt, gerichtet gewesen und hat in erster Linie nach sozialwissenschaftlicher Vertiefung gestrebt. Und sie konnte das, weil die großen Begründer des modernen Sozialismus, Marx und Engels, zugleich auch die großen Schöpfer der modernen Sozialwissenschaft geworden sind. Denn der eigentliche Sinn und das eigentliche Ziel der wissenschaftlichen Arbeiten von Marx und Engels ist die Erforschung der Gesetze des gesellschaftlichen Lebens und seiner Entwicklung. Dies führte in spezieller Anwendung auf die heutige Form der Gesellschaft, das heißt auf die kapitalistische Gesellschaft, zur sozialwissenschaftlichen Darlegung des Wesens der kapitalistischen Wirtschaft und ihrer notwendigen Entwicklung zur sozialistischen Gesellschaft.

So ist die Arbeiterbildung im Sinne der sozialwissenschaftlichen Aufklärung und Schulung zu einer Hauptgrundlage des modernen Sozialismus geworden, und mit vollem Rechte haben Marx und Engels diesen daher den wissenschaftlichen Sozialismus genannt. Damit ist zum Ausdruck gebracht, daß einer der Hauptfaktoren der revolutionären Einstellung des Proletariats  gegen die bürgerlich-kapitalistische und nicht bloß die gefühlsmäßige Auflehnung gegen die ökonomische Ausbeutung und politische Unterdrückung ist, sondern ebenso auch die wissenschaftliche Erkenntnis der notwendigen Mängel und Widersprüche der bürgerlischen Gesellschaft sowie der Mittel ihrer Überwindung. Und daher kommt es, daß die Bildungsorganisationen des Proletariats nicht geringere Mittel seines revolutionären Klassenkampfes sind als die politischen, gewerkschaftlichen und genossenschaftlichen Organisationen. Ja man darf sagen, daß in der gegenwärtigen Lage des Sozialismus die Bedeutung der Bildungsorganisationen immer mehr anwächst und gar nicht hoch genug veranschlagt werden kann.

Deshalb ergibt sich als dringendste Forderung des Tages die marxistische Bildung der Arbeiterklasse zu vertiefen und zu verbreiten. Das ist also die erste große Aufgabe der marxistischen Arbeiterbildung, den Proletarier  in den wissenschaftlichen Geist des Sozialismus einzuführen, hiedurch das proletarische Denken über die eigentlichen Interessen und Ziele der Proletariats  aufzuklären und das proletarische Fühlen zu stärken und damit das revolutionäre Klassenbewußtsein in der Arbeiterschaft allgemein zu machen.

Klassenkampf ist Kulturentwicklung

Es wird eine der großen Aufgaben der marxistischen Arbeiterbildung sein, den weitverbreiteten Vorwurf von Kulturlosigkeit, ja Kulturwidrigkeit des Klassenkampfes als das zu erweisen, was er wirklich ist, ein durchaus bürgerliches Vorurteil und Unverständnis. Freilich, wenn man sich unter Klassenkampf nichts anderes vorstellen mag als bloßes Toben und Wüten gewalttätiger Durchsetzung von Klasseninteressen, bei dem nur der Zufall der brutalen Übermacht entscheidet, dann ist es kein Wunder, daß bei einer solchen Anschauung der Klassenkampf als etwas durchaus Kulturfeindliches erscheinen muß. Aber diese Anschauung ist vom Standpunkt des Marxismus aus einfach lächerlich. Sie haftet bloß an der oberflächlichen Außenseite des Klassenkampfes, die allerdings noch zumeist den Mantel der Gewalt getragen hat.

Aber trotz dieser Unvermeidlichkeit von Gewalt im Klassenkampf bleibt der Klassenkampf selbst doch in seinem Wesen etwas durchaus Geistiges. Es handelt sich in erster Linie bei ihm um einen Bewußtseinsumwälzung bei den Menschen der aufsteigenden Klasse, es handelt sich darum, daß sie zum Träger einer neuen Gesellschaftsordnung, eines neuen gesellschaftlich-moralischen Prinzips werden, wo wie dies bereits ein anderer großer Lehrer des Proletariats, Ferdinand Lassalle, als das eigentliche Wesen der Revolution geschildert hat. Denn Revolution und revolutionärer Klassenkampf bedeuten nicht, wie Lassalle gespottet hat, die Spießbürgervorstellung von Barrikaden, Guillotine und an die Laterne geknüpften Gegnern, sondern diese Worte bedeuten den Einzug eines neuen Prinzips in die Köpfe und Herzen der Menschen , durch welches die alten  Vorstellungen und Zustände von Grund aus verändert werden. So betrachtet und so verstanden – er kann aber gar nicht anders richtig verstanden werden – , verliert also der Klassenkampf ganz und gar seinen brutalen und ungeistigen, ja kulturwidrigen Anschein. Er wird vielmehr jetzt ein Stück ringender Kulturentwicklung selbst und dabei zu einer Gewähr eines sicheren Fortschritts in der Geschichte.

Der proletarische Klassenkampf muß revolutionär sein

Diese Auffassung vom Klassenkampf in den Gemütern des Proletariats lebendig zu machen, wird eine Hauptaufgabe der marxistischen Arbeiterbildung sein. Sie muß die Erkenntnis verbreiten, daß der Klassenkampf ein revolutionärer sein muß, sie muß das Klassenbewußtsein des Proletariats zu einem revolutionären  Bewußtsein ausgestalten. Denn auch das ist wichtig: Nicht schon jeder Klassenkampf des Proletariats, nicht schon jede energische Vertretung seiner Klasseninteressen ist revolutionärer Klassenkampf. Revolutionär wird er erst, wenn eben jenes neue Gefühl des Denkens und Fühlens, von dem Lassalle sprach, also ein neuer Geist des Kampf des Proletariats beherrscht, welcher mit allen den Einrichtungen und Vorstellungen des alten kapitalistischen Welt von Grund aus brechen will.

Der Proletarier, der von solchem revolutionären Geiste durchdrungen ist, der ist selbst bereits innerlich von der alten Gesellschaft losgelöst, in der er äußerlich noch leben muß, er ist ein neuer Mensch geworden, der die alte Gesellschaft haßt und nicht ruhen kann, bis sie vernichtet ist. So bedeutet der Klassenkampf im marxistischen Sinn erst dann etwas Revolutionäres, wenn nicht bloß für die Besserung der Klassenlage des Proletariats gekämpft wird, sondern für die Beseitigung derselben. Und die Freiheitsbewegung des Proletariats beginnt nicht schon dort, wo bloß um politische und gewerkschaftliche Freiheiten gekämpft wird, sondern erst, wo darüber hinaus die Befreiung von dem Joche der Klassengesellschaft und der Aufbau einer neuen sozialistischen Welt erstrebt wird. Den Sinn für diese neue Gesellschaft in den Proletariermassen zu verbreiten, die geistigen und moralischen Energien  in ihnen zu wecken und zu fördern, welche notwendig sind, um das Alte zu überwinden und das Neue aufzubauen, das macht das innerste Wesen des revolutionären Klassenkampfes aus. Er ist, wie wir jetzt zusammenfassend sagen können, der stete Erneuerer der menschlichen Gesellschaft, weil er immer wieder die neuen Menschen schafft, welche die Gesellschaft erneuern wollen und müssen.

Die marxistische Arbeiterbildung schafft neue Menschen

Wenn wir alle die großen Aufgaben der marxistischen Arbeiterbildung in einen Gedanken zusammenfassen wollen, so ergibt sich dafür kein besserer und hinreißenderer Ausdruck als der, den der junge Marx für sein eigenes revolutionäres Gedankenwerk gefunden hat: „Reform des Bewußtseins.“ Schon am Anfang seiner gewaltigen Geistesarbeit schrieb er es nieder, daß das, was uns bitter not tue, eine Reform unseres Bewußtseins sei, das heißt, die Arbeiterklasse müsse sich ein neues Bewußtsein verschaffen, zu welchem sie durch die Erkenntnis von der Gesellschaft und den Gesetzen ihrer Entwicklung gelangen werde. Diese Erkenntnis wird, davon war Marx fest überzeugt, in den Arbeiterköpfen kein totes Wissen bleiben, sondern sich notwendig in zielbewußte, befreiende Tat umsetzen müssen. Eine solche Erkenntnis zu verbreiten und eine solche Tat mögliche zu machen, die kein zufriedenes Ausruhen gestattet auf dem Schatz erworbenen Wissens, sondern unablässig hinaustreibt, die gesellschaftlichen Konsequenzen  dieses Wissens zu ziehen und mit Entschlossenheit zu verwirklichen. Diese Konsequenzen führen zum Sozialismus. Und so wird das Licht des Marxismus nicht nur in unseren Köpfen die Helligkeit verbreiten, die jede Wissenschaft erzeugt, es wird auch in unseren Herzen das Feuer der Begeisterung erwecken und die Kraft entzünden, die immer unwiderstehlicher die alte Gesellschaft hinwegfegen und die neue heraufsteigen lassen wird.

In: Bildungsarbeit, Nr. 1 (Jänner) 1927, S. 1-3.

Bruno Adler: Kunstwerk und Publikum. (Zur Ausstellung Johannes Itten)

            Eine Ausstellung von Gemälden, Zeichnungen und Plastiken von Johannes Itten, den manche zu den bedeutendsten Erscheinungen der modernen Kunst zählen, ist beinahe etwas wie eine Sensation für das Wiener Kunstleben gewesen. Mehr läßt sich über ihre Wirkung noch nicht aussagen; wenn aber die Einstellung der zünftigen Kunstkritik jener des Publikums beiläufig entspricht, dann ist alles beim alten geblieben: Impotenz, die gerade noch die Kraft zu einem Wutausbruch aufbringt, das bodenlos alberne Gewitzel der Feuilletonisten, Snobismus, der sich noch nicht ganz sicher fühlte und vereinzelt die vergebliche Mühe der Gutmeinenden. Es wird nicht lange dauern, bis der wie nur je talentierte Nachwuchs der jungen Maler die Folgen dieser Ausstellung sinnfällig dokumentieren wird.

            Jetzt, da sie geschlossen ist, über ihre Werke zu berichten, wäre nur dann nicht wertlos, wenn Worte imstande wären, ein Bild nachzubilden. Gewiß, auch eine verständnisvolle Bildbeschreibung, wie sie andernorts versucht wird, nützte vielleicht dem Beschauer, in den sich das Lied der Linie und der Farben Chorgesang wie ein Erlebnis eingeprägt haben; doch wird er kaum zu finden sein. Da nun aber an diesen Werken die vielfältige Problematik, die das Verhältnis des Publikums zum Künstler kennzeichnet, akut wird, und weil die Kluft zwischen diesem und seinem Zeitgenossen so groß geworden zu sein scheint, daß ein paar Druckseiten vom Verstand williger aufgenommen werden als alle Kraft und Reichtum gestalteten Lebens von der Seele, werde diese Ausstellung zum Anlaß, mit ihrer Erklärung auch einer Klärung jener Beziehung zwischen Kunst und Publikum zu dienen.

