Hermann Bahr: Katholische Romantik.
Auf der religiös-wissenschaftlichen Tagung des Verbandes der Vereine katholischer Akademiker in Heidelberg erstattete Hermann Bahrgeb. am 19.7.1863 in Linz – gest. am 15.1.1934 in München; Schriftsteller, Kritiker, Redakteur Der Sohn eines No... ein Referat, das wir hier in seinen wesentlichsten Ausführungen wiedergeben.
Romantisch
nennen wir ein Stück Natur, das auf uns wirkt, wie wir das sonst nur von Werten
der Kunst gewohnt sind. Romantisch ist, was, um ideal zu wirken, um seiner Idee
zu genügen, fast keiner Nachhilfe, weder durch Kunst, noch durch unsere
Phantasie bedarf. Erfahrung bleibt ja fast immer hinter ihrer Idee zurück, sie
decken sich fast nie.
Das Gefühl dieser Insuffizienz ist es recht eigentlich,
dass den Künstler hervorruft und produktiv macht. Je weniger nun ein Stück der
Natur, um sich mit der Idee zu decken, erst einer Beihilfe des Künstlers
braucht, je mehr ein Naturstück sich selber schon dem Kunstwerk nähert, desto
„romantischer“ wirkt es.
Das ist der Sinn, mit dem das Wort vor etwa zweihundert
Jahren im Sprachgebrauch auftaucht. Und leise klingt in dieses Wort auch noch
die Mahnung hinein, wenn wir eine höhere Wirklichkeit, als uns das bürgerliche
Leben gibt, finden wollen, sie am besten beim Volke zu suchen. Damit haben wir
nun das Wort Romantisch mit seinem vollen Gehalt und haben damit aber auch
schon den gesamten Sinn der Romantik in allen seinen Schwingungen. Die Romantik
holt sich aus dem Wort Romantisch ihr Programm. Mit ihr erscheint eine Jugend,
die jenes Gefühl der Insuffizienz aller Erfahrung, wenn man sie an der Idee
mißt, so stark erlebt, daß ihr die Gegenwart unerträglich wird: sehnsüchtig
blickt sie von dieser schalen, leeren, unzureichenden Wirklichkeit, in die sie
sich eingezwängt sieht, weg auf das höfische Zeitalter zurück, das ihr von
einer selber schon zu Poesie so gesteigerten und erhöhten Wirklichkeit scheint,
daß der Poesie daran nichts mehr zu tun übrig blieb, als sie einfach
abzuspiegeln. Keineswegs Flucht aus der Wirklichkeit will die Romantik also,
sondern Flucht aus der Unwirklichkeit des Daseins, von dem sie sich umgeben
sieht, in Wirklichkeit, in eine volle, ja exaltierte Wirklichkeit, die der
Poesie. Auf das Erleben von Poesie kommt’s dem Romantiker an, sein eigenes
Dichten ist nur ein Griff nach der Poesie des Lebens, und wenn uns heute noch
der bloße Namen der Romantik bezaubert, dankt sie das nur ihrer Erscheinung,
aber keinem ihrer Werke. Nur eins ist von ihr lebendig geblieben, bis auf den
heutigen Tag: ihr innerlich tiefes, reines gewaltiges Lebensgefühl.
Schon im ersten Manifest der Romantik, in Friedrich
Schlegels berühmten Aufsatz über den Wilhelm Meister, wird gefordert, „Inhalt
und Form des Werks aus dem eigenen Leben zu nehmen“, auf erlebte Form wird
gedrungen, jede nachempfundene, gar aber eine der Antike nachempfundene
zurückgewiesen.
Die Romantik selber wußte nicht, daß eine solche
verwegene Lossage von der Antike schon einmal versucht worden war, schon an den
Toren der deutschen Renaissance: von der Spätscholastik nämlich, die uns erst
durch Duben und den Marburger Philosophen H. Heimsoeth verständlich geworden
ist. Aber dieser Versuch der Spätscholastik, die christlichen Wahrheiten aus
ihrer Gebundenheit an die strengen festen Denkformen der antiken Ueberlieferung
zu schälen, hat ein ganz unerwartetes Ergebnis: kaum sind die Bindungen der
antiken Denkformen gelockert, entweicht die WahrheitBereits 1895 vom Kantor der sephardischen Gemeinde in Wien, Jakob Bauer, vor dem Hintergrund des anwachsenden Antisemiti... und schon drängt Irrtum an
Irrtum vor, Willkür bricht ein. Gesetz wird vergessen. Es sieht fast aus, als
könnte der Mensch des Abendlands, um in der Wahrheit festzustehen, des Stabs
der antiken Denkform nicht entbehren.
Wie jene Denker der Spätscholastik, so glauben sich nun
auch die Dichter der Romantik einer eigenen Form mächtig und bedürftig der
Antike. Das Erlebnis der französischen Revolution, von der sich nach dem
Strohfeuer der ersten Begeisterung Deutschland mit Entsetzen abwendet, bestärkt
sie darin und durch die höchste Gestalt der Revolution, Napoleon diesen
leibhaftigen Revenant der Antike, fühlt sie sich berechtigt ja fast sittlich
verpflichtet dazu. Der Augenblick, einen eigensinnigen Ausdruck deutschen
Wesens zu wagen, scheint da. Jeder Form, auch der reinsten, droht Erstarrung.
So können wir den romantischen Trotz gegen die Antike verstehen. Er wurde der
ganzen deutschen Ueberlieferung gefährlich, erst dadurch, daß der einen der
romantischen Gruppen von vornherein ein Haß aller Form im Blut lag. Durch J.
Nadler kennen wir die zwei Lager der Romantik und ihren Doppelsinn, daß sie
nämlich den Altstämmen etwas ganz anderes bedeutet als den Neustämmen. Jenen,
Rheinfranken und Alemannen vor allem, geht es ihr um Restauration ihres schon
durch die „Aufklärung“ geschwächten, nun auch noch durch die französische
Revolution bedrohten geistigen Erbes, während den Neustämmen, den Kolonisten
des Ostens, überhaupt erst Gelegenheit gegeben ist, das Erbe des Mutterlandes
anzutreten. Ein altes Volk sieht den Sinn seiner ganzen inneren Existenz
gefährdet und, um sich wiederzufinden, um sich wiederherzustellen, beschwört es
das Bild seiner Vergangenheit zur Hilfe herauf: das ist die Romantik der alten
Stämme. Auswanderer, die eine neue Heimat gefunden haben, suchen wieder eine
Verbindung mit der alten und dazu müssen sie sich rasch aneignen, was dort,
seit sie fort sind, inzwischen geistig geschehen ist: das meint die Romantik
des Ostens. Dieselben Worte haben darum im Mund eines jeden von beiden einen
ganz anderen Sinn. Jene im Westen wollen, von verwegen neuem Geist bedroht,
sich auf ihr altes Wesen besinnen. Diese im Osten müssen, um an diesem alten
Wesen teilzunehmen, selber erst etwas ihnen ganz Neues werden. Ja sie müssen
dazu noch erst einen geheimen Widerspruch im eigenen Blut überwinden: „unserer
Nation ist mit der sarmatischen amalgamiert“, hat Zacharias Werner einmal
gesagt: „Die Kolonisten sind nicht unvermischt geblieben und eben aus einer
geheimen Furcht vor diesen fremden Wallungen im eigenen Blut wenden sie sich
ins alte Vaterland.“ Die Altstämme haben sich nur wieder recht auf sich zu
besinnen, die Neustämme müssen erst werden, was jene sind: jenen gehts um
Restauration, diesen um Regeneration, sie müssen selber erst zu vollen
Deutschen wiedergeboren werden. Daher können jene sichs leicht erlauben, gegen
die Antike zu rebellieren: Sie sind ja fortwährend immer wieder antikisiert
worden, durch den Romanismus der karolingischen Renaissance, den Romanismus der
Hochscholastik, den Romanismus der deutschen Renaissance und ganz zuletzt noch
eben jetzt wieder den Romanismus Weimars. Aber für die Neustämme hat jene
Lossage von der Antike ganz einen anderen Sinn, hier gerät durch sie der Wille
der ganzen Bewegung in Gefahr, der Wille, heimzukehren ins alte Vaterland, das
Erbe der deutschen Vergangenheit anzutreten, einer doch von der Antike ganz
durchwachsenen Vergangenheit, die zerrissen würde und auseinander fällt ohne
die Antike!
Ja noch mehr: Die Neustämme hätten sich, wäre dieser
dumpfe Drang nach Lösung von der Antike durchgedrungen, damit ausgesperrt vom
Abendland und in den gestaltlosen Osten verbannt. Denn das Abendland kann, um
sich Form zu geben, die Hilfe der Antike nicht entbehren.
Wir berühren hier ein Geheimnis der abendländischen
Völker, das ihnen selber unbegreiflich ist und immer wieder zu Zeiten
unerträglich wird. Alle großen Epochen dieser Völker beginnen mit einer Revolte
gegen den Zwang zur Form der Antike, um immer wieder mit einer neuen Eingebung
in diesen Zwang zu enden. Denken wir die Form der Antike!
In „Begreifen“ ruht die Leistung der griechischen
Wissenschaft, wie der griechischen Kunst. Im Bilde, im Begriffe hält der
Grieche die fortstürzenden Erscheinungen an, er glaubt, sie zum Stehen zu
bringen, das Werden zu sistieren, ein beruhigtes Sein gewonnen zu haben. Ja
noch mehr: An diesem Sein, in das er das Werden bildend bannt, glaubt er
ahnungsvoll zugleich auch schon ein Abbild jenes anderen, des großen, hinter
allem entrinnenden Schein des Werdens verborgen ruhenden Sinns zu berühren, das
vor allem Werden immer schon war und auch wenn einst alles entworden ist, immer
noch sein wird: „aute he usia“! Grieche sein heißt, im Schein des Werdens schon
ein Jenseits davon ahnen: ein Sein, und sich nun Zeichen dieser Ahnungen
machen, das Zeug zu solchen Zeichen des Seins sich freilich wieder aus dem
Schein des Werdens holend, die darum niemals das Sein erreichen können; sie
deuten nur hinüber, aber sie bringen ihn nicht hinüber, er kommt nicht zur
Wahrheit, er kommt nur bis zum Mythos. Wir aber, wir abendländischen Christen,
sind wirklich das Gegenteil des Griechen, wir können uns keine Mythen mehr
bilden, weil wir keine Mythen mehr brauchen können, denn uns trennt vom
Griechen ein ungeheures Erlebnis: das Sein selber ist unter uns erschienen, die
Wahrheit hat in Person unter uns gewohnt, das Wort ist Fleische geworden und
ist im allerheiligsten Sakrament unter uns geblieben, so daß wir jetzt mitten
im Werden schon unmittelbar teilnehmen können am Sein. Der Grieche rette sich
ins Bild, wir retten uns ins Sakrament; er wandelt im Bilde, wir wandern in der
Gegenwart Gottes!
