Aktivismus, literarischer

Bewegung im Umfeld des literarischen Expressionismus, die auf eine Aktivierung bzw. Involvierung der Geistigen in die Politik abzielte, ohne dabei einer Partei oder einer ideologischen Strömung anzugehören. Maßgebl. Inspiration bezogen die Begründer dieser Bewegung, d.h. Kurt Hiller u. Ludwig Rubiner, bei Heinrich Mann u. seinem Essay Geist und Tat (1911). Die Berliner Zs. Die Aktion, hg. von Franz Pfemfert, in der Hiller wie Rubiner seit 1912 publ., letzterer z.B. den manifestartigen Text Der Dichter greift in die Politik, bildete eine frühe Plattform für den A. Durch den Ersten Weltkrieg verbreitete sich diese Bewegung und orientierte sich zunehmend in eine sozialistisch-pazifistische, auch utpoisch-anarchistische Richtung. Seit 1916 gab Hiller die Programmzeitschrift Ziel-Jahrbücher (bis 1924) heraus. In Österreich/Wien orientierten sich ebf. expressionist. Schriftsteller u. Künstler ab 1916-17 in aktivist. Richtung, insbes. R. Müller, der 1917 durch ein Theaterstück hervortrat, in dem unter dem Titel Die Politiker des Geistes (PdG) versch. Varianten der Geist-Idee sowie versch. Perspektiven einer auf sie bauenden gesellschaftl. Organisationsform durchgespielt werden. Dabei ergaben sich Schnittflächen zur, aber auch (iron.) Kommentierungen der zeitgenöss. Lebensphilosophie, des Vitalismus wie Skeptizismus sowie eigenwillige Verzahnungen von Geist u. Politik im Sinn eines Versuchs den Erneuerungsvisionen des Expressionismus ein handlungstheoretisches Konzept zu unterlegen (Wallas, 61).  Noch vor Kriegsende häufen sich ab Ende 1917, Anfang 1918 programmatische Texte u. Visionen hinsichtl. der Aufgaben des Aktivismus. R. Müller hielt z.B. in der Neuen Freien Bühne am 11.11.1917 eine später auch als Essay veröffentl. Rede unter dem Titel Die Geistrasse; B. Viertel kommentierte diese Bewegung, mit Bezug auf neue Zs.-Gründungen in Wien (Das Flugblatt, Der Anbruch, Der Friede, Die Rettung, Der Strahl u.a.) ebf. in einem programmat. Beitrag am 7.4.1918 unter der Perspektive „Der Aktivist ist heute Pacifist“, der Anspruch der Jugend drücke sich in einem Bekenntnis zu „radikale[r] Vermenschlichung“ aus, Grundlage künftiger Begegnung der Jugend aller Nationen. Zugleich sei der Aktivist, so Müller, „das fliegende Korps des Expressionisten“, d.h. während der Expressionismus „umfassende Erregung“ sei, verkündet der Aktivist „die Religion des Bewußtseins“, welche auf Rationalität und „Gesetzgebung“ abziele.

Zur selben Zeit definierte sich auch die ungar. Avantgarde-Gruppe um die Zs. Ma und Lajos Kassák als „Dichter des Aktivismus“ u. veranstaltete am 9.4. 1918 ihren ersten „Propagandaabend“ in Budapest. Deren Ausrichtung war explizit politischer Natur, Thema jenes Abends war nämlich „Probleme des Kommunismus in seinem Verhältnis zur neuen Kunst und zum kollektiven Individuum“, so der Pester Lloyd (9.4.1918, S.10). Kurz danach, am 4.5.1918, fand auch im Stadttheater von Czernowitz ein literar. Abend unter der Devise der „Erneuerung unserer Literatur durch den Aktivismus und Expressionismus“ statt, bei dem Texte von Wildgans, Werfel, Lasker-Schüler, Ehrenstein, Däubler, Rilke u.a. sowie der erste Akt von Hasenclevers express. Drama Der Sohn vorgetragen wurden. Müllers Konzeption des A. richtete sich trotz revolut. Rhetorik explizit gegen die zeitgenöss. polit. Massenbewegungen u. setzte dagegen die Figur und die Tat des Individuums als „Politik des Geistes“ (PdG, 39). Auch im Sept. 1918 charakterisierte er imWage-Artikel Die neue Erregung den A.nicht als Partei, sondern „vorerst das Pathos zu einer Politik“, deren Zielv.a. in einer „Revolutionierunge des Denkens“ (Wolf, 60) bzw., so Müllerselbst, in einer Art gesamtgesellschaftlichen Bildung, die „ein Leben ingeistiger Erregung gestattet und fördert“, Voraussetzung für die Änderung desMenschen und in der Folge auch des sozialen Verhältnisse.