            Es ist eine fundamentale Erfahrung aller Kunstpädagogik, daß die Werke der neuen Kunst – dieses irreführende Schlagwort gebrauche ich nur, um mich nicht eines noch schlechteren bedienen zu müssen; natürlich ist das wesentliche dieser Kunst nicht das Neue – daß diese Werke dem Beschauer solange stumm und unverständlich bleiben, als er sich nicht des Wustes liebgewordener ästhetischer Vorurteile und Mißverständnisse entledigt, der ihm jede Möglichkeit einer freien inneren Bewegung benimmt. Die pietätlose Beseitigung jener Irrtümer aus Gewohnheit ist die erste Aufgabe und die einzige, die die Hilfe des Intellekts in Anspruch nimmt. Ist sie gelöst, so ist zugleich das Kunstempfinden des Menschen von aller doktrinären Gebundenheit befreit, gelöst und fernerhin auf nichts als seine Intensität angewiesen. Trotzdem schwätzt jedermann heute von der Unrechtmäßigkeit einer Kunst, die einer theoretischen Ausdeutung bedürfe und beruft sich auf sein allein maßgebliches Empfinden, ohne zu bedenken, mit welcher Unsumme von Verstandesvorurteilen belastet er unter fast völliger Ausschaltung ursprünglichen Gefühls an die Betrachtung des Kunstwerks herangeht. Er verlangt von der Kunst „Schönheit“, weil ihm die sogenannte Ästhetik, eine Pseudowissenschaft, die es einmal gegeben hat, ein verbrieftes Recht darauf gibt; er will ein Stück Natur im Kunstwerk wiederfinden; will etwas erfahren, sich dabei etwas denken, ja er will sogar erfahren, was er sich dazu denken soll, und er will sehen, was er selbst schon gesehen zu haben, also zu wissen glaubt. Noch mehr, unendlich vieles fordert er vom Kunstwerk und findet er seine Forderungen befriedigt, dann erst kommt das Gefühl, das sich bei ihm nicht früher einstellt, auf seine Kosten. Wenn aber der Künstler ihn nur um eines bittet: Folge mir, fühle mit mir, gib dich, befreit von allen Denkgewohnheiten, ganz meinem Werke hin, gib dich hin an das Leben der Formen, verliere dich im Reich der Farben, – dann zieht sich der Gefühlsmensch empört in seine Gehirnzellen zurück. Und ruft nach der Ästhetik wie nach der Polizei.

            Die allgemeine Verbildung hat jedem Pedanten das Maß gegeben, mit dem alle Kunst gemessen werden könne und das Recht zu solchen Unfug nahm er sich selbst. Da entfernte sich die Kunst von den Menschen, bis sie sie nicht mehr sahen. Und heute ist sie, wie der größte Maler unserer Zeit, Cézanne, dieser einfache große Mensch, gesagt hat, zu einer Angelegenheit geworden, die sich nur an eine äußerst beschränkte Zahl von Individuen wendet. Und damit meinte er nicht, daß nur wenige von uns gescheit genug seien, seine Bilder zu verstehen, sondern weil die Zahl derer gering ist, die nicht festgerannt sind in einem Aberglauben, nicht vertrocknet im Konventionellen, nicht in einer ungeistigen Gebundenheit gelähmt, weil die von aller Verbildung bewahrten, innerlich ganz freien, schwingenden, in der unmittelbaren Wirklichkeit des Lebens atmenden Menschen, weil die Menschen – Kinder Gottes, aufhebend alle Gegensätzlichkeit in der Einheit schöpferischen Lebens – selten sind, darum gibt es keine Kunst für die Allgemeinheit. Es ist eine Antwort auf viele Fragen: wie jede Kunst gibt auch die sogenannte neue, an der nichts neu ist wie ein tiefer Ernst, reiner Wille, unbedingte Strenge und Reinheit der Gesinnung, nur jenem alles, der mit gleicher Unbedingtheit denkt, fühlt, lebt; der aber zur Ausnahme geworden ist wie der Künstler. Daß diese einzige Forderung des Kunstwerks, die an die ungetrübte Geistigkeit des Menschen, sich stärker vernehmlich macht, als man gemeinhin glaubt, beweist ein sich mit der Kraft gesetzmäßiger Notwendigkeit wiederholendes Phänomen. Niemandem, auch dem gründlichsten Verächter des Kitsches nicht, wird es passieren, daß er z. B. in den Ausstellungen der Künstlergenossenschaft einen Wutanfall erleidet; mehr als einen leichten Ekel vor der Langweile dieser leeren Betriebsamkeit wird er schwerlich spüren. Nun beobachte man aber, was deren Autoren und Anhänger vor den Werken der Jungen aufführen; wie da ruhige Familienväter, besonnene Geschäftsleute und Kunstfreunde toben, in blinde Raserei verfallen, den Weltuntergang heraufbeschwören, wie der Anstrich der guten Erziehung plötzlich abfällt und der ganze bürgerliche Ungeist zuinnerst getroffen sich auslebt. Seit Kokoschkas erstem Auftreten kennen wir diese Exzesse der soliden Leute, ihre wilden Tänze, Beschädigung der ausgestellten Bilder, spontane Infamien und überlegte Gemeinheiten – sichtbarste und hörbarste Antwort auf jene Zumutung des Künstlers, die den ganzen Menschen, sein bestes Fühlen, sein blankes Leben beansprucht und statt dessen auf den Verdiener trifft und den Genießer; der nun, ahnungslos, höchstens dunkel eine Gefahr witternd, die die armseligen Inhalte seiner Existenz bedroht, wehrt sich solcherart, gibt vor, den guten Geschmack oder ein ästhetisches Ideal zu verteidigen und ahnt kaum, um wieviel näher er der Wahrheit kommt, wenn ihm, wie es häufig zu geschehen pflegt, der beliebte Ausdruck für alle Schrecken des Endes entfährt: Bolschewismus!

In: Die Wage. Eine Wiener Wochenschrift, Nr. 23, 6.6.1919, S. 565-567.

Raoul Auernheimer: Düstere Weihnachtsstücke

      Die beiden jüngsten Neuheiten des Deutschen Volkstheaters: Lenormands „Die Namenlosen“ und Schönherrs „Es“ gleichen in nichts jenen ebenso rosigen als wohlfeilen Weihnachtsengeln, wie sie ansonsten im Christbaumschmuck unserer Theater um diese Zeit aufzutauchen pflegten. Es sind zwei düstere Nachtstücke, die uns, jedes in seiner Art, einen schmerzlich tiefen Einblick in schauerliche Abgründe des Lebens eröffnen; und die, indem sie in ihrem Kolorit ziemlich weit von der hergebrachten Schablone grundlos vergnügter Weihnachtsstücke abweichen, auch in technischer Beziehung neue Wege einschlagen. Schönherrs Drama bestreitet den dramatischen Haushalt mit nur zwei Personen; Lenormand im Gegenteil löst die herkömmliche Aktgliederung nach dem Vorbild der Russen und anderer jüngerer Dramatiker in eine lockere Bilderreihe auf. Beide Dichter bleiben dabei dem Theater nichts schuldig; sie geben starkes Theater, ja sogar bewährtes Theater, dessen motivische Verzahnung und Verkettung jeden mystischen Schwindel ausschließt. Aber sie versuchen zugleich, die konventionelle dramatische Form zu durchbrechen: Lenormand, indem er sie auflöst, Schönherr, indem er sie zusammendrückt. Beide Dichter machen auf diesem Wege allerhand Erfahrungen, und der Zuschauer macht sie, höchst angeregt, mit ihnen.

      Karl Schönherr gebührt als dem heimischen Meister der Vortritt. Sein soeben aufgeführtes Drama „Es“, dessen Titel aus zwei Buchstaben und dessen Personal aus zwei Figuren besteht, ist ein Unikum dramatischer Oekonomie. Es gleicht jenen allerwinzigsten Uhren, sie in einem Schirmgriff oder in einer Krawattennadel untergebracht sind, und die trotzdem gehen. Ein Kunststück noch mehr als ein Kunstwerk, ist es zugleich ein solches und schon dadurch bedeutend, daß es ein an sich bedeutendes Problem dramatisch entfaltet.

      Das Problem läßt sich mit den Worten umschreiben: Sind tuberkulöse Eltern berechtigt, Kinder in die Welt zu setzen? „Er“ – Schönherr treibt in diesem Stücke seine an Kargheit grenzende Sparsamkeit so weit, daß er den beiden Personen, die er einführt, nicht einmal mehr Namen gibt – verneint diese Frage kategorisch. Er ist Arzt und auf Grund langjähriger Untersuchungen zu der für ihn unumstößlichen Erkenntnis gelangt, daß, wer an Tuberkulose erkrankt, immer auch entweder einen tuberkulösen Vater oder eine tuberkulöse Mutter hatte. In dreihundert Fällen seiner  Praxis hat er diesen Zusammenhang ganz schlüssig erwiesen und die logische Folgerung seiner Beobachtung in einer Schrift niedergelegt, deren rücksichtsloser Wahrheitsmut in dem Axiom gipfelt: „Wer ärztlich nicht gesund befunden, ist von der Ehe fern zu halten. Wer erbkrank schon im Mutterleib, darf nie in die Welt hinein.“ Aber während die wissenschaftliche Arbeit, in der er diese grausame These erhärtet, in Druck gelegt wird, geschieht etwas, was sein ganzes Leben aus den Angeln hebt. Der zweiunddreißigjährige Mann, der sich in der letzten Zeit von einer langsam zunehmenden Müdigkeit beunruhigt fühlt, läßt eine mikroskopische Untersuchung anstellen, aus der für ihn mit unzweideutiger Gewißheit hervorgeht, daß er selbst von Tuberkulose befallen ist. Und gleichzeitig muß er erfahren, daß seine Frau sich Mutter fühlt.