Aber dadurch ist das Bild doch keineswegs entwertet: sein
Wert hat nur fortan einen anderen Akzent. Dem Griechen ist das Bild ein Zeichen
seiner Ahnung eines verborgenen Seins, uns ist es ein Abzeichen unserer
Gewißheit des uns offenbarten Seins. Auch wir, wenn auch der Beruhigung des
Ewigen teilhaft, müssen ja dann doch immer wieder in die Zeit zurück, an unser
irdisches Werk herab: Hier können wir uns über das Himmlische nicht
unmittelbar, sondern nur durch eine Zeichensprache verständigen. So haben denn
die jungen Völker des christlichen Zeitalters, sobald sie das Bedürfnis nach
Zeichen ihres neuen Denkens, ihres neuen Fühlens, ihres neuen Daseins
empfanden, einfach die griechischen übernommen und diese durch den neuen Gehalt
unablässig von Jahrhundert zu Jahrhundert christianisiert. Was wir heute
griechische Form nennen, sei es im Denken, sei es im Bilden, ist griechischer
Abstammung zwar, aber es ist längst nicht mehr ein reines Griechisch, es ist
ein getauftes Griechisch. Das Christentum hat seine Kraft am schönsten durch
die schonende Geduld gezeigt, mit der es von den alten Völkern jede keimende
Wahrheit zart in Obhut und Pflege nahm. Nicht zerstörend, sondern erfüllend
kommt das Christentum zu den Völkern, und wo nur immer Erkenntnis glimmt, facht
es den Funken an. Aber eben indem das Christentum die geistige Mitgift der Völker
in seine Hut nimmt, schafft es sie wesentlich um, es verwächst mit ihr, und so
völlig, daß man sie nun nicht mehr wieder von ihm ablösen kann, ohne damit auch
es selber zu verletzen. Jeder Versuch, sei es der christlichen Wissenschaft,
sei es der christlichen Kunst, von den antiken Bindungen loszukommen, hat
bisher immer nur wieder Irrtum und Formlosigkeit ergeben: Die Romantik, die
trotz reinsten Willens, rechter Einsichten, klarer Absichten, mit ihrem
erstaunlichen Reichtum an Begabung nichts zu wirken vermag und ein Chaos
zurückläßt, aus den bisher noch keine der abendländischen Nationen wieder zur
Form zurückgefunden hat, ist das letzte warnende Beispiel.
Unsere Zeit erinnert an die der Romantik so sehr, daß sie
fast eine grobe, sinnlos übertriebene Karikatur von ihr scheint. Alles um uns
und in uns wankt, Ungesetz, Willkür und Frevel walten frei und wieder sehen wir
die Ratlosigkeit einer aufgescheuchten Menschheit, ausgenützt von Abenteurern
und Betrügern, überall wird mit Magie hausiert, der Sinn fürs Heilige wird
durch alberne Fälschungen gefoppt, und wieder ist es jener alte Hang
kimmerischer Schwärmer zum Trüben, Ungestalten, in dem die Gier falscher
Propheten und windiger Religionsgründer, Religionsschieber am liebsten fischt.
So hätten auch wir jetzt wieder eine tiefe Selbstbesinnung not: eine Romantik,
aber eine, die nicht, wie jene damals, in der bloßen Forderung des Romantischen
stecken, nicht Fragment, nicht ein bloßes Spiel mit frommen Wünschen bleibt,
sondern die Kraft hätte, das Romantische zu verwirklichen durch eine
Lebensform, in der Erfahrung sich der Idee so nähert, daß sie sie fast
erreicht, daß wir hier im strömenden Werden uns schon des ewigen Seins
vergewissern, daß wir im täglichen Leben auf Schritt und Tritt Zeugnis geben von
der währenden Gegenwart Gottes mitten unter uns, Zeugnis davon geben durch
unsere Tat; den AktivismusBewegung im Umfeld des literarischen Expressionismus, die auf eine Aktivierung bzw. Involvierung der Geistigen in die Po... einer
katholischen Romantik hätten wir not.
Jene Lebensform war im Abendland bis ans Ende des Barock
wirksam.
Unsere Literatur hat von ihr einen klassischen Ausdruck
aufbewahrt: in der Makarie der Wanderjahre. Diese geheimnisvolle Gestalt ist
hier auf Erden schon des Jenseits ganz unmittelbar, ja sie glaubt, an ihm
zuweilen teilzunehmen, sie wechselt zwischen hier und dort hin und her: „Bald
gibt sie bei frisch aufleuchtendem Inneren sich der seligsten Ruhe hin“, bald
wieder, wenn ihr der Blick hinüber entzogen und sie in unseren trüben Zustand
zurückgesenkt wird, benützt sie, „bei gedämpftem inneren Licht“ die Pause zu
wohltätiger Wirksamkeit unter den Menschen. Goethe hat hier nach dem Leben
gezeichnet: es ist die Lebensform des heiligen Ignatius, der heiligen Therese,
des heiligen Philippus Neri, die Lebensform des Eucharisten. Wer das
allerheiligste Sakrament empfängt, berührt das ewige Sein. Das allerheiligste
Sakrament bringt uns in die Wahrheit hinüber. Und kehren wir dann aus ihr in
den Schein, aus der Ewigkeit in die Zeit, aus dem Sein wieder ins Werden
zurück, wir bleiben doch in der Gegenwart Gottes und können sie bezeugen durch
unsere Tat. Der Grieche konnte sich dem „Prototypon“ nur durch Abbilder seiner
Ahnungen davon, durch Wunschbilder nähern: wir, des Urbildes selber unmittelbar
gewiß, trachten es in unserem irdischen Tun, jeder durch sein Tagewerk,
nachzubilden. Unser ganzes irdisches Dasein, ob wir wachen oder schlafen,
denken und dichten aber handeln und herrschen, frohlocken oder wehklagen, ganz
einzustellen in den Flammenhauch der Eucharistie, das wäre katholische Romantik
der Erfüllung.
In: Reichspost, 21.9.1922, S. 1-3.
Hermann Bahr: Katholische Romantik (1922)
Hermann Bahr: Katholische Romantik.
Auf der religiös-wissenschaftlichen Tagung des Verbandes der Vereine katholischer Akademiker in Heidelberg erstattete Hermann Bahrgeb. am 19.7.1863 in Linz – gest. am 15.1.1934 in München; Schriftsteller, Kritiker, Redakteur Der Sohn eines No... ein Referat, das wir hier in seinen wesentlichsten Ausführungen wiedergeben.
Romantisch nennen wir ein Stück Natur, das auf uns wirkt, wie wir das sonst nur von Werten der Kunst gewohnt sind. Romantisch ist, was, um ideal zu wirken, um seiner Idee zu genügen, fast keiner Nachhilfe, weder durch Kunst, noch durch unsere Phantasie bedarf. Erfahrung bleibt ja fast immer hinter ihrer Idee zurück, sie decken sich fast nie.
Das Gefühl dieser Insuffizienz ist es recht eigentlich, dass den Künstler hervorruft und produktiv macht. Je weniger nun ein Stück der Natur, um sich mit der Idee zu decken, erst einer Beihilfe des Künstlers braucht, je mehr ein Naturstück sich selber schon dem Kunstwerk nähert, desto „romantischer“ wirkt es.
Das ist der Sinn, mit dem das Wort vor etwa zweihundert Jahren im Sprachgebrauch auftaucht. Und leise klingt in dieses Wort auch noch die Mahnung hinein, wenn wir eine höhere Wirklichkeit, als uns das bürgerliche Leben gibt, finden wollen, sie am besten beim Volke zu suchen. Damit haben wir nun das Wort Romantisch mit seinem vollen Gehalt und haben damit aber auch schon den gesamten Sinn der Romantik in allen seinen Schwingungen. Die Romantik holt sich aus dem Wort Romantisch ihr Programm. Mit ihr erscheint eine Jugend, die jenes Gefühl der Insuffizienz aller Erfahrung, wenn man sie an der Idee mißt, so stark erlebt, daß ihr die Gegenwart unerträglich wird: sehnsüchtig blickt sie von dieser schalen, leeren, unzureichenden Wirklichkeit, in die sie sich eingezwängt sieht, weg auf das höfische Zeitalter zurück, das ihr von einer selber schon zu Poesie so gesteigerten und erhöhten Wirklichkeit scheint, daß der Poesie daran nichts mehr zu tun übrig blieb, als sie einfach abzuspiegeln. Keineswegs Flucht aus der Wirklichkeit will die Romantik also, sondern Flucht aus der Unwirklichkeit des Daseins, von dem sie sich umgeben sieht, in Wirklichkeit, in eine volle, ja exaltierte Wirklichkeit, die der Poesie. Auf das Erleben von Poesie kommt’s dem Romantiker an, sein eigenes Dichten ist nur ein Griff nach der Poesie des Lebens, und wenn uns heute noch der bloße Namen der Romantik bezaubert, dankt sie das nur ihrer Erscheinung, aber keinem ihrer Werke. Nur eins ist von ihr lebendig geblieben, bis auf den heutigen Tag: ihr innerlich tiefes, reines gewaltiges Lebensgefühl.
Schon im ersten Manifest der Romantik, in Friedrich Schlegels berühmten Aufsatz über den Wilhelm Meister, wird gefordert, „Inhalt und Form des Werks aus dem eigenen Leben zu nehmen“, auf erlebte Form wird gedrungen, jede nachempfundene, gar aber eine der Antike nachempfundene zurückgewiesen.
Die Romantik selber wußte nicht, daß eine solche verwegene Lossage von der Antike schon einmal versucht worden war, schon an den Toren der deutschen Renaissance: von der Spätscholastik nämlich, die uns erst durch Duben und den Marburger Philosophen H. Heimsoeth verständlich geworden ist. Aber dieser Versuch der Spätscholastik, die christlichen Wahrheiten aus ihrer Gebundenheit an die strengen festen Denkformen der antiken Ueberlieferung zu schälen, hat ein ganz unerwartetes Ergebnis: kaum sind die Bindungen der antiken Denkformen gelockert, entweicht die WahrheitBereits 1895 vom Kantor der sephardischen Gemeinde in Wien, Jakob Bauer, vor dem Hintergrund des anwachsenden Antisemiti... und schon drängt Irrtum an Irrtum vor, Willkür bricht ein. Gesetz wird vergessen. Es sieht fast aus, als könnte der Mensch des Abendlands, um in der Wahrheit festzustehen, des Stabs der antiken Denkform nicht entbehren.