Als organisator. Grundlage der Wiener Aktivisten fungierte der von Müller initiierte Geheimbund Die Katakombe, die sich rund um die express. Zeitschriften formierte sowie 1918-19  in der Zs. Die Wage eine wichtige Plattform finden konnte, aber bald zerfiel u. vom Bund der geistig Tätigen unter Franz Kobler abgelöst wurde, in dem Müller Leiter der ›Politischen Gruppe‹ war, die sich u.a. mit Fragen des Rätesystems befasste, Franz Ottmann die ›Literarische Gruppe‹, Ernst Wagner jene der Kunst(theorie) und Anton Spiller jene für Musik leitete. Wagner organis. z.B. die erste express.-aktivistische Kunstausstellung im Rahmen der Jahresausstellung der ›Genossenschaft bildender Künstler Wiens‹ im April 1919, die in der zeitgenöss. Presse sehr kontrovers aufgenommen wurde (Wallas, 79), weil  sie u.a. Anschluss an die internat. Avantgarde-Tendenzen suchte. Der erste Programmentwurf, veröff. in der Zs. Strahl zielte auf eine umfassende Reform in wesentlichen polit. u. gesellschaftl. Bereichen wie z.B. Erziehung, Sozialisierung, Genossenschafts- u. Siedlungsbewegung, Körperkultur, Internationalismus etc. Daraus ergaben sich Kontakte u. Kooperationen zu ähnlich ausgerichteten Vereinigungen wie z.B. zur Clartè-Bewegung, einschließlich H. Barbusse, zur Vereinigung ›Neue Erde‹ unter Max Ermers, zu Max Adler und seiner ›Vereinigung der geistigen Arbeiter‹, zur ›Kulturpolitischen Gesellschaft‹ unter Robert Scheu u.a.m. Dass auch Polemik u. Kritik, die z.T. auf K. Kraus gemünzt war, der später seinerseits Müller in der Fackel iron. bloßgestellt hat, z.B. als „dynamischsten Nichtskönner der neueren Literatur“ (F, 561-567/1921, 56) zum Zug kamen, liegt auf der Hand. Im Lauf des Jahres 1920 zerstreute sich auch diese Initiative, Müller zog sich in buchhändlerisch-verlegerische Aktivitäten zurück, wovon die Gründung des Literaria-Verlags sowie 1923-24 des Atlantis Verlags Zeugnis geben; andere Aktivisten konzentrierten sich auf Zeitschriften oder ebf. auf Verlagsprojekte, insbes. auf den Genossenschaftsverlag, eine von Alfred Adler, Albert  Ehrenstein, Fritz Lampl, Jakob Moreno Levy, Hugo Sonnenschein u. Franz Werfel vorangetriebene Initiative. Ab 1922-23 wurde der Aktivismus zunehmend von katholisch-romantischen (H. Bahr), aber auch rechtsnationalen, faschistischen Bewegungen okkupiert, wie R.J. Kreutz in einem Feuilleton krit. anmerkte.


Quellen und Dokumente

Berthold Viertel: „A.“ In: Prager Tagblatt, 7.4.1918, S. 2f., Hermann Bahr: Katholische Romantik. In: Reichspost, 21.9.1922, S. 1-3, Rudolf Jeremias Kreutz: Grauen. In: Neues Wiener Journal, 14.5.1923, S. 5, Robert Müller: Die Geistrasse. In: Der neue Daimon, H.4/1918, 210-213 (auch in: R. Müller: Kritische Schriften II. Paderborn 1995, 156-160).

Literatur

E. Fischer: Expressionismus-Aktivismus-Revolution. Die österr. Schriftsteller zwischen Geistpolitik und Roter Garde. In: K. Amann/A. A. Wallas: Expressionismus in Österreich. Die Literatur und die Künste. Wien u.a. 1994, 19-48; A. A. Wallas: ›Geist und Tat‹ – Aktivistische Gruppen und Zeitschriften in Österreich 1918/19 In: Ders.: Österreichische Literatur-, Kultur- und Theaterzeitschriften im Umfeld von Expressionismus, Aktivismus und Zionismus. Hg. von A. M. Lauritsch. Wuppertal 2008, 61-115; W. Fähnders: Aktivismus. In: H. van den Berg, W. Fähnders (Hgg.): Metzler Lexikon Avantgarde. Stuttgart-Weimar 2009, 28-29, N. Ch. Wolf: Revolution in Wien. Die literarische Intelligenz im politischen Umbruch 1918/19. Wien u.a. 2018, bes. 54-61; P. Deréky: Aktivismus, Dada, Proletkult und Konstruktivismus: Zerfall der ungarischen Avantgarde in Wien. In: N. Bachleitner, K. Kokai, I. Hein, S. Vlasta (Hgg): Brüchige Texte – brüchige Identitäten. Avantgardistisches und exogenes Schreiben von der klassischen Moderne bis zur Gegenwart. Wien 2018, 35-56.

(PHK)