      Der erste und zweite Akt sind der langsamen, technisch meisterhaft durchgeführten Entschleierung dieser doppelten Voraussetzung gewidmet; der dritte beginnt, das Problem zu entwickeln. Mann und Frau verändern sich unter der Einwirkung des drohenden, unverhofften „Es“. Der Mann ist bereit, seiner Theorie nachzuleben; oder sollte er vielleicht „zurückkriechen“, jetzt, da es ihm „ans Nackte geht?“ Täte er das, so wäre er kein Schönherrscher Held. Die Frau, aus dem Pflegerinnenberufe hervorgegangen und mit allem Jammer der Krankenbetten vertraut, ist theoretisch der gleichen Meinung; doch eben nur theoretisch. Da die Wirklichkeit an sie herantritt, strickt die Häubchen für das zu Erwartende und läßt ihren tuberkulösen Mann weiter sein klinisches Material sichten und sammeln. Der aber wäre nicht, der er ist, wenn er, den Umständen Rechnung tragend, auch nur um Haaresbreite zurückwiche; im Gegenteil, er geht vor. Zu der wissenschaftlichen Überzeugung gesellt sich die Rechthaberei und jener Tiroler Eigensinn, den wir an den Schönherrschen Helden kennen; zum Eigensinn die Grausamkeit, die allen Gefühlseinwänden gegenüber taub und stumm bleibt. Anstatt sich mit der Frau durch Gründe und Gegengründe zu verständigen, tut er, aus Sittlichkeit, etwas, was kaum noch sittlich zu nennen ist: er narkotisiert sie und nimmt ihr, in der Narkose, das im Entstehen begriffene Kind.

      Die Frau genest nach dem Eingriff, aber noch im Halbschlaf, aus der Betäubung erwachend, errät sie, was mit ihr geschehen. Von Stund` an ist es einziges Streben, ihn, den sie nur noch mit schneidendem Hohn „Vater“ nennt, noch einmal zum Vater zu machen. „Was die Frau will, will Gott“, sagt ein französisches Sprichwort; und so gelingt ihr auch das trotz seines sittlichen Widerstrebens und obwohl die ihn verwüstende Krankheit bereits einen rettungslosen Verlauf nimmt. Im fünften Akt, nach Fertigstellung seines Werkes, beschließt er, seinem verlorenen Leben freiwillig ein Ende zu machen. In demselben ärztlichen Ordinationszimmer, in dem alle fünf Akte nacheinander spielen – ein technisches Meisterstück, durch das sich der Dichter seine Aufgabe noch erschwert – sehen wir den einsamen Doktrinär der Tuberkulosebekämpfung den selbstgemischten Gifttrank mit den unerbittlichen Worten: „Was gesund ist, soll leben!“ an die Lippen heben. Aber da er sich nachher in Krämpfen windet, hört er nebenan seine Frau jungem Mütterglück entgegensingen. Er erahnt den Zusammenhang ihres Singens mit jenem Fehltritt, zu dem sie ihn wider seine bessere Einsicht verleitet hat, und er ruft sie in seiner Todesangst herbei, um sich das Gegengift von ihr reichen zu lassen. Aber sie reicht es ihm nicht; für das Kind unter ihrem Herzen fürchtend, läßt sie lieber den geliebten Mann sterben. So steht Mord gegen Mord und das „es“ gegen das „wir“: das „es“ erweist sich als stärker. Mit dem Worte „Mutter!“ verhaucht der Arzt in den Armen seiner Frau, die im Verhauchen dem ihn niederdrückenden Bewußtsein, ein „Krankes und Schwaches“ in die Welt gesetzt zu haben, die tröstlichen Worte entgegensetzt: „Wo Krankes ist und Schwaches, da tun sich Herzen auf. Werden Hände hilfsbereit. Immer wieder krankes Leben und immer wieder neue Liebe. …“

      Man kann diesem dichterisch ersonnenen Vorgang die tragische Schlüssigkeit ebensowenig wie den hohen sittlichen Ernst absprechen; dennoch bleibt es, auf der Bühne, ein ersonnener Vorgang. Daran vermochte auch die Kunst des Schauspielers nichts zu ändern. Herr  E d t h o f e r,  der nach zwei Jahren der Trennung von seinem Publikum ernster und gleichsam auch körperlich größer geworden, zu uns zurückkehrt, gibt mit einem ergreifenden Ernst und nicht ohne Größe den in seiner Theorie verstrickten Arzt. Frau  H ö f l i c h  verficht ihr Mutterrecht durch alle fünf Akte mit überwältigender Innigkeit; sie nimmt das letzte Wort des Schauspielers vorweg und ist von dem ersten Atemzug angefangen, den sie auf der Bühne tut, mehr Mutter als Frau. Trotzdem will sich die richtige tragische Ergriffenheit nicht einstellen, und der Zuschauer hat trotz aller angewandten Kunst und technischen Meisterschaft das Gefühl, eher einem vivisektorischen Versuch als einer Tragödie beizuwohnen.  Schönherrs Arzt hat recht, aber es genügt nicht, wenn ein tragischer Held recht hat, er muß immer auch noch etwas mehr als recht haben. Uebrigens: Auch Schillers Tuberkulose war höchstwahrscheinlich ererbt. Wäre darum der Menschheit ein Dienst erwiesen, wenn es einer fortgeschrittenen ärztlichen Wissenschaft gelungen wäre, sein Inslebentreten zu verhindern? Gewiß nicht der Menschheit und – obwohl man das Glück, ein großer Dichter zu sein, vermutlich nicht überschätzen darf – wahrscheinlich nicht einmal ihm selbst.

      […]                                                                                                                                                  R. A.

In: Neue Freie Presse, 27.12.1922, S. 1-3.

Albert Paris Gütersloh: Wer ist der Mörder

Auf die Frage, wer die Schuld trüge an dem Blute, das am Tage der Verkündigung des republikanischen Staates vor dem Wiener Parlament geflossen ist, gab eine ungefragte Wiener Abendzeitung die schwere, in ihren Beweggründen gar nicht so leicht zu begreifende Antwort: die Schriftsteller Dr. Franz Blei, P. Gütersloh, Erwin Kisch und Franz Werfel, Soldaten, alle Soldaten des ehemaligen k.u.k. Kriegspressequartiers sogar – ein sozialistischer Katholik, ein dezidierter Christ, ein Sozialdemokrat und ein Weltfreund, diese also seien schuld. Eine Anklage, wie sie schwerer gegen einen Menschen nicht erhoben werden kann, schwer auch dann noch, wenn man mildernd, das heißt der  Wahrheit nur die halbe Ehre gebend meint, dadurch nur, daß wir die sogenannte Rote Garde gegründet hätten – die weder Werfel, noch Blei, noch ich »gegründet« haben – dadurch allein hätten wir auch jene schlimmen Schüsse abgefeuert, in deren Folge zwei Menschen das Leben verloren. Welch unmittelbare Wirkung auf das Böse, auf den Hahn noch einer Büchse – noch immer gesetzt, ich wäre einer der geistigen Urheber des Schießens – traut uns ein Mensch zu, der unsere Wirkung im Guten, eine Einflußsphäre überhaupt zu haben, unter friedlichen Umständen glatt geleugnet hätte! Welchen Einfluß will man jetzt plötzlich der Literatur unterschieben, den Dichtern, deren Weltfremdheit bisher der sicheren Bürger, deren Unverständlichkeit das gönnerhafte Gauidum der ihrer Verständlichkeit sicheren politischen Machthaber jeder Richtung war? Macht man uns nur deswegen um einen einen Kopf größer, um uns köpfen zu können? Denunziert man die Literatur, die Kunst nur deswegen jetzt eines Einflusses überhaupt, um dereinst witzig sagen zu können, man hätte die geistigen Werte nicht unterschätzt. Kann diese Schätzung der geistigen Werte wirklich nur als Denunziation in ängstliche Bürgerköpfe geflüstert werden und als maskierter Aufruf nur zu Bürgerkrieg und Pogrom?

In: Die Rettung, Nr. 2, 13.12.1918 (neuerlich in: J. Adler, Hg.: Allegorie und Eros. Texte von und über A. P. G., München: Piper 1986, S. 69-70)

Ann Tizia Leitich: Gasolin-Nomaden. Amerikanische Wandervögel im Automobil

            Sie waren mir schon neulich aufgefallen, auf dem herrlichen Chrystal Park Highway, der beständig steigenden Automobilstraße, die sich zwischen den Zinken der Rocky Mountains hindurchwindet. Und ich sah sie den nächsten Tag wieder auf dem Sky Line Drive, der das Raffinierteste ist, das Auto, Mac Adam und die Landschaft mitsammen ausgeheckt haben: eine Betonautostraße, die am Grat eines Bergzuges hinbalanciert und das Land links und rechts unter sich läßt wie ein Luftschiff. Immer fand ich sie hinflitzend neben den touristenbeladenen und doch behenden Autobussen.

            Fast sahen sie aus wie wandernde Zirkusleute: Wettergepeitscht die Wagen, staubbedeckt; rückwärts hatten sie, wenn es ging, einen Koffer aufgeschnallt und seitwärts auf dem Trittbrette waren große Segeltuchpakete verstaut. Manchmal sah dies sportmäßig genug aus; oft aber war die Packung nachlässig, Decken guckten heraus, Kochtöpfe, Tischbeine. Im Innern des Wagens – denn immer ist es ein geschlossener Car, weil es unter tausenden in Amerika kaum einen offenen Touringcar gibt – ein Gewirr von Köpfen: die ganze Familie ist auf der Reise. Wände und Fenster sind beklebt mit buntem Zettelwerk: „Willkommen in Zion National Park!“ „Laßt es euch wohlergehen in Mammoth Camp -“und noch andere Aufschriften. Ja, so weit waren sie schon herumgewesen; denn dies sind die „Tin-can“-Touristen (von tin-can = Konserve). Die Sage-Brusher oder, ins Deutsche übersetzt, die Gasolinnomaden, die Wandervögel im Automobil.

            Sie brauchen keine Eisenbahn, keine Hotels, keine Garage; die brauchen nichts als Gasolin; und Straßen. Mit beidem versorgt sie Onkel Sam – so nennt der Volksmund die USA. Denn die Gasolinstationen dringen in die einsamsten Gebirgsgegenden vor, so weit eben die Straße läuft. Und die läuft weit dahin und hoch hinauf. Es ist immer wieder ein Erlebnis für den Europäer, zu sehen, wie viel Hunderte und Tausende von Kilometern herrlicher makadamisierter Straßen es in Amerika gibt, nicht nur in der Umgebung von Industriezentren, sondern bis hinein in die gottvollste Wildnis. Manche folgen, gleich den Eisenbahnen, den alten Indianerwegen, den alten Kampwegen; „trails“ heißen sie im amerikanischen, wie jeder Karl-May-Leser weiß: Der Apache Trail, der Sunset Trail, der Uta Trail. Viele Millionen von Dollars geben die amerikanischen Staaten jährlich für die Straßen aus, denn je mehr ein Staat von sich hält, desto größeren Stolz setzt er in seine Straßen. Und jung wie sie sind, halten sie alle viel von sich.