Wie jene Denker der Spätscholastik, so glauben sich nun auch die Dichter der Romantik einer eigenen Form mächtig und bedürftig der Antike. Das Erlebnis der französischen Revolution, von der sich nach dem Strohfeuer der ersten Begeisterung Deutschland mit Entsetzen abwendet, bestärkt sie darin und durch die höchste Gestalt der Revolution, Napoleon diesen leibhaftigen Revenant der Antike, fühlt sie sich berechtigt ja fast sittlich verpflichtet dazu. Der Augenblick, einen eigensinnigen Ausdruck deutschen Wesens zu wagen, scheint da. Jeder Form, auch der reinsten, droht Erstarrung. So können wir den romantischen Trotz gegen die Antike verstehen. Er wurde der ganzen deutschen Ueberlieferung gefährlich, erst dadurch, daß der einen der romantischen Gruppen von vornherein ein Haß aller Form im Blut lag. Durch J. Nadler kennen wir die zwei Lager der Romantik und ihren Doppelsinn, daß sie nämlich den Altstämmen etwas ganz anderes bedeutet als den Neustämmen. Jenen, Rheinfranken und Alemannen vor allem, geht es ihr um Restauration ihres schon durch die „Aufklärung“ geschwächten, nun auch noch durch die französische Revolution bedrohten geistigen Erbes, während den Neustämmen, den Kolonisten des Ostens, überhaupt erst Gelegenheit gegeben ist, das Erbe des Mutterlandes anzutreten. Ein altes Volk sieht den Sinn seiner ganzen inneren Existenz gefährdet und, um sich wiederzufinden, um sich wiederherzustellen, beschwört es das Bild seiner Vergangenheit zur Hilfe herauf: das ist die Romantik der alten Stämme. Auswanderer, die eine neue Heimat gefunden haben, suchen wieder eine Verbindung mit der alten und dazu müssen sie sich rasch aneignen, was dort, seit sie fort sind, inzwischen geistig geschehen ist: das meint die Romantik des Ostens. Dieselben Worte haben darum im Mund eines jeden von beiden einen ganz anderen Sinn. Jene im Westen wollen, von verwegen neuem Geist bedroht, sich auf ihr altes Wesen besinnen. Diese im Osten müssen, um an diesem alten Wesen teilzunehmen, selber erst etwas ihnen ganz Neues werden. Ja sie müssen dazu noch erst einen geheimen Widerspruch im eigenen Blut überwinden: „unserer Nation ist mit der sarmatischen amalgamiert“, hat Zacharias Werner einmal gesagt: „Die Kolonisten sind nicht unvermischt geblieben und eben aus einer geheimen Furcht vor diesen fremden Wallungen im eigenen Blut wenden sie sich ins alte Vaterland.“ Die Altstämme haben sich nur wieder recht auf sich zu besinnen, die Neustämme müssen erst werden, was jene sind: jenen gehts um Restauration, diesen um Regeneration, sie müssen selber erst zu vollen Deutschen wiedergeboren werden. Daher können jene sichs leicht erlauben, gegen die Antike zu rebellieren: Sie sind ja fortwährend immer wieder antikisiert worden, durch den Romanismus der karolingischen Renaissance, den Romanismus der Hochscholastik, den Romanismus der deutschen Renaissance und ganz zuletzt noch eben jetzt wieder den Romanismus Weimars. Aber für die Neustämme hat jene Lossage von der Antike ganz einen anderen Sinn, hier gerät durch sie der Wille der ganzen Bewegung in Gefahr, der Wille, heimzukehren ins alte Vaterland, das Erbe der deutschen Vergangenheit anzutreten, einer doch von der Antike ganz durchwachsenen Vergangenheit, die zerrissen würde und auseinander fällt ohne die Antike!
Ja noch mehr: Die Neustämme hätten sich, wäre dieser dumpfe Drang nach Lösung von der Antike durchgedrungen, damit ausgesperrt vom Abendland und in den gestaltlosen Osten verbannt. Denn das Abendland kann, um sich Form zu geben, die Hilfe der Antike nicht entbehren.
Wir berühren hier ein Geheimnis der abendländischen Völker, das ihnen selber unbegreiflich ist und immer wieder zu Zeiten unerträglich wird. Alle großen Epochen dieser Völker beginnen mit einer Revolte gegen den Zwang zur Form der Antike, um immer wieder mit einer neuen Eingebung in diesen Zwang zu enden. Denken wir die Form der Antike!
In „Begreifen“ ruht die Leistung der griechischen Wissenschaft, wie der griechischen Kunst. Im Bilde, im Begriffe hält der Grieche die fortstürzenden Erscheinungen an, er glaubt, sie zum Stehen zu bringen, das Werden zu sistieren, ein beruhigtes Sein gewonnen zu haben. Ja noch mehr: An diesem Sein, in das er das Werden bildend bannt, glaubt er ahnungsvoll zugleich auch schon ein Abbild jenes anderen, des großen, hinter allem entrinnenden Schein des Werdens verborgen ruhenden Sinns zu berühren, das vor allem Werden immer schon war und auch wenn einst alles entworden ist, immer noch sein wird: „aute he usia“! Grieche sein heißt, im Schein des Werdens schon ein Jenseits davon ahnen: ein Sein, und sich nun Zeichen dieser Ahnungen machen, das Zeug zu solchen Zeichen des Seins sich freilich wieder aus dem Schein des Werdens holend, die darum niemals das Sein erreichen können; sie deuten nur hinüber, aber sie bringen ihn nicht hinüber, er kommt nicht zur Wahrheit, er kommt nur bis zum Mythos. Wir aber, wir abendländischen Christen, sind wirklich das Gegenteil des Griechen, wir können uns keine Mythen mehr bilden, weil wir keine Mythen mehr brauchen können, denn uns trennt vom Griechen ein ungeheures Erlebnis: das Sein selber ist unter uns erschienen, die Wahrheit hat in Person unter uns gewohnt, das Wort ist Fleische geworden und ist im allerheiligsten Sakrament unter uns geblieben, so daß wir jetzt mitten im Werden schon unmittelbar teilnehmen können am Sein. Der Grieche rette sich ins Bild, wir retten uns ins Sakrament; er wandelt im Bilde, wir wandern in der Gegenwart Gottes!
Aber dadurch ist das Bild doch keineswegs entwertet: sein Wert hat nur fortan einen anderen Akzent. Dem Griechen ist das Bild ein Zeichen seiner Ahnung eines verborgenen Seins, uns ist es ein Abzeichen unserer Gewißheit des uns offenbarten Seins. Auch wir, wenn auch der Beruhigung des Ewigen teilhaft, müssen ja dann doch immer wieder in die Zeit zurück, an unser irdisches Werk herab: Hier können wir uns über das Himmlische nicht unmittelbar, sondern nur durch eine Zeichensprache verständigen. So haben denn die jungen Völker des christlichen Zeitalters, sobald sie das Bedürfnis nach Zeichen ihres neuen Denkens, ihres neuen Fühlens, ihres neuen Daseins empfanden, einfach die griechischen übernommen und diese durch den neuen Gehalt unablässig von Jahrhundert zu Jahrhundert christianisiert. Was wir heute griechische Form nennen, sei es im Denken, sei es im Bilden, ist griechischer Abstammung zwar, aber es ist längst nicht mehr ein reines Griechisch, es ist ein getauftes Griechisch. Das Christentum hat seine Kraft am schönsten durch die schonende Geduld gezeigt, mit der es von den alten Völkern jede keimende Wahrheit zart in Obhut und Pflege nahm. Nicht zerstörend, sondern erfüllend kommt das Christentum zu den Völkern, und wo nur immer Erkenntnis glimmt, facht es den Funken an. Aber eben indem das Christentum die geistige Mitgift der Völker in seine Hut nimmt, schafft es sie wesentlich um, es verwächst mit ihr, und so völlig, daß man sie nun nicht mehr wieder von ihm ablösen kann, ohne damit auch es selber zu verletzen. Jeder Versuch, sei es der christlichen Wissenschaft, sei es der christlichen Kunst, von den antiken Bindungen loszukommen, hat bisher immer nur wieder Irrtum und Formlosigkeit ergeben: Die Romantik, die trotz reinsten Willens, rechter Einsichten, klarer Absichten, mit ihrem erstaunlichen Reichtum an Begabung nichts zu wirken vermag und ein Chaos zurückläßt, aus den bisher noch keine der abendländischen Nationen wieder zur Form zurückgefunden hat, ist das letzte warnende Beispiel.
Unsere Zeit erinnert an die der Romantik so sehr, daß sie fast eine grobe, sinnlos übertriebene Karikatur von ihr scheint. Alles um uns und in uns wankt, Ungesetz, Willkür und Frevel walten frei und wieder sehen wir die Ratlosigkeit einer aufgescheuchten Menschheit, ausgenützt von Abenteurern und Betrügern, überall wird mit Magie hausiert, der Sinn fürs Heilige wird durch alberne Fälschungen gefoppt, und wieder ist es jener alte Hang kimmerischer Schwärmer zum Trüben, Ungestalten, in dem die Gier falscher Propheten und windiger Religionsgründer, Religionsschieber am liebsten fischt. So hätten auch wir jetzt wieder eine tiefe Selbstbesinnung not: eine Romantik, aber eine, die nicht, wie jene damals, in der bloßen Forderung des Romantischen stecken, nicht Fragment, nicht ein bloßes Spiel mit frommen Wünschen bleibt, sondern die Kraft hätte, das Romantische zu verwirklichen durch eine Lebensform, in der Erfahrung sich der Idee so nähert, daß sie sie fast erreicht, daß wir hier im strömenden Werden uns schon des ewigen Seins vergewissern, daß wir im täglichen Leben auf Schritt und Tritt Zeugnis geben von der währenden Gegenwart Gottes mitten unter uns, Zeugnis davon geben durch unsere Tat; den AktivismusBewegung im Umfeld des literarischen Expressionismus, die auf eine Aktivierung bzw. Involvierung der Geistigen in die Po... einer katholischen Romantik hätten wir not.
Jene Lebensform war im Abendland bis ans Ende des Barock wirksam.
Unsere Literatur hat von ihr einen klassischen Ausdruck aufbewahrt: in der Makarie der Wanderjahre. Diese geheimnisvolle Gestalt ist hier auf Erden schon des Jenseits ganz unmittelbar, ja sie glaubt, an ihm zuweilen teilzunehmen, sie wechselt zwischen hier und dort hin und her: „Bald gibt sie bei frisch aufleuchtendem Inneren sich der seligsten Ruhe hin“, bald wieder, wenn ihr der Blick hinüber entzogen und sie in unseren trüben Zustand zurückgesenkt wird, benützt sie, „bei gedämpftem inneren Licht“ die Pause zu wohltätiger Wirksamkeit unter den Menschen. Goethe hat hier nach dem Leben gezeichnet: es ist die Lebensform des heiligen Ignatius, der heiligen Therese, des heiligen Philippus Neri, die Lebensform des Eucharisten. Wer das allerheiligste Sakrament empfängt, berührt das ewige Sein. Das allerheiligste Sakrament bringt uns in die Wahrheit hinüber. Und kehren wir dann aus ihr in den Schein, aus der Ewigkeit in die Zeit, aus dem Sein wieder ins Werden zurück, wir bleiben doch in der Gegenwart Gottes und können sie bezeugen durch unsere Tat. Der Grieche konnte sich dem „Prototypon“ nur durch Abbilder seiner Ahnungen davon, durch Wunschbilder nähern: wir, des Urbildes selber unmittelbar gewiß, trachten es in unserem irdischen Tun, jeder durch sein Tagewerk, nachzubilden. Unser ganzes irdisches Dasein, ob wir wachen oder schlafen, denken und dichten aber handeln und herrschen, frohlocken oder wehklagen, ganz einzustellen in den Flammenhauch der Eucharistie, das wäre katholische Romantik der Erfüllung.
In: Reichspost, 21.9.1922, S. 1-3.
Otto Koenig: Annette. Oder alles verkehrt (1920)
Theodor Tagger gehört zur Gilde derer, die mit brennender Sehnsucht das geistig Gute suchen, auf die Art, wie das zur Flagellantenzeit im Mittelalter Mode war. Er und seine Genossen, Wolfenstein, Sternheim, Kornfeld sind besessen davon, besessene Menschen zu schildern. Tagger tut dieses etwas weniger tragisch und etwas mehr konventionell als jene. Die äußerlichen Zeichen der inneren glühenden Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen sind bei Tagger ebenso konsequent ausgedrückt wie bei seinen expressionistischen Brüdern in Apell. Aber sie bleiben in einfacher Veränderung der Wortfolge (Inversion) etwas gar zu äußerlich. – Und dann, daß Tagger sein Problem niemals rein tragisch, sondern grimmig ironisch fasst. Der Zyklus seiner Komödien, vom Untergang der Welt „1920“ umfasst bisher zwei Komödien, welche beide im innersten Kern tragisch sind: „Harry“ und „Annette“. In beiden Komödien will der Autor, dessen Losungswort mit Leonhard Frank ja doch ist: „Der Mensch ist gut!“, seine ungeheure Empörung über die im Spekulations- und Geldschwindel aufgehende Ethik des „bürgerlich gesinnten“ Weltpöbels dartun. Wenn nun auch das Volkstheater in den Kammerspielen uns einstweilen nur die zweite, leichter spielbare Komödie dieses Zyklus, nämlich „Annette“, bietet, so ist es bei dem Ruf dieses Ensembles eine selbstverständliche Forderung, daß diese Komödie, welche die in Erotik schwindelhaft arbeitende Weibsfigur der Annette vom Dienstmädchen bis zur Gönnerin und Geberin eines Künstlers „hebt“, auch mit jener grimmigen Satire, mit jenem Sarkasmus gespielt wird, welcher einen unentbehrlichen Bestandteil der Kunst bildet, die Tagger und seine Genossen verteidigen. Das war nun nicht der Fall. Das wurde in den Kammerspielen, weil die Rechnung auf eine Vorstellungsreihe vor Schiebern geht, nicht berücksichtigt. So wurde der Dichter ad absurdum geführt. Nur im letzten Akt merkte man Spuren der Absicht. Wir haben eine Posse gesehen, die allerdings verschiedene Längen des Stückes wohltätig deckt, aber die auch Taggers Werk innewohnende Tendenz „Mensch sei gut“ ins Komische verzerrt. Es handelt sich darum, dass Annette durch rein körperliche Liebe und durch eine dem gegenwärtigen Schwindelgeist angemessene couragierte Pfiffigkeit zur Siegerin wird über alle, die ebenso denken, aber auch über einen, der anders dachte und fühlte. Das ist bitter höhnisch gemeint, aber kompromißlerisch süß gebracht. Denn die Regie scheint vorgezogen zu haben, den etwas überstiegen ideologischen Künstler mit sämtlichen Personen des Werkes in eine Sphäre zu ziehen mit dem Publikum, das sie aus Kassegründen erwartet. Aus Gründen der dramatischen Technik ist es nicht möglich, daß dieser Musiker Messerschmied von vornherein als ein „Schwindler“ gezeigt wird, sondern es ist notwendig, zu zeigen, daß auch er durch seine materielle Schwäche dem Schwindelgeist erliegen muß, der augenblicklich erfolgreich ist. Ein Schein dieser ernsten Tendenz ergab sich, wie gesagt, erst im letzten Akt, der auch darum in der Erstaufführung nur spärlich beklatscht wurde. Es ist nicht angenehm, im wohlbezahlten Parkett zu sitzen und über sich eine brennende Strafpredigt ergehen zu lassen. Das mag sein. Es ist aber auch nicht fein, ein Stück zu verzerren ausschließlich zum Genuss eines Publikums, das kaum noch eines Genusses fähig und lange nicht mehr eines Genusses wert ist. Nach „Wetterstein“ haben wir die praktische Umwertung aller literarischen Werte in den Kammerspielen nun zum zweitenmal erlebt. „Annette“ ist ein Stück, das sich in geeigneter Darstellung sehr wohl eignet, unseren Arbeitern gezeigt zu werden als ein Dokument sozialen Gewissens inmitten universaler Gewissenlosigkeit. In geeigneter Darstellung! – In der gebotenen Aufführung hat sich Traute Carlsen mit einem ungeheuren Aufwand von Raffinement in jeder der von der Rolle diktierten raffinierten Szenen verdient gemacht. Hans Ziegler wird mit einer unübertrefflichen Wahrscheinlichkeit in der Darstellung von unbesinnten Geschäftsjuden noch ein eigenes Rollenfach begründen. Karl Göß leistete sich im expressionistischen Drama, bewusst Komödie genannt, eine höchst naturalistische Darstellung. Das Anlügen des zermürbten Greises war veristisch unübertrefflich. Der Darsteller ist aber damit jenem Stil nicht näher gekommen, den der Autor für sein Werk wünschen muß. Ja, man kann ja auch jenseits des Autors spielen! Und so machten es alle anderen auch. Alle anderen, die possenhaft ganz famos spielen! Am erfolgreichsten Herr Aurel Nowotny, der die Kernrolle mit Geschick ins Gegenteil verkehrte. Der Beifall war, nachdem das Publikum mit Ausnahme der zu Kompromissen geneigten Literaten mit gutem Grunde davon überzeugt sein konnte, daß man nicht Ernst macht, imposant.
In: Arbeiter-Zeitung, 19.12.1920, S. 7.
Béla Balázs: Die amerikanische Atmosphäre (1924)
Die Atmosphäre ist wohl die Seele jeder Kunst. Sie ist Luft und Duft, die, wie eine Ausdünstung der Formen, alle Gebilde umgibt und ein eigenes Medium einer eigenen Welt schafft. Diese Atmosphäre ist wie der nebelhafte Urstoff, der sich in den einzelnen Gestalten verdichtet. Sie ist die gemeinsame Substanz der verschiedenen Gebilde. Sie ist die letzte Realität, die letzte Realität jeder Kunst. Wenn diese Atmosphäre einmal da ist, kann die Unzulänglichkeit der einzelnen Gebilde nicht mehr Wesentliches verderben. Die Frage nach dem »Woher?« dieser speziellen Atmosphäre ist immer die Frage nach der tiefsten Quelle jeder Kunst.
Nun, es gibt zum Beispiel, amerikanische Filme, deren Fabelinhalt nichtssagend und einfältig, in denen das Spiel (das mit seiner Gebärden= und Mienenlyrik vieles ersetzen könnte) auch unbedeutend ist und die unser Interesse dennoch von Anfang bis zu Ende wach halten. Das kommt von ihrer lebendigen Atmosphäre. Sie haben jenes dichte, duftige Fluidum des Lebens, das nur die allergrößten Dichter manchmal mit Worten fühlen lassen können. Und dann sagen wir: »man spürt ordentlich den Geruch der Zimmer, wenn Fluaubert [recte: Flaubert] eine Wohnung beschreibt,« oder »es wässert einem der Mund, wenn Gogols Bauern essen.« Siehe, diese sinnfällige, riechbare und schmeckbare Atmosphäre schafft jeder gute amerikanische Regisseur.
Die ganze Geschichte ist vielleicht einfältig, vielleicht auch kitschig=verlogen. Aber die einzelnen Momente sind so warmen Lebens voll, »daß man ordentlich den Duft spürt.« Warum Held etwas tut, das hat oft keinen Sinn, aber wie er es tut, das hat Naturwärme. Das Schicksal der Helden ist leer, aber seine Minuten sind reich gestaltet.
In Wien spielte man unlängst einen sehr unbedeutenden Film von einer unglücklichen Liebe eines Krüppels. Da führt aber einmal dieser lahme Bräutigam seine Braut auf den Jahrmarkt aus. Eine Flut und Brandung von Bildern der Kraft, die den körperlich unzulänglichen Krüppel verschüttet und erdrückt. Es ist ein dünnes Hageln kleiner Momente des materiellen Lebens, daß den schwachen Mann zuletzt töten muß. Es wird eine Atmosphäre geschaffen, in der er erstickt.
Oder das Mädchen geht nachher zu dem Bräutigam um ihm zu sagen, sie wolle ihn nicht heiraten. Doch die Wohnung ist schon zur Hochzeit geschmückt. Die Kränze und Sträuße, die Geschenke und die hundert kleinen materiellen Zeichen einer Zärtlichkeit werden nun einzeln gezeigt. Es entsteht dadurch ein dicker Dunst von Güte um das Mädchen, in dem sie den Weg verliert. Wie sie die vielen kleinen Tatsachen des Jahrmarktes zu einem Fluidum des Lebens verdichtet haben, das der Schwache und Lahme nicht durchwaten konnte, so fühlt man in diesem Hochzeitszimmer das Gewicht der Dinge und Tatsachen dagegen die Seele nicht aufkommen kann.
Das ist jene starke Atmosphäre, die im Film durch die große Rolle und Bedeutung der sichtbaren Dinge entsteht. Diese Bedeutung haben Dinge in der Poesie, welche mehr auf einen abstrakten Sinn eingestellt ist, nicht. Darum kann auch keine Poesie diese spezifische Atmosphäre, dieses »Wesen« der Materie (ein gutes, altes Verbum) schaffen.
Das hat aber noch einen anderen Grund. In der Welt des sprechenden Menschen sind die stummen Dinge viel lebloser und unbedeutender als der Mensch. Sie bekommen nur ein Leben zweiten und dritten Grades, und das auch nur in den seltensten Momenten besonders hellsichtiger Empfindlichkeit der Menschen, die sie betrachten. Auf dem Theater ist ein Valeurunterschied zwischen dem sprechenden Menschen und den stummen Dingen. Sie leben in verschiedenen Dimensionen. Im Film verschwindet dieser Valeurunterschied. Weil sie nicht weniger sprechen als die Menschen, darum sagen sie soviel. Das ist der Rätsel jener besonderen Filmatmosphäre, die jenseits jeder literarischen Möglichkeit liegt.