            Indem sich die Straße dem Automobilisten zur Verfügung stellt, erschließt sie den Augen der Menge die gloriosesten, die mächtigsten Bilder der amerikanischen Landschaft. Es gibt solche, die da sagen werden: Entweihung! Vielleicht würden sie sich aber bedenken, wenn sie wüssten, daß auch sie anders als auf der Automobilstraße diese Schönheiten nie erreichen könnten, weil es zu kostspielig wäre, zu langwierig, zu umständlich, denn weder unsere Geduld, noch unsere Herzen sind die der alten Trapper und Pioniere. Und wer die Natur allein für sich haben will, hat mehr Gelegenheit denn je: ein paar Schritte weg von der Straße und er findet sie unberührt, ursprünglich und einsam.

            Die großartige Einsamkeit der amerikanischen Landschaft hat etwas Düsteres, manchmal sogar Fürchterliches. Drei Tage und drei Nächte westlich von Newyork gibt es nichts als lachende, langweilige weizen- und maisbebaute Ebenen. Aber hinter Denver in Kolorado, bis zum Pazifischen Ozean, entfaltet sich eine Herrlichkeit des Gebirges, eine Mannigfaltigkeit der Formen und Erscheinungen, eine Perlenreihe von großartigen Gegensätzen, wie sie Europa in dieser Vielfalt nicht aufzuweisen hat. Was sollen überhaupt vergleichende Worte: So sehr Vergleiche zwischen der amerikanischen Psyche und der europäischen immer hinken werden, so wenig läßt sich die amerikanische Landschaft mit Ausdrücken werten, die für die europäische gelten. An ihrer fürstlichen Einsamkeit vermögen auch Autos und Menschen nichts zu ändern; unberührt thront sie darüber; sie lädt nicht zum Verweilen.

            Vielleicht kommt daher die Ratlosigkeit – die allerdings ohne jeden philosophischen Beigeschmack ist – die dem Amerikaner im Blut sitzt; vielleicht ist deshalb Ford der reichste Mann der Welt; deshalb das sommerliche Amerika überschwemmt von diesen modernen Nomaden, den Tin-can-Touristen, die sich auf dem Vehikel der vielgeschmähten Mechanisierung eine ungeheure Natur zum zweitenmal erobern und in ihrer Hingegebenheit an die Köstlichkeit der „great open spaces“ sogar auf den vielbewitzelten Grundstein amerikanischer Zivilisation, das Badezimmer, verzichten. Sie interessierten mich, braungebrannt, abenteuerlustig, oft grotesk, wie sie waren. Ich ging hinzu, wenn sie kampierten, photographierte sie, kam ins Gespräch; wurde zu ihren improvisierten Mahlzeiten eingeladen. Denn das ist eine einfache Sache bei ihnen, für sie gehören alle zur Familie, denn alle tummeln sich auf demselben großen, herrlichen Spielplatz.

            Im Paradiestal Auto-Camp standen viele Hunderte – vielleicht waren es auch Tausende – von Cars auf einer Lichtung mitten im Hochwald, im Angesichte des vergletscherten Mount Rainier. Es war gegen Abend und es war kühl nach einem prachtvollen Sonnentag auf über 2000 Meter Höhe. Das Camp machte den Eindruck eines Feldlagers, eines Volksstammes auf der Wanderung. Männer und Frauen in Khaki-Knickerbockers und Blusen; manche der Frauen in einer beispiellosen Dreß-Melange: Knickers und Seidenbluse und darüber einen alten, halblangen Zibetkatzen-Pelzmantel. Das war „Mainstreet“ auf der Tour.

            Zelte wurden aufgeschlagen, Decken, Schlafsäcke aufgerollt, Tische, Stühle, Feldbetten aufgestellt. Manche der Autos blieben frei stehen, über andere wird die Hälfte des Zeltes gezogen, so daß Zelt und Auto ein Appartement für sich bilden. Der Kerosinofen wird instand gesetzt oder ein offenes Feuer entzündet; schon schlängelt sich blauer Rauch in die dünne, scharfe, herrlichstille Luft, zwischen den wettergepeitschten Kiefern empor; das frische Holz knistert und duftet; der Hund, der im Wagen mitkam, umwedelt die Kochkiste; die Kinder necken ein Murmeltier, das, offenbar zahm geworden durch die vielen Besucher des Sommers, ganz nahe ans Feuer herankommt; der Herr des Hauses – Verzeihung, des Automobils – schuppt eine große Seeforelle, die er, in hohen Kautschukstiefeln bis übers Knie im Wasser stehend, heute nachmittag gefangen hat. Fischen ist frei in allen Nationalparks, und dieses ist der Rainier National Park im Staate Washington. Seine Frau steht bei einem Baum mit einem Becken, sie dreht einen Hahn – fürwahr, es kommt Wasser aus dem Baum, denn der Brunnen ist eine der Gaben des Auto-Camps für seine Gäste; die Katze schleicht ihr nach, denn nicht einmal sie hat man zu Hause gelassen.

            Es ist ein junges Paar, das mich auf Forellen mit Rohscheiben und gebackenen Konservenbohnen eingeladen hat. Sie haben weder Kind noch Katze und Hund, aber dafür die smarteste Campausrüstung, alles Kahki, Aluminium und Rohr; wetterfest, leicht, zusammenklappbar; sie haben sogar einen Eiskasten und eine Badewanne. Sie sind keine Snobs, ganz im Gegenteil, es ist ihnen heiliger Ernst mit diesem Leben. Seit vier Monaten haben sie unter keinem Dach geschlafen, und als sie es das letztemal taten, war es in Phönix, Arizona, wo der Mann, der gelernter Mechaniker ist, vierzehn Tage lag arbeitete, um Geld für Gasolin zu haben, zwanzig Cent die Gallone. Denn viel anderes brauchen sie nicht. Ein Jahr lang sind sie schon so auf der Reise, Winters im Süden, Sommers im Norden, Fische und Beeren ihre Hauptnahrung.

            Während sie noch von den Plätzen erzählten, die sie gesehen hatten, und der junge Mann, an einer kurzen Pfeife nagte, in der weder Feuer noch Tabak war, die Flamme anheimelt prasselte und über den zackigen Silhouetten der nachtdunklen Kiefern die Kolossalfigur des Mount Rainier weißverschleiert wie ein Phantom im Mondlicht aufstieg, begann es plötzlich in die Stille hinein zu quiecken, zu quäcken, zu schnarren. Kein Zweifel, das war Jazz. Und schon stand auch die junge Frau in ihren Khaki-Knickers auf und sagte: „Karl, komm, gehen wir tanzen!“

            Tanzen? Sie hatte wahrhaftig recht. Am anderen Ende des Camps stand das „Community House“, eine Halle aus Balken. Hier gab es Schaukelstühle, ein paar Zeitungen, ein Grammophon. Und die Jugend tanzte. Und Damenwahl und Herrenwahl war ganz unkonventionell. Das Community House gehörte allen sowie das Camp, und es war da, damit man einander kennen lerne. Diese jungen, gebräunten, gesunden Leute zu sehen, die sich hier zusammenfanden – es versöhnte einen fast mit dem Kreischen des Jazz im Angesichte der weißen Majestät Mount Rainiers.

In: Neue Freie Presse, 12.1.1928, S. 1-2.

Ernst Decsey: Der „Blaue Vogel“

Das russische Kabarett in den Kammerspielen

            Der ›Blaue Vogel‹ bedeutet: das fröhliche Rußland. Es gibt nicht nur ein Rußland der Hungernden, Frierenden und Verzweifelten, nicht nur eines der legendären Talglichtesser, sondern auch eines, das lacht, trotzdem und trotzdem. Man denkt bei den Drolligkeiten dieser Kleinkunst fortwährend an finstere Volkskommissäre, Sowjet, Bolschewistengreuel, glaubt, das Lachen sei den Leuten dort längst vergangen, sieht aber die triumphierende, ›breite Natur‹ der Russen, und freut sich: Lachenkönnen bedeutet Lebenskraft.

            Einreiseschwierigkeiten haben dem ›Blauen Vogel‹ Reklame gemacht, und man sieht überrascht: es gibt Reklame sogar für reizende, anständige, eigenartige Dinge sowie es Protektion bei wirklichen Talenten geben soll.

            Schon die erste Nummer des russischen Kabaretts ›Der Tanz der holländischen Fayence‹ bestätigt es, denn er schlägt ein – jedoch die allererste Nummer des Kabaretts ist jemand andrer: der Direktor J. Jushnij. Ein sehr eleganter Herr tritt vor den braunen Vorhang, sagt in russischer Belautung barocke Dinge, die man in Berlin, wo er damit Furore machte, ›Dalbern‹ nennt – kurz, er zeichnet sich durch schlechte Witze und einen prachtvoll sitzenden Frack aus, was den Ausschlag gibt, denn schon, schon hat er die Damen am Bändel…

            Der Conférencier und Direktor soll dem Publikum die Einstellung geben, das pointenlose Volkskabarett erklären: aber Jushnij, ein gelehrter Schüler Mephistos, weiß, worauf es ankommt: „vor allem lernt die Weiber führen!“ Und er führt sie. Am Schluß klatschen sie nach seinem Kommando, hören nach seinem Kommando auf, singen auf Befehl russische Lieder mit, sprechen ihm russische Worte „toddellos“ nach, obwohl nach Jushnijs Versicherung Russisch nur in den ersten zehn Jahren schwer zu lernen ist. Humorlose Männer wehren Herrn Jushnij zuerst innerlich ab – sprechen dann aber auch Russisch und finden sein Deutsch, die angekündigten „Kostjume“ der „Dammen“, entworfen vom unausprechlichen Chudjakow, klassisch. Das ist die erste Nummer des Kabaretts: Herr Jushnij persönlich, der wahrscheinlich die deutsche Muttersprache trefflich beherrscht…

            Um auf die tanzenden Fayencen zurückzukommen: man sieht einen blauen Riesenteller mit zwei Delfter Figuren, die zum Leben erwachen und auf malerische Art tanzen. Das ist sehr nett, allein deshalb brauchte es noch keine Paßschwierigkeiten zu geben. Ebensowenig der „Abendglocken“ wegen: ein Mönch, an einem Baumstamm gelehnt, sieht ein erleuchtetes Kloster in der Ferne und singt ins melancholische Geläut der Glocken eine melancholische Romanze. Nun?