Es gibt einen Typus amerikanischer Filme, deren einziger Inhalt diese Atmosphäre ist. Keine komponierte Fabel, keine aufgebaute Handlung stört das kontur= und richtungslose Fluten des rein Stofflichen. So sind z. B. die amerikanischen »Mutterfilme«, die in letzter Zeit jede bessere Kunstarbeit in Tränen ersticken.
Wir wollen auf die sozialpsychologischen Gründe dieser neuen Filmmode nicht besonders eingehen. Wie es Zeiten gab, da man Menschen, die sich gegen das irdische Unrecht empörten, auf die himmlische Gerechtigkeit und das himmlische Glück verwies, so lenkt man jetzt die Aufmerksamkeit jener, die mit der Gesellschaftsordnung unzufrieden sind auf das intime Glück der Familie.
Was das Künstlerische dieser Filme betrifft, so ist es ein ungestaltetes Stimmungsrohmaterial. So ein Mutterfilm, wie dieser, der in Wien eben gespielt wird, ist überhaupt kein Kunstfilm, was uns alle nicht daran hindern wird dicke Tränen zu weinen. Es ist ein Konoreport [recte: Kinoreport] des Familienlebens, ein Lehrfilm, ein Uraniafilm von der Mutterliebe. Er hat keine aufgebaute Fabel, keinen komponierten Text, keine geistvollen spannenden Verwicklungen, keine großen Spielszenen, überhaupt gar nichts, was die Kunst hineingebracht hätte.
Wie ein Uraniafilm uns etwa die verschiedenen Etappen der Zigarettenfabrikation zeigt, so zeigt uns dieser Film die Gemütszustände einer Mutter, die von ihren aufwachsenden Kindern allmählich verlassen wird. Weil man aber selbst eine Mutter hat, oder hatte, so denkt man ihrer mit feuchten Augen.
Es ist eine fertig vorgefundene Naturwirkung, die in diesem Fall benützt wird um die künstlerische Wirkung zu ersetzen. Freilich liegt es in der Eigenart und im Wesen des Films, daß er die Natur als Materie gebraucht. Aber sie hat dieses Material zu verarbeiten, einzubauen in das geistige Gebäude des Kunstwerkes. Natur allein tut es nicht. Edelsteine sind wertvoll, und schön. Zum Kunstwerk werden sie doch nur in der Hand des Goldschmieds.
Mary Carr ist eine große Schauspielerin. Ihr Talent entfaltet sich aber in diesem Film sozusagen gegenstandslos. (Ach wie oft, wie oft geschieht das auf Filmen, wo bedeutende Schauspieler unbedeutende Rollen spielen müssen.) Wie wenn ein Sänger darauf los singt, ohne eine Melodie zu haben. Wir ergötzen uns an dem Material einer herrlichen Stimme, wir sind entzückt von der Naturerscheinung, ihres Talents und sehnen uns danach an den festen Formen eines Kunstwerkes sich emporranken zu sehen.
In: Beiblatt der „Muskete“, Film=Beilage, Jänner 1924, S 1f.
Erhard Breitner: Die Br-Generation. Bronnen und Bruckner in Berlin. (1928)
Erhard Breitner: Die Br-Generation. Bronnen und Bruckner in Berlin.
KATALAUNISCHE SCHLACHT.
Vier Jahre lang hat Arnolt Bronnen darauf warten müssen, daß Jessner sein für das Staatstheater erworbenes Stück auch aufführe. Wenn das einem Akkreditierten zustößt, mit welchen Fristen haben dann Außenseiter zu rechnen? Oder mißtraute Jessner der Erfolgmöglichkeit? Niemand wird je dieses Geheimnis lüften, man muß sich begnügen, bedauernd festzustellen, daß Bronnens Werk während der Lagerung Schimmel angesetzt hat – kein gutes Zeichen für die Dauerhaftigkeit dramatischer Erzeugnisse. Zum Welken verurteilt, ehe man blühen durfte, ein hartes Los!
Der Krieg, hier Gevatter des Handlungsymbols, ist inzwischen selbst zum Symbol geworden, sein Schatten hat sich verkürzt, man empfindet ihn – wie ehedem – schon wieder fast wie eine Begriffshülse. Daran ist Bronnen schuldlos. Auch konnte er nicht wissen, daß eine Serie amerikanischer Filme das immerhin vorhanden gewesene Bedürfnis nach kriegsuntermalten Themen bis zum Überdruß decken werde.
Dennoch ist zu sagen, auch heute noch, daß des Verfassers Grundidee, stark, rein, tragend und voll Schwungkraft ist, und ihm ein erster Akt gelingt, der sich einhämmert, der die Schauer des Gepacktwerdens, der Anteilnahme, der heftigsten Bejahung hervorruft.
In der Hölle eines Unterstandes – Jahr 1928 – Giftgas, Granaten, Tod. Der Leutnant hat seine als Burschen verkleidete Frau bei sich. Trifft auf seinen Bruder, den Hauptmann, der ihn, um ihm das Weib abzujagen, hinausschickt zum Beobachtungsposten, von wo es keine Wiederkehr gibt. Sie fliegt dem Überlebenden an den Hals, indessen noch drei andere sie umlauern. Zweiter Akt in der Loge eines Pariser Kinos: Dieselben drei jagen der Frau nach, die, verfolgt vom Gespenst des toten, in seiner letzten Stunde betrogenen Gatten, den Hauptmann niederschießt. Dann zuletzt: am Bord eines Atlantikdampfers. Die Frau, von drei Lebenden und zwei Toten verfolgt, nimmt Gift. Materialisiert ist das Gespenst in einer Grammophonplatte, die die Stimme der Sterbenden aufzeichnete.
Seelische und leibliche Wirrnis, gewachsen aus dem großen Morden und die Zeit nach ihr zeichnend, ist der Akkord, auf den die Geschehnisse gestimmt sind. Diese, in ihrer Atemlosigkeit und grellen Färbung, tragen geflissentliches Gepräge der Kriegstage. Aber das sollte bloß Gerüst sein, Stützbalken der Bühnenwirksamkeit. In der Aufführung jedoch treten nur die Knallszenen hervor, man sieht sich einem zügellosen Sketch gegenüber, die Idee verschwindet. Denn man hat Bronnen zwiefaches Unrecht getan: nicht nur, daß man ihn allzulange warten ließ, sein Drama wurde auch durch brutale Kürzungen verstümmelt, was übrig blieb, war eine Andeutung dessen, was er sagen wollte, und allenfalls blieb das Tempo. Wer das Buch gelesen hat, weiß, daß hier ein zweifellos wertvolles Werk, das besseres Los verdient hätte, zugrunde gerichtet worden ist. Schließlich wird der Fall durch das Malheur erschwert, daß Heinz Hilpert, der Regisseur, unter seinem sonstigen Niveau blieb: ihm gelingt straffe Zusammenfassung des ersten Aktes; Walter Frank und Lothar Müthel – die beiden Brüder – und Maria Bard vereinigen sich zu geradezu beklemmend wuchtiger Wirkung. Hernach aber flattert das Spiel auseinander, verblaßt und man wird Zeuge des Verlustes dieser Katalaunischen Schlacht.
„KRANKHEIT DER JUGEND.“
Der Verfasser spielt ein neckisches Versteckspiel: sein Name – Ferdinand Bruckner – soll ein Pseudonym sein. Auch wird geflissentlich Dunkel darüber gebreitet, wo er lebt. In Wien als Arzt? In Reims bei einem Patienten? Jedenfalls, als er zum Schluß gerufen wurde, zeigte er sich nicht, und das ist immer ein Mittel, sich interessant zu machen, wenn auch kein neues.
Das Werk (das in Wien, Breslau, Hamburg bereits gespielt wurde) soll etliche Jahre alt sein, aber man wäre nicht überrascht, zu erfahren, es sei um die Jahrhundertwende geschrieben. Denn diese „Krankheit der Jugend“, ihre erotische Not, besteht heute kaum mehr oder doch nur in solchen Einzelfällen, daß sie den typisierenden Titel nicht rechtfertigt. Die sportentflammte Jugend unserer Zeit ist von einer verblüffend glatt funktionierenden, fast maschinell funktionierenden Sexualität, bei der Eros eine überflüssige Figur geworden ist und längst entlassen wurde. Was sich hier in der Studentenpension von Frau Schimmelbrodt vollzieht, sind verklungene Katastrophen, und wenn auch in ihrer tragischen Abwandlung modernste wissenschaftliche Nomenklatur auftaucht, so muten sie dennoch an wie Historik.
Gustav Hartung als Regisseur des Abends machte in seiner Renaissance-Bühne dort, wo es darauf ankam, aus dem Drama handfestes Theater, erreichte aber zugleich vollendete Abtönungen und per saldo eine ausgezeichnete Aufführung, die wiederholt Beifall auf offener Szene hervorrief, besonders bei der Darstellerin des Dienstmädchens, Fräulein Hilde Körber, die, bisher kaum bekannt, trotz ihrer kleinen Rolle eine starke Begabungsprobe ablegte. Auch Fräulein Lennartz, Frau Mewes und Erika Meingast fanden, jede für sich, überzeugende Ausdrucksmöglichkeiten. Einige Grade darunter die Herren: Adalbert v. Schlettow gibt breite Brutalität, Herr v. Rappard schlichtes Sentiment.
Der Erfolg des Abends war wohl zum großen Teil, dank der Darstellung, überaus lebhaft.
In: Die Bühne (1928), Nr. 183, S. 10.
Ea von Allesch: Tanz und Mode (1920)
Ganz genau läßt es sich kaum feststellen, ob die Mode den Tanz oder dieser die Mode beeinflußt. Wahrscheinlich unterstützen sie sich gegenseitig und stammen beide aus engverwandten seelischen Gebieten, welche besser nicht näher untersucht werden sollen. Jedenfalls, ob du nun tanzt oder ob du nicht tanzt, verehrte Leserin, du mußt ein Tänzerinnengewand anlegen, wenn du dich dem herrschenden Modeprinzip unterwerfen willst. Sich der Mode anzupassen war aber von jede rigueur und sozusagen mitnichten abenteuerlich. Heute aber wirst du einfach durch die Mode umqualifiziert; du bist angezogen wie eine „Tänzerin“, die mit ihren Prächten bestechen will, nicht wie eine Dame, die tanzt. Tänzerinnenkleider können sehr schön sein, und sie sind es auch jetzt, darüber ist gar kein Wort zu verlieren; früher aber mußten die Tänzerinnen schön sein.
Die Mode, die fast nur ein Stückchen Rumpf verhüllt, Arme, Beine, Brust und Rücken frieren in ihrer Blöße, rechnet eigentlich sehr mit „Reizen“, doch es bleibt zumeist bei der idealen Forderung. Es steht zu erwarten, daß wir einer sehr unerotischen Ära entgegengehen, so abgestumpft werden die betreffenden Männeraugen durch die allzu große Freigebigkeiten im Zurschaustellen von holder und unholder Weiblichkeit. Doch wird ein zukünftiges Nonnenkleid das wieder gutmachen.
Dieses Tänzerinkostüm also ist ohne Ärmel und fast ohne Taille, eigentlich nur kärgliche Erinnerung an eine Corsage. Der Rock soll länger und weiter werden, doch merkt man noch wenig; wir tanzen noch kniefrei. Die Farben dagegen sind betörend sozusagen. Der Expressionismus hat da seine Hand im Spiel, wenn er überhaupt Hand und Fuß hat. Ein eigener Farbentiteldichter wäre nötig, um den verschiedensten Nuancen zwischen den uns gewohnten Farben gerecht zu werden. Silber mit Blau wie seligen Rokoko ist Trumpf.
So ein Tanzkleid, und jedes Abendkleid ist ein Tanzkleid, ist wirklich verführerisch. Zumeist hat es noch seitliche Drapierung, die aber nur aus Silberspitze, Tüll oder Pannestreifen besteht und sehr zart und zufällig wirkt. Auch das Stückchen Corsage ist aus Silberspitze, Tüll oder Brokat, und die Verbindung wird durch eine Perlenkette oder einen Pelzstreifen hergestellt, der über die Achsel führt. Volantkleider aus Tüll mit Silberstrickerei oder Mousseline de soie mit einem Panne- oder Satinleibchen sind wieder ganz modern.
Sehr phantastisch und dekorativ sind die Hüte. Neu die Verbindung von Silber- und Goldbrokat auf feurigem Farbengrund in Seide mit Pelz. Der ist immer weich und kappenartig, auch wenn der Hut breit ist, und wird dann mit Reiher oder Straußfeder geputzt. Originell sind die zahllosen weichen Kappen aus Brokat mit Pelz, mit Lack, mit Musselin oder aus grellfarbigem Panne, und die vielen legeren Wollkappen in den freudigsten Farben. Es wird gestickt und appliziert und gehäkelt, kurz, es tut sich sehr viel in der Hutbranche, und es ist kein Wunder, wenn die Moral von der angestachelten Sehnsucht nach diesen schönen Dingen etwas beiseitegedrängt wird.
Nie sah man so schöne und originelle Kostüme aus Stoffen, deren Oberfläche einen Hauch von in die Luft aufgelöster Farbe haben, mit minderwertigem, aber im Ton des Stoffes glänzend gefärbtem Pelz. Zumeist lang, weit, paletotartig mit Stehkragen, der oft mit einer Krawatte aus demselben Stoff gehalten wird, und Applizierungen aus Stoff- und Pelzstreifen zeigen sie viele neue und originelle Nuancen.
Ein Kapitel für sich wäre ein Bericht über die Wolljacken und -westen mit Schals und Mützen, die eine große Industrie geworden sind. Die Wolljacken sind Mäntel geworden, immer zweifarbig und sehr zärtlich bedacht von der Mode. Überhaupt es ist alles wieder da – ein Fläschchen Parfüm Houbigant kostet jedoch 2500 Kronen.
In: Moderne Welt, Unsere Pariser Modebeilage, Heft 9, 1920, S. 41f.
Ernst Fischer: Stadt im Licht (1928)
Lichtreklame.
Licht überschäumt die großen Boulevards mit roten, grünen, gelben und violetten Trunkenheiten, die Fassaden der Warenhäuser blühn durch die magische Nacht der Stadt wie ungeheure Orchideen, phantastische Lilien, abenteuerliche Magnolien, springen wie silberne Brunnen in den Himmel empor, leuchten wie Freudenfeuer über die Plätze hin. Tausende stehn und staunen, warten entzückt auf jede neue Verwandlung des riesigen Flammenspiels, genießen die ewige, alle Kreatur erfüllende Lust am Licht. Wie gern sie sich selber beschwindeln, die klugen, vernünftigen Menschen, wie gern sie sich selber beweisen wollen, das Zweckhafte, Nützliche, Rationelle sei es, was ihr Tun und ihr Schicksal bestimme: diese brennenden Blumen, diese funkelnden Fontänen, diese gigantischen Glanzgirlanden – alles nur Lichtreklame, alles nur maskiertes Geschäft, alles nur entfesselter Kommerz. Wirklich nicht mehr, wirklich nur ein wohlüberlegtes Manöver, um Käufer anzulocken, wirklich nicht das wunderliche Verlangen der Menschheit nach dem Pathetischen, Lodernden, Ueberflüssigen?
Gewiß: die Reklamechefs der Warenhäuser werden lang und breit den Beweis erbringen, daß diese großzügige und kostspielige Propaganda rentabel sei und die Kauflust steigere, und man wird sich das einreden lassen, man wird argumentieren, daß jeder Kaufmann sich hüten werde, so viel Geld zu investieren, ohne daß es sich lohnt. Ich bin kein Kaufmann, ich kann das nicht beurteilen, aber ich bin überzeugt, daß das eine Selbsttäuschung ist. Romantik, als Geschäftsinteresse kostümiert. Ich halte die Besitzer der großen Warenhäuser nicht für Romantiker, aber der Wille zur Prachtentfaltung, zur großen Gebärde, zur majestätischen Geste wirkt auch in ihnen und treibt sie in Experimente hinein, die kaufmännisch kaum zu rechtfertigen sind, verwandelt sie, ohne daß sie es wollen, in Mäzene, die verschwenderische Schauspiele geben, in Zauberer, die einen nächtlichen Platz mit orientalischen Märchen überschwemmen.
Die Technik wird zur Legende: man träumt in dieser Stadt, die von Lichtorkanen durchbraus ist, unter diesem Himmel, durchblutet von rote Reflexen, verwirrende Träume. Man verleiht sich in solchen Träumen die Macht eines Götersohnes [sic!] (der Reichtum eines amerikanischen Oelmagnaten genügt), um für eine geliebte Frau alle Boulevards, Avenuen und Plätze zu illuminieren, alle Türme in Flammenkonturen aufzulösen, die Stadt in ein Chaos von Sternen und und Rosen zu verwandeln. Lichtreklame für die Liebe, für die Seele, für jeden Herzschlag und für jeden Atemzug! Lichtreklame, Lichtreklame…! Wenn der Kapitalismus, die Konkurrenz der Warenhäuser zu solchem übermenschlichen Schauspiel sich steigert, in solchen Scheiterhaufen von allem Schmutz sich befreit, wie muß die Menschenseele lodern und leuchten in diesem wilden und ungestümen Jahrhundert, um die Menschen in einen heiligen Lichtrausch zu stürzen, emporzureißen!
Lichtreklame für die Seele…! Mitten unter den grellen Orchideen und riesigen Silberbrunnen hängt eine zarte und blasse Scheibe wie eine geisterhafte Frucht. Für welche Ware wirbt sie, für welche Firma schimmert sie so rührend// und schüchtern unter dem purpurnen Himmel? Die blasse Scheibe, die geisterhafte Frucht ist der Mond, der wirkliche Mond, der sich zwischen den strahlenden Bogenlampen verirrt hat.
Stimme der Seele.
Aber die Seele selber, die Seele von Paris, man sieht, man hört sie täglich in einem kleinen Theater. Sie ist eine Russin und heißt Madame Pitoëff: die Seele von Paris war immer eine Fremde, die an der Seine ihre Heimat gefunden und sich naturalisiert hat. Sie spielt in einem Stück, das, wie man sich am Theaterzettel überzeugt, nicht von Hans Müller, sondern von Lenormand ist1: eine Mutter, die für ihr Kind sich prostituiert, einen Mord begeht, an großen Diebstählen mitwirkt und allerhand Probleme in ihrem Busen birgt. Homosexuelle, Zuhälter, Verbrecherinnen geben ihre Philosophie zum besten, und die Erkenntnis, daß das Leben eine Mischung von Gut und Bös, von Seele und Leidenschaft, von Gott und Teufel ist, pocht auf ihre Originalität: sie gab dem Drama den Namen Mixture. Madame Pitoëff spielt in diesem effektvollen Stück die Tochter, das junge Mädel, für das die Mutter sich opfert, und man zittert, wenn sie die Hand bewegt, wenn sie den Mund öffnet, ist von Schauern, tiefster, körperloser Zärtlichkeit, intensivsten, melodischen Glücks bedrängt, hat im Hinterkopf ein merkwürdiges Kältegefühl – nur der Dämon der Musik wühlt so mit saugenden Lippen im Hirn, nur im Konzertsaal erlebt man manchmal diese beklemmende und beseligende Empfindung des Ausgetrunkenwerdens. Zart und zerbrechlich wirkt diese Schauspielerin, die ihrem Manne jährlich ein Kind gebiert, um einst eine Truppe der Familie Pitoëff zusammenstellen zu können, wie ein unerhört edles und dünnes Gefäß, das von Licht überfüllt ist, von dem sanften, grauen und starken Licht der Place de la Concorde, der Champs Elysees, der Boulevards, Licht, das in ihre Stimme quillt, das ihren Körper durchpulst, das von allen ihren Gebärden verschüttet wird.
Tiefste Erschütterung, wenn dieses schmale Geschöpf in unerwarteter Leidenschaft ausbricht, wenn sie mit eckiger und bezwingender Geste den Revolver gegen den Strolch erhebt, mit dem sie allein im kahlen Zimmer zurück blieb, wenn ihre Reinheit drohend und unbarmherzig wird und die Kraft eines Erzengels sie umpanzert, wenn sie, in der großen Szene des Dramas, der Mutter hell und unantastbar entgegentritt und die Freiheit ihres Lebens verteidigt. Kein Pathos, kein greller outrierter Ton, nur eine leise und liebenswerte Gewalt, eine Größe des Gefühls mit weich entbreiteten Schwingen, wenn sie der Mutter sagt: „Du willst dich an mir für die Opfer rächen, die du gebracht hast, du willst, daß es mir nicht besser gehe als es dir gegangen ist – aber ich will nicht, ich gebe mein Leben, mein Schicksal nicht preis.“ Und dann die Mutter, eine ausgezeichnete Schauspielerin, wie ein Granitblock der Schmerzen, der Qualen, und an ihren mächtigen mütterlichen Hüften hinabgleitend, unwirklich zart, unwirklich schmächtig wie ein versickernder Lichtstrahl, die Pitoëff – niemals vergißt man dieses Bild. Und niemals die melancholische Anmut der großen Künstlerin, niemals ihre wie aus wehenden Morgenwolken sickernde Lichtstimme.
Schauspiel im Freien.