            Da, beim „Streletschek“ bekommt man die Einstellung. Der „Streletschek“ (Jägerlein) ist ein froschgrün gekleideter, märchenblonder, bauchiger, safranbärtiger Jägersmann, der auf drei russische Mädel Jagd macht, hinter ihren sehr roten, sehr blauen, sehr gelben Schürzen her ist, augenzwinkernd, schwerenöterig, siegesgewiß, bis er das Unglück hat, bei einer davon zu „siegen“. Mit bedauernder Geste segnet den Verlorenen der  Conférencier…Dann sieht man, was man noch nie gesehen hat: die deutsche und die russische Kneipe. Ein tollfarbiges Tableau zeigt ein expressionistisches Wirtshaus, Tisch, Bänke, Würste, Krüge, Gäste und deren Köpfe, in der Fläche verteilt, beginnen die Augen zu drehen, die Münder gehen auf, und in kräftigem Unisono erschallt: „Mädel, ruck-ruck-ruck an meine grüne Sei-ei-te, i hab‘ di gar so gern, i kann di leide…“ Die Künstler stehen hinter dem Tableau, stecken durch Oeffnungen die Gesichter ins Bild, lustige Fratzen mit einem rotumalten Aug‘, einer schachbrettgemusterten Backe, einem grün geränderten Mund. Und nun wird das Ganze ins Russische übersetzt, ein russisches „Madel  ruck-ruck-ruck“ gesungen. Ein Hallo des Publikums folgt: es hat verstanden, hat eingeschnappt.

            Das scheint sehr primitiv, und ist es auch: nichts als ein dramatisches Volkslied.  Ein Gassenhauer, von Farben umkränzt. Aber derlei primitive Angelegenheit sucht der Russe eben im Kabarett. Der Pariser späht nach gespitzten Bosheiten, sättigt sich an graziösen Verhöhnungen des öffentlichen Lebens. Der Münchner Kabarettgeist trachtete den Philister durch Exzentrik  zu bluffen, die dem Leben ausgetrieben war. Der Russe will sich einlullen. Das Leben vergessen. Durch holde kleine Thorheiten. Es genügt ihm, das Lied der Kathinka auf der Bühne zu sehen. Rechts sitzt der Vater mit dem großrussischen Portiersbart, links die Mutter mit dem bäuerlichen Riesenkopftuch, in der Mitte sitzt die strohblonde Kathinka  mit den bastumwickelten Beinen und singt ihre Polka: Sie verkehrt mit Offizieren, hat jetzt Manieren, will deshalb heiraten, biegt die elterlichen Vorwürfe um, versichert augenblicklich zu sterben, bis sie Segen und Einwilligung erhält und alle drei anstimmen:  Seht mal her, seht mal her, ach wie ist das Leben schwer, alles muß sich, wie Sie sehen, jetzt im Polkatakte drehen…

Einfach, nicht wahr? Aber immer ist die russische Kunst volkhaft. Man hört eine Symphonie von Tschaikowsky, westliche Kultur in drei Sätzen, sogar Salon; aber das Scherzo ist Volk, ist russische Erde. Und der ›Blaue Vogel‹ ist das Scherzo des russischen Lebens.

Nur wurde das Primitivste in die radikalste Formen- und Farbenkunst gestellt – die Kostjume von Chudjakow zierten jedes expressionistisches Bilderbuch – und sie akzentuieren, gerade mit ihrem Raffinement, wieder das allerprimitivste: wie ein blühender Acker im Frühjahre mit Mohnblume, Wicke und Kornblume wirren die farbigen und beborteten Kleider der Frauen Kommissarshewskaja, Torkaskaja und der anderen Künstlerinnen mit und ohne Kaja.

Für Damen ein weites Beobachtungsfeld. Um so mehr, als an dessen Rand niemals die Zote auftaucht. Niemals, auch nur von fern, die gewisse Glocke läutet. Keinerlei Anspielung über die keuschen Ohren gleiten: es geht auch so, sogar ohne aufgeschlagenes Bett.

Einmal sieht man einen mit Trauben beladenen Esel, auf dem ein Tatar sitzt und von einer Kamelkarawane phantasiert: „ein Kamel, zwei Kamele, drei Kamele, vier Kamele, fünf Kamele…“ Zierlich erscheinen auf einem Fenster der Hinterwand die Umrisse von Miniaturkamelen im Gänsemarsch: ein Kamel, zwei Kamele…, sechs Kamele. Man ergötzt sich, weiß nicht warum, lacht mit und rechnet sich zum siebenten Kamel. Man sagt: Blödsinn. Ja, im ›Blauen Vogel‹ wird man naiv wie ein Muschik.

Einmal sieht man dramatisierte alte Romanzen, ein Rokokopaar, das einem Rokokospieler am Spinett zuhört, findet es nichtssagend und hält es für ein Werk Kitschikows… dann entzückt man sich an den adretten Zinnsoldaten, ihren gepluderten linnenweißen Hosen, den Marionettenrucken ihrer Füße, den violetten Kinderflinten, den Naturlauten des kommandierenden Leutnants und ist betört: „O selig, o selig, ein Kind noch zu sein…!“

Dann verulkt russische Naivität den amerikanischen Merkantilismus. „Sie“ ist Besitzerin eines Wäschestores, „er“ Inhaber eines Makkaroni-Imports. Er droht, sich mit dem Revolver zu töööten, wenn sie ihn verschmääääht, worauf sie die Situation und die Geschäfte rettet, ja sagt und eine Kompagniefirma gründet. Drei Boys, Chor rechts, drei Mannequins, Chor links, wandelnde Annoncen plappern dazu unaufhörlich die Reklame: Firma, Straßennamen, Hausnummer, Telephon. Der Selbstmord und die Hochzeit als Geschäftstrick. Amerika auf die einfachste Formel gebracht. Triumph der russischen Kinderaugen, die der Welt verborgenste Dynamik durchschauen.

So steht Szene an Szene, ohne Zusammenhang, was dem Denkapparat willkommen ist. Es gibt nichts zu verstehen, nichts mißzuverstehen, man sieht Farben, Kostüme, Blödsinn, Exoten wie Spielzeug, das ganze Leben scheint Spielzeug, und nie sieht man einen Versager: die Regie arbeitet sicher und heimlich wie die russische Justiz, und immer ist die Musik, die Golgotzy am Flügel spielt, von Jushnij. Immer von ihm, Jushnij macht alles. Macht auch die große Stimmung, bis das Publikum ohne Gage mitspielt, worauf es bekanntlich beim Kabarett ankommt.

Ihm muß auch ein großrussischer Schnapstrinker mit Zigeunern im lieben alten Moskau Spaß machen. Wir wußten damit nichts Rechtes anzufangen, dachten an Figuren aus Raskolnikow und an Väterchens sehr unromantisches Alkoholverbot. Jushnij tut entzückt. Er vergoß eine heimliche Träne beim Namen des „alten lieben Moskau“, wie Wiener beim Namen des alten lieben Wien, und zeigt sich auf stürmisches Verlangen bereit, die Sache zu wiederholen: „Morgen nämlich, meine Cherrschaften, morgen…bei nechste Vorstellung.“ Womit man zugleich eine Probe vom Witz des ›Blauen Vogel‹ hat, dessen Geheimnis die raffinierteste Primitivität ist, sozusagen: die Simplicitas russkaja.

In: Neues Wiener Tagblatt, 2.12.1922, S. 2-3.

Hermann Bahr: Katholische Musik

Österreich, unser altes Österreich, ist zur Zeit nur noch als Musik vorhanden; in seiner Musik bleibt es unsterblich. Ja, rein erkennen lernen wir ihre letzten drei großen Erscheinungen, Bruckner, Hugo Wolf und Mahler erst jetzt.  Als Vorzeichen, Verheißungen, Beginner von etwas, das erst kommen sollte, galten sie, Zukunft schienen sie zu bedeuten, in die Zukunft immer zu deuten, aber sie waren das Ende, sie waren der letzte Gruß, mit dem Österreich zärtlich Abschied nahm, Abschied von sich selbst, sie waren die Todesverklärung.

            Ihrer Zeit stießen alle drei ja zunächst wie Wagner, ihr gemeinsamer Meister, auf denselben erzürnten Haß des liberalen Bürgertums. Dieser Haß hatte seinen guten Grund; nur gab er falsche Gründe vor. Er gab vor, das „musikalisch Schöne“ zu schützen; er gestand vielleicht nicht mal sich selber ein, daß es ihm um Schutz vor Musik überhaupt ging, vor dem Wesen der Musik, durch das sich das Geldbürgertum in dem seinen bedroht sah.

            Man hat Baukunst erstarrte Musik genannt und so kehrt, was einst Fischer von Erlach und Hildebrand in Stein erstarren ließen, unter Mozarts wachküssendem Anhauch wieder ins Element der Töne zurück: fließendes Barock ist unsere Musik von Anbeginn; indem barocker Augenschein zur Ohrenlust wird, entsteht sie, sei’s im Volksmund, sei’s nun kunstbewußt.

Dies geschieht eben zu der Zeit, als Österreich schon leise sich selbst zu verleugnen beginnt: das Barock fühlt seine Welt wanken, da rettet es sich in Musik. Musik ist die letzte Zuflucht des alten, des rechtgläubigen, des heroischen Österreich; in Musik verborgen hofft es sich noch aufzubewahren, darum kam auch der junge Mozart dem Kaiser Josef gleich so verdächtig vor. In Gluck noch voll Stolz und erhabener Macht, rauscht es in Schubert schon stiller, wie Sterbensdrang, und diese Wehmut klingt ahnungsvoll bis in Strauß und Lanner hinein. Inzwischen ist ihm ein Todfeind erwachsen: dem metaphysisch gesinnten Barock, das in den vorübergehenden Gestalten dieser Welt das Bild der ewigen Wahrheit nur trüb gespiegelt sieht, tritt der Geldbürger entgegen, der für wahr nur anerkennt, was sich bar vorzählen läßt, der Mensch der Ziffern, der Mensch der völligen Abstraktion, des Absehens und Weghörens von allem, was nicht in Ziffern zu verwandeln ist. Dieser große Falschmünzer des Lebens, Unkünstler und gar Unmusiker von Geburt, bedient sich nun aber der Methode, was er seinem Wesen nach verneinen muß, immer zunächst zu „beschützen“, ja zu tun, als wenn jetzt er erst es seiner wahren Bestimmung zuführen würde. So hat er die Geschichte des Abendlands, das Mittelalter, die Renaissance, unsere klassische Dichtung, Goethe vor allem, und den Geist der deutschen Philosophie so von Grund aus umgefälscht, bis zuletzt alles nur auf ihn zu zielen, die ganze Weltgeschichte nur ihn vorzubereiten, ja der Weltgeist im Geldbürger zu gipfeln und mit dem Geldbürger der Sinn aller Zeiten erfüllt schien. Und so macht er uns auch eine Musik eigener Art, seine, des geborenen Widermusikers, Musik vor, die sich zu wahren verhält wie das Ringstraßenpalais zur Baukunst. Die großen Wahrheiten zunächst niemals zu leugnen, sondern sich ihnen anzubiedern, hinterrücks aber in aller Stille Gift ins Herz zu spritzen, war überall seine Methode. Nur der ungeheuren Seelenkraft Wagners gelang es, die deutsche Musik zu retten; war man doch damals schon eben dabei, selbst Beethoven geldbürgerlich umzudirigieren, ganz wie man jetzt, seit Mahler tot und Bayreuth stumm ist, es wieder mit Wagner selber versucht (und schon mit der Wirkung, die Jugend, die ja nirgends mehr Wagner, den wirklichen, hören aber sehen kann, ihm abzuwenden). Als nun in Bruckner, Hugo Wolf und Mahler der alte Geist unserer österreichischen Musik, ja geradezu das Barock selber auferstand, trat ihnen der Geldbürger, der Unmusiker, in der Marke des Hüters eben jener Musik entgegen, von der er sich und sein innerstes Wesen, seine Wesenlosigkeit, durch sie bedroht sah: seiner List gelang, die Musiker als Verräter, Schänder, Zerstörer eben des Heiligtums, dessen leibhaftige Zerstörung er selber war, und die Wiederkehr der österreichischen Musik für ein Revolte verrückter Einbrecher auszugeben, und mit einer so perfiden Beharrlichkeit, daß jedermann irre wurde, zuletzt sogar sie selbst. Das Verfahren hat sich also glänzend bewährt und man wird es immer wieder anwenden, wenn die Gefahr eines Musikers droht, eines echten, aus dem der Himmel klingt.