Stundenlang schlenderst du über die abendlichen Boulevards, immer aufs neue verwundert, daß diese tausend und tausend Autos, diese tausend und tausend Menschen so glatt und geschmeidig aneinander vorübergleiten, daß dieser ungeheure Verkehr so wenig brutal, so höflich und liebenswürdig ist. Es hat geschneit, die Temperatur ist unter Null gesunken, aber auch die Kälte ist höflich und liebenswürdig und meidet barbarische Übertreibungen. Vor den Kaffeehäusern sitzen die Menschen im Freien, denn überall hat man große Füllöfen aufgestellt, die in dieser unwinterlichen Stadt für künstliche Frühlingswärme sorgen. Längs der Boulevards sind unzählige Buden aufgeschlagen, Buden, in denen man alles zu kaufen bekommt, was man sich wünschen kann: Strümpfe, Schuhe, Schals, Seidentücher, Manschettenknöpfe, Uhren, Puppen, Bücher, Majoliken, Zigarettenspitze, Kinderspielzeug, Lampen, Zuckerwaren, Taschenmesser, Parfümflakons, Teekessel, Landkarten und tausend närrische und übermütige Dinge. Das ist der große Weihnachts- und Neujahrsmarkt, der sich bunt und phantastisch entfaltet. Die Verkäufer und Verkäuferinnen sind Künstler, von denen viele Redner und Schauspieler lernen können: unermüdlich halten sie an die Vorbeieilenden formvollendete, witzige und pathetische Ansprachen, dichten sie ganze Romane, ganze Theaterstücke um die Waren, die sie feilbieten, erfinden sie Anekdoten, Legenden und Zaubergeschichten, um die fabelhaften und überirdischen Qualitäten des Gegenstandes, den sie in der Hand hochhalten, ins rechte Licht, in das jubelnde Licht des Boulevards zu rücken. Jede Bude ist ein kleines Theater, vor dem sich die Menschen ansammeln und auf die Zehenspitzen stellen, um alles zu sehen, alles zu hören; für die meisten ist das ein kostenloses Schauspiel, denn gekauft wird sehr wenig und die Verkäufer nehmen es keinem übel, wenn er sich hundert Dinge zeigen läßt, um endlich weiterzugehen, ohne einen Sou ausgegeben zu haben.
Andere fahren in Automobilen, in denen die Waren verstaut sind, durch die Straßen, lassen den Wagen irgendwo halten und beginnen in großer und farbiger Rhetorik über die Köpfe der Menge hin zu sprechen, und die Lust am gerundeten Wort, an der leidenschaftlichen Gebärde, an der geformten Sprache reißt sie hin. Wenn man einige Meter entfernt ist, meint man, ein Volkstribun fordere die Massen auf, Barrikaden zu bauen und für die Freiheit zu sterben – erst in der Nähe merkt man, daß nur ein armer Händler seine Puppen oder Krawatten oder Schuhputzmittel anbringen will. Einige Minuten lang hört man zu, dann wird man wieder fortgeschwemmt von dem weichen und elastischen Druck der lebendigen Welle; man fügt sich willig in den Rhythmus, fügt sich willig der Suggestion des Lichtes, steht auf einmal vor einem farbigen Glücksrad, das sich immerfort dreht, immerfort dreht (zwei Kilogramm Würfelzucker sind der Gewinn), wird auf einmal zu einem Schießstand hingespült, starrt auf einmal, eingekeilt in hundert Neugierige, in die glänzende Spiegelscheibe eines Warenhauses – und schlendert weiter, immer weiter, bis man fast betäubt ist vor Müdigkeit. Und plötzlich steigt wieder ein Springbrunnen silbern in den Himmel empor, blüht wieder maßlose Lichtreklame durch die Nacht.
Rote, grüne, gelbe, violette Sterne schmelzen über die Seine, tausend und tausend Glühwürmchen wirbeln über die Champs Elysees, über die Plâce de la Concorde, die Lichter der Automobile, summender, glitzernder Strom gewaltiger Lebensfülle, elektrische Flammen bäumen sich über die Dächer, der Himmel ist übersättigt von roten Reflexen. Stadt im Licht! Stadt im Licht!
Aber dort bei den Hallen, die wie eine gespenstische Drohung sind, liegt ein alter Mann, liegt eine Frau mit Kindern, liegen Menschen in Lampen auf Bänken und Pflastersteinen, um unter dem Winterhimmel zu schlafen.
In: Arbeiter-Zeitung, 8.1.1928, S. 7.
Moriz Scheyer: „Es.“ Drama in fünf Akten von Karl Schönherr (1922)
Zur Uraufführung im Deutschen Volkstheater.
Mit „Es“ hat Schönherrs Einsilbigkeit ihren Höhepunkt erreicht; zwei Personen: „er“ und „sie“ durch fünf Akte in einem und demselben Zimmer. Und dieses Zimmer – das Studierzimmer eines Arztes – entspricht ebenfalls dem einsilbigen Titel: in seiner kalten und unwohnlichen, nur auf das allernotwendigste konzentrierten Sachlichkeit, in seinem geflissentlichen Abbau jeder, auch der geringsten Behaglichkeit wirkt dieser Zweckraum durchaus wie ein geschlechtsloses Neutrum. Eine Sehenswürdigkeit ersten Ranges.
Und eine dramatische Kraftprobe ersten Ranges. Es gehört schon eine eiserne Hand und eine unglaubliche Oekonomie dazu, mit zwei Protagonisten und einer einzigen Dekoration, die obendrein seine ist, das Theater zu zwingen: während der drei ersten Akte wenigstens. In den beiden letzten freilich stemmt der herkulische Schönherr zuweilen die kolossalen Schwergewichte eines Pathos, das innerlich hohl klingt, und zum Schlusse zwingt das Theater seinen Bezwinger: da nimmt sich einer auf der Bühne das Leben, stirbt mit allen klinischen Symptomen einer Vergiftung, und im effektvollsten Augenblick erscheint noch die Frühlingssonne und tut ihre verklärende Schuldigkeit; nachdem drei Akte lang ein qualvolles und unversöhnliches Halbdunkel geherrscht hat. Aber die endlich hervorbrechende Sonne ist hier nicht wärmendes, leuchtendes Symbol einer Seele voll heimlichen, inneren Glanzes: sie wirkt lediglich als melodramatisches Rührungsrequisit.
Schönherrs Kraft ist zugleich auch seine Schwäche; mit derselben Wucht, mit der diese geniale, vor nichts zurückschreckende Gewaltnatur ihre zyklopischen Blöcke formt und schleudert, mit demselben Griff packt Schönherr oft ganz zarte und feine Dinge, und dann zerbrechen sie ihm hilflos zwischen den Fingern. Vorgefühle, dunkle und traumhafte Schwingungen löst er aus ihrer wunderlichen, lautlos horchenden Bezauberung und hebt sie unbarmherzig ans nüchterne Tageslicht. Es ist nicht immer gut, das Kind beim Namen zu nennen.
Vor uns auf der Bühne stehen und sprechen „er“ und „sie“; aber der eigentliche Held des Dramas ist das, was sich als Drittes unsichtbar zwischen die beiden stellt und hinter der Szene seine stumme Hauptrolle spielt: es, das Kind, das noch ungeborene, erst im Mutterleib keimende Kind.
„Er“, der Vater, ist ein junger und bereits sehr angesehener Arzt; in Wort und Schrift vertritt er leidenschaftlich die Theorie von der erblichen Belastung: daß kranke Menschen nur kranke Kinder in die Welt setzen können, kaum geboren und schon umwittert vom faulen Hauche der Verwerfung, und so weit soll es unter seiner Bedingung kommen dürfen. „Was krank ist, möge lieber nicht geboren werden.“ „Sie“, die blonde und tüchtige Frau, die früher Pflegerin auf des Gatten „Abteilung“ gewesen und dort die traurigsten Erfahrungen gesammelt hat, stimmt ihm rückhaltlos zu. Denn einmal sind die Frauen namhafter Gelehrter immer von deren Ueberzeugung durchdrungen, anderseits ist nichts leichter, als einer Theorie zu huldigen, solange sie in der Praxis au die anderen beschränkt bleibt. Auch der Kommunismus zum Beispiel ist eine Lieblingsidee begüterter Herrschaften geblieben, und von den sogenannten „Edelkommunisten“ verfügt fast ausnahmslos jeder neben seiner Gesinnung noch über ein entsprechendes Guthaben in Edelvaluta.
Kehren wir zu unserm Fall zurück. Dort werden „er“ und „sie“ eines Tages vor die praktische Probe auf ihre theoretischen Exempel gestellt: der junge Doktor konstatiert aus einer mikroskopischen Untersuchung, daß er von der Mutter her erblich mit hochgradiger Tuberkulose belastet ist, und die Frau wiederum entdeckt, daß sie Mutterfreuden entgegensieht. Daraus der Konflikt: „er“ will unter seinen Umständen an sich selbst zum Verräter werden; sein ganzes Lebenswerk, seine eigenen Tabellen und Statistiken und vor allem seine eigene Krankheit müßten wider ihn zeugen: das Kind darf nicht zur Welt kommen. „Sie“ wirft alle diese Argumente mit einer einzigen Handbewegung unter den Tisch. . . . Sie will ihr Kind, ganz einfach. Mag es krank sein, verkrüppelt, ja, mag es selbst frühzeitig sterben müssen.
Es ist etwas unsagbar Feierliches und Erhabenes um das ewige Urmysterium der Mütter; aber hier, wo es um ein Kind geht, das noch gar nicht da ist, wo ferner ein vom Tode gezeichneter Mensch sich nur der furchtbaren Verantwortung seiner eventuellen Nachkommenschaft gegenüber voll bewußt ist, hier ist der Mütterlichkeitsfanatismus dieser Frau von skrupelloser Selbstsucht nur schwer zu unterscheiden. Man möchte ihr zurufen: „Ja, siehst du denn nicht, das kranke, der zärtlich helfenden Mutterhände bedürftige Kind, das ist hier nicht „es“, ein Unbestimmtes, Ungeborenes, sondern „er“, dein Mann mit seinem armen, mitten entzweigebrochenen Leben.“
Durch einen chirurgischen Eingriff an der unfreiwillig narkotisierten Frau wird „es“ noch rechtzeitig von den gefährlichen Küsten des Daseins abgetrieben. Aber das Kind spielt selbst noch als Schatten unsichtbar weiter mit: es hat zwei Menschen einsam gemacht. Feindlich und lauernd stehen sich die beiden gegenüber.
Man kann sich des Gefühls nicht erwehren: diese Frau hat ihren Mann nie geliebt. Es ist besser so, daß er zugrunde gehen muß. Und es fällt einem das qualvolle Wort Strindbergs ein: „Das Schrecklichste ist, die Wertlosigkeit höchsten Glücks zu erkennen.“
Einmal glauben die beiden wieder einander gefunden zu haben. Aber es war nur der Trieb, der erbärmliche und verbissene Trieb, was ihre Körper in einer schwülen, selbstvergessenen Minute zusammenkuppelte, ohne Glanz und ohne Gnade. „Er“: verbrannt vom Sinnenhunger des Schwindflüchtigen, der sich noch mit letzter Gier an das entweichende Leben festsaugen möchte, „sie“: gepeinigt von dem gärenden Kräfteüberschuß des jungen, gesunden Weibes. Dann ist es zu Ende, für immer.