            Nein, die drei waren kein Anfang, sie waren die letzten Stimmen Österreichs. In Bruckner ist Österreich, das barocke, das rechtgläubige, das weltweite, das seit Josef zugeschüttet war, in Bruckner ist es wie durch ein Wunder auf einmal wieder da, sich fröhlich die hellen Augen auswischend von dem bösen Traum der letzten hundert Jahre, wieder ganz jung, wieder ganz fromm. In Hugo Wolf ahnt es dann leise schon den Tod, aber es will ihn nicht, es gibt ihn sich nicht zu, sondern setzt noch einmal den ganzen Trotz seines ungeheuren Lebenswillens ein. In Mahler entsagt es schon, es hat nur noch einen letzten schmerzlichen Liebesblick zur Erde hin, es hört schon den Himmel offen. Es ist der Todesweg Österreichs, den die drei gehen: Bruckner, dessen Musik noch ganz unbefangen katholisch ist, Hugo Wolf, bei dem sie vom katholischen nur noch den gebietenden Ernst der strengen Form hat und Mahler, in dessen Inbrunst sie wieder katholisch wird.

            Indem wir jetzt allmählich aus der liberalen Geistesdämmerung erwachen, enthüllt sich das Antlitz der drei letzten Musiker erst dem befreiten Blick. Als Bruckner lebte, konnten sich die Herren von der Kunst gar nicht genug wundern, wie denn ein frommer Katholik, worunter man damals noch etwas zurückgebliebenes, sozusagen Prähistorisches verstand, ein vergessenes Stück des „finsteren Mittelalters“, überhaupt zu seiner immerhin unleugbaren Musik kam; sie hätten eher fragen müssen, woher denn ein Ungläubiger eigentlich Musik nimmt, da doch alle Musik des Abendlands ein Geschöpf unseres Glaubens ist. Jetzt aber stellt Ernst Decken, dem wir schon die schönste Biographie Hugo Wolfs verdanken, in seinem kraftvoll gedrungenen Buch über Bruckner (bei Schuster und Löffler in Berlin verlegt) ihn selbst wie sein Werk durchaus als ein Kind unserer Kirche dar: wie beiden, der Mensch wie das Werk, ganz still aus unserem Glauben emporwachsen und gleichsam nur seine Gaben dankbar erwidern in der eigenen Tat.

Die Kirche lehrt ihn den rechten Gebrauch seiner angeborenen Kraft, dann hat ihn nur noch das Wagnererlebnis zu schütteln und es fallen in Fülle die reifen Früchte: dies macht im Grunde den ganzen Bruckner aus. Vielleicht kein zweiter Künstler unserer Zeit ging so sicheren Schritts geradewegs auf sich zu, nur immer seiner Sendung nach, aber auch bis an ihr Ende, durchaus. Kein zweiter Künstler dieser Zeit war sich so bewußt, daß sich ganz erfüllen, auch in der Kunst, sich ganz aufopfern heißt. Es ist das hohe Verdienst Deckens, daß er uns den priesterlichen Sinn dieser gottgeweihten, so rührenden als erhabenen Existenz erblicken läßt, und ohne die Komik, mit der sie vom Wiener Spott überklebt worden ist. Dem schien natürlich dieser fromme Symphoniker ein leibhaftiger, nur aus Versehen stehen gebliebener Anachronismus; heute sehen wir, daß nicht Bruckner ein schlechter Witz war, sondern jenes liberale Wien.

            Daß auch die Kunst Hugo Wolfs, dem dies keineswegs bewußt war, in unserem Glauben wurzelt, legt Hermann Hefele dar, in einem höchst merkwürdigen Abschnitt seiner zuweilen befremdenden, überall bedeutenden Schrift über „Das Gesetz der Form“ (bei Eugen Diederichs in Jena). Hefele ist selbst Katholik und ein sehr bewußter, wenn auch ein unromantischer, ein durchaus ultramontaner, ein antimystischer, ein eigentlich auch antibarocker, ein vor allem benediktinischer, ein römisch-hellenistisch willensstark auf Gesetz und Ordnung pochender Katholik (er hat ein überaus kluges Heft über den „Katholizismus in Deutschland“, bei Otto Reichl in Darmstadt, verfaßt, in dem unsere Politiker die Schilderung der guelfischen Stadtstaatsform beherzigen sollten!) So zieht er vielleicht unwillkürlich Hugo Wolf etwas gar zu sehr zu sich hinüber; er sieht ihn jedenfalls heller, härter, als er im Leben war. Vielleicht aber hört er gerade darum reiner, was seine Musik ist, als wer noch die Person gekannt hat, deren Überwindung gerade vielleicht der tiefste Sinn dieser Musik war. Das „schwere Gewicht seiner überlegenen Geistigkeit!“ rühmt er an Wolf, „der die Musik mit dem Geistig-Formalen zu verketten wagte, der nicht mehr Gefühle und Stimmungen wiedergeben wollte, sondern Typen des Geistes und Richtungen der natürlichen Anlage, die großen Tatsachen der geistigen und die gewordenen und geformten Komplexe ihrer Entwicklung“, dessen Werk „die Lösung der Musik aus den Banden der Subjektivität und ihre Überführung in das Reich des Objektiven, des Allgemeinen und Geltenden“ war, dessen Musik „die Schwester der griechischen und italienischen Kunst, des römischen Rechts und der klassischen Bildung“ ist. Es mag sein, daß, was dem Schaffenden oft begegnet, nämlich Intention schon für die Tat selbst zu nehmen, hier einmal einem Empfangenden widerfährt, aber auch ein nicht so willig nachhelfender, nicht so dankbar mitschaffender Hörer wird Wolfs leidenschaftlichen Willen zur großen Form, seinen reinen Sinn fürs Gesetz, ja die Macht der strengen Bindung als sein tiefstes Urerlebnis, wodurch er recht eigentlich erst produktiv geworden, anerkennen müssen. Katholische Kultur, ihm selber in wachen Stunden kaum mehr recht bewußt, klingt in seiner Kunst wider.

            Bei Mahler umgekehrt. Musiziert in Wolf sein katholisches Erbe noch nach, so musiziert Mahler auf unseren Glauben geradezu hin, der Jude Mahler, hat sich den Katholiken erst ermusizieren müssen. Er gehörte zu den Menschen, denen das Metaphysische so selbstverständlich und von Anfang an mit solcher Evidenz ganz unmittelbar gewiß ist, daß sie nur Mühe haben, doch allmählich immerhin auch ein Physisches anerkennen aber wenigstens zugeben zu lernen, das für sie stets etwas höchst Zweideutiges, Unwahrscheinliches und jedenfalls eher Irrtümliches behält. „Wenn ich nicht wüßte“, rief er einst stampfend aus, durch die Skepsis eines Spötters erregt, „wenn ich nicht wüßte, merken Sie sich: wüßte, wüßte! daß meine Seele unsterblich ist, würde ich mich augenblicklich aufhängen!“ Und nicht etwa das Bedürfnis, sich dieser angeborenen Evidenz Gottes erst noch vergewissern, sie sich erst noch beglaubigen zu müssen, hat ihn produktiv gemacht, sondern das Verlangen nach Gestalt, durch die das wogende Gewühl der inneren Verzückung nun auch noch zur festen Erscheinung, das im Flug Erraffte zum ruhigen Besitz, Ahnung zur Erkenntnis wird. Dieser Prozeß vom subjektiven Empfinden, Betasten, Ergreifen des Objektiven zur immer reineren Objektivierung des allmählich erst aus der aufbrechenden subjektiven Schale feierlich enthüllten objektiven Kerns ist das ewige, das einzige Thema seiner Musik: sie läßt uns hören, wie er katholisch wird. In Wien, wo die Musiker meistens unkatholisch sind und die Katholiken jetzt meistens unmusikalisch, ist das freilich die längste Zeit kaum bemerkt worden. Erst Hans Ferdinand Redlich in seiner erstaunlich reifen, nur zuweilen durch eine Vorliebe für Dämmer und Dunkel des Ausdrucks, der das Wahre durch einen Zusatz des Geheimnisvollen erst ganz zu bewähren meint, die neueste Generation verratenden Schrift über Mahler (Verlag Hans Karl, Nürnberg) hat das Ohr dafür. Er erkennt in ihm den „letzten Romantiker“; gläubig in eine Welt des Unglaubens ausgesetzt zu sein, deren Augenschein durchaus der eigenen inneren Gewißheit widerspricht, das ist ja das Erlebnis, wodurch der Romantiker entsteht: aus Heimweh nach seiner da draußen überall verleugneten Wahrheit. Daher auch der wilde Sohn in Mahlers Musik. „Er war“, sagt Redlich, „der erste, der Ironie in Musik umsetzte.“ Doch Mahler beruhigt sich im Ironischen nicht: „Mahlers Musik ist metaphysisch, sie setzt sich immer mit dem Kosmos auseinander, ist der Behälter, in den er seine transzendentalen Erkenntnisse, die erst musikalisch erkämpft werden mußten, goß.“ Das scheint mir der entscheidende Satz dieser Schrift, hier zum ersten Mal eine Formel gefunden, die den ganzen Mahler enthält. Kampf ist seine Musik, aber nicht Kampf um den Glauben, sondern Kampf um die reine, die volle Gestalt des Glaubens. Einen „der erst wiederum zum Kinde Gottes geworden ist“, nennt ihn Redlich. Dies hören wir aus seiner Musik, wie wir aus der Musik Hugo Wolfs einen hören, der nicht vergessen kann, daß er einst ein Kind Gottes gewesen ist.

In: Das Neue Reich, 16.05.1922, S. 541-542.

N.N.: Dolfi spielt auf…

Jazz-Symphonie am Sonntag vormittag

Dolfi Dauber, der Kammervirtuose, das Entzücken aller, denen sein Tanzorchester in die Beine fährt, ist ein Sonntagsphilharmoniker. Am Sonntag strebt er nach den höheren Zwecken, mit denen der Mensch wächst. Er verwandelt sich in einen Furtwängler und stellt sein berühmtes Jazz-Ensemble auf Ernst ein; nur zum Schein natürlich, denn ganz ernst, wie die echten Philharmoniker, darf er nicht kommen, ohne das Vertrauen, das alle Tänzerinnen und Tänzer in ihn setzen, ins Wanken zu bringen. Mit anderen Worten: er gibt Symphonie-Matineen im großen eleganten Tanzraum des Café Sacher, wo sich jetzt alle vornehmen  Leute, die nichts Besseres zu tun haben, als nicht zu tun zu haben, pünktlich einfinden, um teils Symphonie in Jazzgestalt einzunehmen, teil Charleston zu tanzen.

Dolfi Dauber hat zu diesem Zweck, seinem Orchester gegenüber, nichts als seine Geige, die ihren süßen Ton unter allen Umständen durchsetzt, selbst wenn die drei Saxophone, drei Trompeten, zwei Klaviere und je eine Posaune, ein Saxophon und ein Banjo mit dem Schlagwerk gemeinsame Sachen machen, um Dolfis Kantilene zu töten. Niemand kann sie umbringen, denn sie vertritt neben den Funktionären des Rhythmus die unsterbliche Idee der Melodie.

Ich hörte ein Programm, das aus lauter Leckerbissen zusammengesetzt war. „Josefine“ (Egon Neumann) und „Margarete“ (Maurice Roget) werden „für eine Nacht“ (Walter Kollo) gesucht, Richard Fall warnt Sie im Einverständnis mit Fritz Grünbaum („nimm dir nur ja keine Frau vom Mississippi“) und verweist Sie lieber auf die „Hochzeit im Ghetto“, die Dolfi Dauber und Beda miteinander arrangiert haben. Solches und ähnliches fand im ersten Teil des Programms statt. Im zweiten Teil, nach der Pause, fragt die Schöne, „was hast du für Gefühle, Moritz“ (Richard Fall); José Padilla empfahl „nur ein Rendezvous“, und Franz Lehár schlug das „alte Lied“ (Henry Loewe) von der „ersten Liebe“ an.

Bei einzelnen dieser Nummern steht ein Sternchen: „Auf vielseitigen Wunsch.“ Es wird aber fast alles wiederholt, denn Dolfi Dauber kann machen, was er will: man wünscht sich immer noch eins! Ich habe aber auch alte Opern von ihm gehört. Vom Tanzen versteh ich nichts, denn es genügt mir, wenn alle Tanzenden behaupten, daß niemand ihnen besser in die Füsse greift als dieser Herr Kammervirtuose. Neu aber ist für mich, daß die alten vertrauten Opern hier in einer ganz neuen Klangfarbe aufleuchten. Keine von diesen unsterblichen Opernmelodien (aus „Carmen“, „Margarethe“, *Bohème“ usw.) hat jemals ahnen können, daß es dereinst Susaphone und Banjos geben würde, und von Rechts wegen hätte man vielleicht den seligen Bizet oder Gounod fragen müssen, ob es erlaubt ist, ihre schönsten Melodien mit den Jazzgewässern zu taufen. Sie würden allerdings, wenn sie noch lebten, und Dolfi Dauber hören könnten, sicherlich nicht „nein“ sagen, denn diese Klangmischung ist etwas ganz Merkwürdiges; sie klingt fremd und doch vertraut, und die Jazzpolyphonie kann ihnen nichts anhaben. Manchmal ist es, als säße man im großen Opernhaus und hörte „Aida“, „Carmen“ und „Margarethe“; jeden Augenblick könnte Amonasro auftreten oder Carmen von Don José getötet werden.

Die Jazzsymphonie ist eine neue Sachlichkeit, aber, ganz wie die alten Sachlichkeiten, doch nichts anderes, als eine große Illusion auf romantischer Grundlage, ein Fest für das Ohr und eine Labe fürs Herz. Unsere moderne Musik ist auf alles Melodiöse, Sentimentale und Romantische schlecht zu sprechen, um so treuer halten sich die Musiker vom alten Schlage an die unveränderlichen Grundsätze der Tonkunst. Sie hüten den Schatz der Melodie indem sie dem neuen Gott mit Schlagwerk huldigen.

Darum ist Dolfi Dauber nicht nur ein ausgezeichneter Musiker und brillanter Geiger, sondern auch ein sehr wichtiger Mann. Er hat eine Mission in dieser Zeit der Auflösung aller Musiken…

In: Die Bühne (1927), H. 163, S. 72.

Hermann Bahr: Katholische Romantik.

Auf der religiös-wissenschaftlichen Tagung des Verbandes der Vereine katholischer Akademiker in Heidelberg erstattete Hermann Bahr ein Referat, das wir hier in seinen wesentlichsten Ausführungen wiedergeben.

Romantisch nennen wir ein Stück Natur, das auf uns wirkt, wie wir das sonst nur von Werten der Kunst gewohnt sind. Romantisch ist, was, um ideal zu wirken, um seiner Idee zu genügen, fast keiner Nachhilfe, weder durch Kunst, noch durch unsere Phantasie bedarf. Erfahrung bleibt ja fast immer hinter ihrer Idee zurück, sie decken sich fast nie.

            Das Gefühl dieser Insuffizienz ist es recht eigentlich, dass den Künstler hervorruft und produktiv macht. Je weniger nun ein Stück der Natur, um sich mit der Idee zu decken, erst einer Beihilfe des Künstlers braucht, je mehr ein Naturstück sich selber schon dem Kunstwerk nähert, desto „romantischer“ wirkt es.

            Das ist der Sinn, mit dem das Wort vor etwa zweihundert Jahren im Sprachgebrauch auftaucht. Und leise klingt in dieses Wort auch noch die Mahnung hinein, wenn wir eine höhere Wirklichkeit, als uns das bürgerliche Leben gibt, finden wollen, sie am besten beim Volke zu suchen. Damit haben wir nun das Wort Romantisch mit seinem vollen Gehalt und haben damit aber auch schon den gesamten Sinn der Romantik in allen seinen Schwingungen. Die Romantik holt sich aus dem Wort Romantisch ihr Programm. Mit ihr erscheint eine Jugend, die jenes Gefühl der Insuffizienz aller Erfahrung, wenn man sie an der Idee mißt, so stark erlebt, daß ihr die Gegenwart unerträglich wird: sehnsüchtig blickt sie von dieser schalen, leeren, unzureichenden Wirklichkeit, in die sie sich eingezwängt sieht, weg auf das höfische Zeitalter zurück, das ihr von einer selber schon zu Poesie so gesteigerten und erhöhten Wirklichkeit scheint, daß der Poesie daran nichts mehr zu tun übrig blieb, als sie einfach abzuspiegeln. Keineswegs Flucht aus der Wirklichkeit will die Romantik also, sondern Flucht aus der Unwirklichkeit des Daseins, von dem sie sich umgeben sieht, in Wirklichkeit, in eine volle, ja exaltierte Wirklichkeit, die der Poesie. Auf das Erleben von Poesie kommt’s dem Romantiker an, sein eigenes Dichten ist nur ein Griff nach der Poesie des Lebens, und wenn uns heute noch der bloße Namen der Romantik bezaubert, dankt sie das nur ihrer Erscheinung, aber keinem ihrer Werke. Nur eins ist von ihr lebendig geblieben, bis auf den heutigen Tag: ihr innerlich tiefes, reines gewaltiges Lebensgefühl.

            Schon im ersten Manifest der Romantik, in Friedrich Schlegels berühmten Aufsatz über den Wilhelm Meister, wird gefordert, „Inhalt und Form des Werks aus dem eigenen Leben zu nehmen“, auf erlebte Form wird gedrungen, jede nachempfundene, gar aber eine der Antike nachempfundene zurückgewiesen.

            Die Romantik selber wußte nicht, daß eine solche verwegene Lossage von der Antike schon einmal versucht worden war, schon an den Toren der deutschen Renaissance: von der Spätscholastik nämlich, die uns erst durch Duben und den Marburger Philosophen H. Heimsoeth verständlich geworden ist. Aber dieser Versuch der Spätscholastik, die christlichen Wahrheiten aus ihrer Gebundenheit an die strengen festen Denkformen der antiken Ueberlieferung zu schälen, hat ein ganz unerwartetes Ergebnis: kaum sind die Bindungen der antiken Denkformen gelockert, entweicht die Wahrheit und schon drängt Irrtum an Irrtum vor, Willkür bricht ein. Gesetz wird vergessen. Es sieht fast aus, als könnte der Mensch des Abendlands, um in der Wahrheit festzustehen, des Stabs der antiken Denkform nicht entbehren.

            Wie jene Denker der Spätscholastik, so glauben sich nun auch die Dichter der Romantik einer eigenen Form mächtig und bedürftig der Antike. Das Erlebnis der französischen Revolution, von der sich nach dem Strohfeuer der ersten Begeisterung Deutschland mit Entsetzen abwendet, bestärkt sie darin und durch die höchste Gestalt der Revolution, Napoleon diesen leibhaftigen Revenant der Antike, fühlt sie sich berechtigt ja fast sittlich verpflichtet dazu. Der Augenblick, einen eigensinnigen Ausdruck deutschen Wesens zu wagen, scheint da. Jeder Form, auch der reinsten, droht Erstarrung. So können wir den romantischen Trotz gegen die Antike verstehen. Er wurde der ganzen deutschen Ueberlieferung gefährlich, erst dadurch, daß der einen der romantischen Gruppen von vornherein ein Haß aller Form im Blut lag. Durch J. Nadler kennen wir die zwei Lager der Romantik und ihren Doppelsinn, daß sie nämlich den Altstämmen etwas ganz anderes bedeutet als den Neustämmen. Jenen, Rheinfranken und Alemannen vor allem, geht es ihr um Restauration ihres schon durch die „Aufklärung“ geschwächten, nun auch noch durch die französische Revolution bedrohten geistigen Erbes, während den Neustämmen, den Kolonisten des Ostens, überhaupt erst Gelegenheit gegeben ist, das Erbe des Mutterlandes anzutreten. Ein altes Volk sieht den Sinn seiner ganzen inneren Existenz gefährdet und, um sich wiederzufinden, um sich wiederherzustellen, beschwört es das Bild seiner Vergangenheit zur Hilfe herauf: das ist die Romantik der alten Stämme. Auswanderer, die eine neue Heimat gefunden haben, suchen wieder eine Verbindung mit der alten und dazu müssen sie sich rasch aneignen, was dort, seit sie fort sind, inzwischen geistig geschehen ist: das meint die Romantik des Ostens. Dieselben Worte haben darum im Mund eines jeden von beiden einen ganz anderen Sinn. Jene im Westen wollen, von verwegen neuem Geist bedroht, sich auf ihr altes Wesen besinnen. Diese im Osten müssen, um an diesem alten Wesen teilzunehmen, selber erst etwas ihnen ganz Neues werden. Ja sie müssen dazu noch erst einen geheimen Widerspruch im eigenen Blut überwinden: „unserer Nation ist mit der sarmatischen amalgamiert“, hat Zacharias Werner einmal gesagt: „Die Kolonisten sind nicht unvermischt geblieben und eben aus einer geheimen Furcht vor diesen fremden Wallungen im eigenen Blut wenden sie sich ins alte Vaterland.“ Die Altstämme haben sich nur wieder recht auf sich zu besinnen, die Neustämme müssen erst werden, was jene sind: jenen gehts um Restauration, diesen um Regeneration, sie müssen selber erst zu vollen Deutschen wiedergeboren werden. Daher können jene sichs leicht erlauben, gegen die Antike zu rebellieren: Sie sind ja fortwährend immer wieder antikisiert worden, durch den Romanismus der karolingischen Renaissance, den Romanismus der Hochscholastik, den Romanismus der deutschen Renaissance und ganz zuletzt noch eben jetzt wieder den Romanismus Weimars. Aber für die Neustämme hat jene Lossage von der Antike ganz einen anderen Sinn, hier gerät durch sie der Wille der ganzen Bewegung in Gefahr, der Wille, heimzukehren ins alte Vaterland, das Erbe der deutschen Vergangenheit anzutreten, einer doch von der Antike ganz durchwachsenen Vergangenheit, die zerrissen würde und auseinander fällt ohne die Antike!

            Ja noch mehr: Die Neustämme hätten sich, wäre dieser dumpfe Drang nach Lösung von der Antike durchgedrungen, damit ausgesperrt vom Abendland und in den gestaltlosen Osten verbannt. Denn das Abendland kann, um sich Form zu geben, die Hilfe der Antike nicht entbehren.

            Wir berühren hier ein Geheimnis der abendländischen Völker, das ihnen selber unbegreiflich ist und immer wieder zu Zeiten unerträglich wird. Alle großen Epochen dieser Völker beginnen mit einer Revolte gegen den Zwang zur Form der Antike, um immer wieder mit einer neuen Eingebung in diesen Zwang zu enden. Denken wir die Form der Antike!

            In „Begreifen“ ruht die Leistung der griechischen Wissenschaft, wie der griechischen Kunst. Im Bilde, im Begriffe hält der Grieche die fortstürzenden Erscheinungen an, er glaubt, sie zum Stehen zu bringen, das Werden zu sistieren, ein beruhigtes Sein gewonnen zu haben. Ja noch mehr: An diesem Sein, in das er das Werden bildend bannt, glaubt er ahnungsvoll zugleich auch schon ein Abbild jenes anderen, des großen, hinter allem entrinnenden Schein des Werdens verborgen ruhenden Sinns zu berühren, das vor allem Werden immer schon war und auch wenn einst alles entworden ist, immer noch sein wird: „aute he usia“! Grieche sein heißt, im Schein des Werdens schon ein Jenseits davon ahnen: ein Sein, und sich nun Zeichen dieser Ahnungen machen, das Zeug zu solchen Zeichen des Seins sich freilich wieder aus dem Schein des Werdens holend, die darum niemals das Sein erreichen können; sie deuten nur hinüber, aber sie bringen ihn nicht hinüber, er kommt nicht zur Wahrheit, er kommt nur bis zum Mythos. Wir aber, wir abendländischen Christen, sind wirklich das Gegenteil des Griechen, wir können uns keine Mythen mehr bilden, weil wir keine Mythen mehr brauchen können, denn uns trennt vom Griechen ein ungeheures Erlebnis: das Sein selber ist unter uns erschienen, die Wahrheit hat in Person unter uns gewohnt, das Wort ist Fleische geworden und ist im allerheiligsten Sakrament unter uns geblieben, so daß wir jetzt mitten im Werden schon unmittelbar teilnehmen können am Sein. Der Grieche rette sich ins Bild, wir retten uns ins Sakrament; er wandelt im Bilde, wir wandern in der Gegenwart Gottes!

            Aber dadurch ist das Bild doch keineswegs entwertet: sein Wert hat nur fortan einen anderen Akzent. Dem Griechen ist das Bild ein Zeichen seiner Ahnung eines verborgenen Seins, uns ist es ein Abzeichen unserer Gewißheit des uns offenbarten Seins. Auch wir, wenn auch der Beruhigung des Ewigen teilhaft, müssen ja dann doch immer wieder in die Zeit zurück, an unser irdisches Werk herab: Hier können wir uns über das Himmlische nicht unmittelbar, sondern nur durch eine Zeichensprache verständigen. So haben denn die jungen Völker des christlichen Zeitalters, sobald sie das Bedürfnis nach Zeichen ihres neuen Denkens, ihres neuen Fühlens, ihres neuen Daseins empfanden, einfach die griechischen übernommen und diese durch den neuen Gehalt unablässig von Jahrhundert zu Jahrhundert christianisiert. Was wir heute griechische Form nennen, sei es im Denken, sei es im Bilden, ist griechischer Abstammung zwar, aber es ist längst nicht mehr ein reines Griechisch, es ist ein getauftes Griechisch. Das Christentum hat seine Kraft am schönsten durch die schonende Geduld gezeigt, mit der es von den alten Völkern jede keimende Wahrheit zart in Obhut und Pflege nahm. Nicht zerstörend, sondern erfüllend kommt das Christentum zu den Völkern, und wo nur immer Erkenntnis glimmt, facht es den Funken an. Aber eben indem das Christentum die geistige Mitgift der Völker in seine Hut nimmt, schafft es sie wesentlich um, es verwächst mit ihr, und so völlig, daß man sie nun nicht mehr wieder von ihm ablösen kann, ohne damit auch es selber zu verletzen. Jeder Versuch, sei es der christlichen Wissenschaft, sei es der christlichen Kunst, von den antiken Bindungen loszukommen, hat bisher immer nur wieder Irrtum und Formlosigkeit ergeben: Die Romantik, die trotz reinsten Willens, rechter Einsichten, klarer Absichten, mit ihrem erstaunlichen Reichtum an Begabung nichts zu wirken vermag und ein Chaos zurückläßt, aus den bisher noch keine der abendländischen Nationen wieder zur Form zurückgefunden hat, ist das letzte warnende Beispiel.

            Unsere Zeit erinnert an die der Romantik so sehr, daß sie fast eine grobe, sinnlos übertriebene Karikatur von ihr scheint. Alles um uns und in uns wankt, Ungesetz, Willkür und Frevel walten frei und wieder sehen wir die Ratlosigkeit einer aufgescheuchten Menschheit, ausgenützt von Abenteurern und Betrügern, überall wird mit Magie hausiert, der Sinn fürs Heilige wird durch alberne Fälschungen gefoppt, und wieder ist es jener alte Hang kimmerischer Schwärmer zum Trüben, Ungestalten, in dem die Gier falscher Propheten und windiger Religionsgründer, Religionsschieber am liebsten fischt. So hätten auch wir jetzt wieder eine tiefe Selbstbesinnung not: eine Romantik, aber eine, die nicht, wie jene damals, in der bloßen Forderung des Romantischen stecken, nicht Fragment, nicht ein bloßes Spiel mit frommen Wünschen bleibt, sondern die Kraft hätte, das Romantische zu verwirklichen durch eine Lebensform, in der Erfahrung sich der Idee so nähert, daß sie sie fast erreicht, daß wir hier im strömenden Werden uns schon des ewigen Seins vergewissern, daß wir im täglichen Leben auf Schritt und Tritt Zeugnis geben von der währenden Gegenwart Gottes mitten unter uns, Zeugnis davon geben durch unsere Tat; den Aktivismus einer katholischen Romantik hätten wir not.

            Jene Lebensform war im Abendland bis ans Ende des Barock wirksam.

            Unsere Literatur hat von ihr einen klassischen Ausdruck aufbewahrt: in der Makarie der Wanderjahre. Diese geheimnisvolle Gestalt ist hier auf Erden schon des Jenseits ganz unmittelbar, ja sie glaubt, an ihm zuweilen teilzunehmen, sie wechselt zwischen hier und dort hin und her: „Bald gibt sie bei frisch aufleuchtendem Inneren sich der seligsten Ruhe hin“, bald wieder, wenn ihr der Blick hinüber entzogen und sie in unseren trüben Zustand zurückgesenkt wird, benützt sie, „bei gedämpftem inneren Licht“ die Pause zu wohltätiger Wirksamkeit unter den Menschen. Goethe hat hier nach dem Leben gezeichnet: es ist die Lebensform des heiligen Ignatius, der heiligen Therese, des heiligen Philippus Neri, die Lebensform des Eucharisten. Wer das allerheiligste Sakrament empfängt, berührt das ewige Sein. Das allerheiligste Sakrament bringt uns in die Wahrheit hinüber. Und kehren wir dann aus ihr in den Schein, aus der Ewigkeit in die Zeit, aus dem Sein wieder ins Werden zurück, wir bleiben doch in der Gegenwart Gottes und können sie bezeugen durch unsere Tat. Der Grieche konnte sich dem „Prototypon“ nur durch Abbilder seiner Ahnungen davon, durch Wunschbilder nähern: wir, des Urbildes selber unmittelbar gewiß, trachten es in unserem irdischen Tun, jeder durch sein Tagewerk, nachzubilden. Unser ganzes irdisches Dasein, ob wir wachen oder schlafen, denken und dichten aber handeln und herrschen, frohlocken oder wehklagen, ganz einzustellen in den Flammenhauch der Eucharistie, das wäre katholische Romantik der Erfüllung.

In: Reichspost, 21.9.1922, S. 1-3.