Dieses Ende wäre an sich schon tragisch genug; doch greift Schönherr zum Schlusse noch zu den krassesten Mitteln. Er läßt „ihn“ Gift schlucken; und nicht genug an dem: während der Unselige auf den Tod wartet, während er sich in Krämpfen windet, singt draußen eine frische, grausam unbekümmerte Stimme ein Kinderlied. Da weiß der Sterbende plötzlich, daß „sie“ nun zum zweitenmal Mutter werden soll, zum zweitenmal eine wurmstichige, lebensunfähige Frucht im Schoße trägt. Er ruft nach ihr, nach seiner Frau, verlangt Gegengift, noch wäre es Zeit, noch könnte er gerettet werden. Aber sie steht daneben, deklamiert ihm nochmals ihren ganzen Haß ins Gesicht und – läßt ihn ruhig sterben; weil sie Angst hat, er könnte zum zweitenmal seiner Pflicht als Vater und als Arzt nachkommen.
Heroismus? Mutterliebe? Nein; zum zweitenmal empfindet man: Rohheit, Unmenschlichkeit.
Obzwar die Höflich als „sie“ auf der Bühne steht; obzwar die prachtvolle Schauspielerin selbst im quälenden Dunkel noch ihr eigenes Licht auszustrahlen scheint, obzwar ihre Stimme selbst das härteste Wort noch zu der Milde und der Süßigkeit einer höheren Musik emporträgt. Wie einen kostbaren Mantel wirft die Höflich ihre Seele über die Blößen der Dichtung.
Herr Edthofer ist ihr Partner: ergreifend in Haltung, Geberde und Ton, von größter Einfachheit und Wahrheit in dem komplizierten Zerfetzungsprozeß eines immer rasender dem Tode entgegengaloppierenden Schicksals.
Nach jedem Akt – besonders nach dem dritten – rief starker Beifall die Darsteller und den Dichter; aber erst zum Schlusse erschien Schönherr, um den lauten Dank persönlich zu empfangen.
Schönherr hat uns da zu den Feiertagen einen mächtigen, imposanten Weihnachtsbaum beschert, mit vielen bewunderungswürdigen Ueberraschungen. Nur eines hat er vergessen: die Lichter. Die Lichter, diese kleinen, bescheidenen Dinger, und doch ist ihr frommer, demütiger Glanz Symbol für das reichste, beseligendste Geschenk, das von eines Menschen Herz zum Herz der Menschen kommen kann: die Liebe.
In: Neues Wiener Tagblatt, 27.12.1922, S. 2-3.
Fred Heller: Die Straße der Räusche. Ein Wiener Bild (1921)
Ein sagenhafter Weinkenner soll einmal behauptet haben, der richtige Weintrinker müsse die Sorte nicht nur im Glase und auf der Zunge erkennen, sondern auch an dem Rausch, den sie ihren Verehrern beigebracht hat. Leider ist uns kein Handlexikon der Räusche übermittelt, die interessante Systematik der Schwipse, Spitze und Affen muß jeder Interessent durch eigene Forschungen aufzustellen suchen, mit viel Fleiß und werktätigen Proben, und obzwar es an sehr eifrigen Kandidaten dieser Wissenschaft nie gefehlt hat, gelangt doch keiner zu den reinen Höhen ihrer Theorien, weil der beste Wein gerade an Hänge wächst und die Beine bergan stets schwerer wurden, je leichter es dem Forscher im Kopfe werden wollte. Der Wein läßt sich am wenigsten von seinen ergebensten Jüngern der Wahrheit ablauschen, die in ihm bekanntlich liegt. Mangels der unerläßlichen Weihe, die man nun einmal empfangen haben muß, um überhaupt in die Mysterien der Kräfte und Gewalten des heutigen Bacchuskultus tiefer einzudringen, scheinen aber die Nüchternen wieder selbst durch schärfste Beobachtungen auf die feineren Differenzierungen zwischen Rausch und Rausch niemals daraufzukommen, sonst könnte ich doch wenigstens schon einen Grinzinger oder einen Sieveringer Rausch von einem Nußdorfer unterscheiden.
Diese drei Gattungen treffen sich nämlich allabendlich auf dem Gürtel zwischen Heiligenstädterstraße und Nußdorferstraße, aus nächster Nähe beobachtet vom Auge Gottes, das dreieckige Strahlen aussendend, von den Schildern des bekannten Etablissements halb neidvoll, halb langmütig und allbarmherzig nach der Kreuzung hinübrsieht. Neidvoll, weil sich die Heurigen- und Biergäste aus Grinzing, Sievering und Nußdorf bereits so schwer beladen dem „Auge Gottes“ nahen, daß sie sich selbst von einem strahlenden Augenblinzeln nicht mehr von der Straßenbahnlinie weglocken lassen, die die gesammelte Bettschwere auf kürzestem Wege ins Bett bringen soll.
Um 9 Uhr abends beginnt da lebhafte Leben und Treiben auf der sonst so nüchternen Straße, die beinahe noch zur inneren Stadt und doch schon auch zu der minder gemäßigten Zone des Gürtels gehört, obwohl seit Menschengedenken an dieser Stelle noch niemand totgestochen oder nur auch ausgeraubt worden wäre. Es ist die sicherste Gürtelgegend, trotzdem oder weil sich hier so viele Räusche kreuzen, die sich, eben aus der Beengtheit der Straßenbahnwagen befreit, zum erstenmal und heftig Luft machen, ehe sie wiederum in einem Straßenbahnwagen verstaut werden sollen. Sobald sich, pünktlich zur Stunde des (seligen) Zapfenstreiches, die ersten schwankenden Gestalten nahen, nimmt an der Ecke der „Würstelmann“ Aufstellung, das heißt, er fährt auf wie eine Batterie. Der Würstelmann und die ersten Räusche vom Tage lassen einander nie im Stich, kein Rendezvous wurde je so pünktlich eingehalten. Bei ihm und im Straßenbahnwartehäuschen sammeln sich die Vorhuten aus Grinzing und Sievering, um dann in der Elektrischen auf die Nußdorfer zu stoßen, harmlose, heitere Geplänkel um ein paar Sitzplätze, von dem Gefühl enger Zusammengehörigkeit Wiener Landsleute mit Liebenswürdigkeit und Witz geschlagen. Die Leutchen, die schon so verhältnismäßig früh am Tag ihren Rausch abhaben, das sind die soliden Liebhaber eines guten Tropfens, treu, ehrlich und fleißig im täglichen Dienst ihrer Labung, die seit jeher so ganz zu ihrer Lebenseinteilung gehört, daß ein völliges Nüchternsein zu dieser Abendstunde geradezu eine Konfusion in ihrem Leben hervorrufen würde, daß sie sich vorkämen, als hätten sie einen Tag ein unerhörte Ausschweifung begangen, die ihr Wohlbefinden schwer stören müßte. Man sieht sie gern mit einem Lächeln an, hört sie erheitert räsonieren und ist ihnen gut wie Kindern, für deren Gesundheit es ein gutes Zeichen ist, wenn sie mäßig schlimm sind. Die Räusche zwischen 9 und 10 Uhr abends sind mäßige, bodenständige, echte Wiener Räusche. „Schweigl“ nennt man sie, glaube ich, und das klingt ebenso gemütlich wie die Weltanschauungsvorträge der ersten Heimkehrer aus Grinzing und Nußdorf, die den Optimismus predigen und selber Pessimisten nur dann sind, wenn das Bier schal, der Wein gewässert und der Heurige sauer ist.
Ich mag sie sehr gut leiden, sie sind mir sympathisch, die „Ang’stochenen“ zwischen neun und zehn, die das Maul, aber auch das Herz auf dem rechten Fleck haben. Was sich von Torschluß ab in der Straße der Räusche aus überfüllten Straßenbahnwagen herauskollert, hinausstößt und was hier abgeladen wird, das ist ein gar nicht so heiteres Nachtbild Wiens, so übermütig-lustig es sich auch gibt. Es sind die „feineren Leute“, auch „bessere“ genannt, Herren und Damen, Jünglinge und Mädchen, die abends nach Geschäftschluß und nach der Kenntnisnahme der Börsenkurse in die Heurigenschenken hinausgefahren sind, nicht um Wein zu trinken, sondern um sich mit Wein zu betrinken. Sie „mußten wieder einmal in Grinzing sein“, weil das jetzt so Sitte, mit seinem Mädel „auf einem Heurigen zu gehen“ oder draußen sein Mädel zu suchen und irgendeines zu finden. Aber auch junge Ehepaare, ältere und jüngere junge Ehepaare, machen gern so einen Ausreißer, hinaus zu zweien, herein oft zu dreien oder gar zu vieren, je nach der Höhe der „Gemütlichkeit“, die sich beim Wein entwickelt hat. Der Grad der Gemütlichkeit ist jedem Unbeteiligten auf der Straße bald klar, wenn nicht, wird sie ihm noch rasch vor dem Einsteigen klar gemacht. Eine Fülle von „humoristischen“ Einfällen tobt sich da an der Kreuzung der Räusche aus, die breite Straße bietet für die „weitausladenden“ Schritte wie für jederlei Ulk Raum und man tut gut daran, in weitem Bogen auszuweichen, wenn man „keinen Spaß versteht“. Diese Lärmmacher um des Lärmes wegen, das sind dieselben, deren Krawall schon so oft den Döblinger Spitälern Anlaß zu öffentlicher Klage gegeben hat, diese von ihrem Rausch berauschten, die sich in der Freude, einmal „ganz verfluchte Kerle“ zu sein, an Flegelhaftigkeiten nicht genug tun können – das sind die unsympathischen, ja widerlichen Betrunkenen, ihr Rausch ist bloß für Geld gekauft und ohne Genuß am Wein erworben, ihre Betrunkenheit ist sozusagen absichtlich und vorsätzlich erzeugtes Mittel zum Zweck. Grinzing und Sievering liefern das Hauptkontingent dieser Räusche, von Nußdorf kommen auch spät abends noch die biederden, rechtmäßigen, ehrlichen Räusche. Doch wenn die beiden aufeinanderstoßen! Aus dieser Kreuzung entwickeln sich keine gutlaunigen Geplänkel, das sind schon kleine Skandale, was sich in den überfüllten Straßenbahnwagen an wörtlichen, nicht selten auch tätlichen Beleidigungen abspielt, und man muß wirklich an den Schutzengel glauben, der angeblich jedem Betrunkenen beigegeben ist, anders hätte es schon zu den folgenschwersten Exzessen kommen müssen.
Allabendlich und allnächtlich rollt dieser Film in der Straße der Räusche ab, hier ist reichliche Gelegenheit, neuere Zeit und neuere Sitte zu studieren, die von 10 Uhr ab überhaupt [neu]ere Großstadtsitte ist. Da aber die „Heurigen“ eine Wiener Spezialität sind, werden die oft auch von Fremden beobachteten Bilder dieser Straße gern in das Wiener Album eingezeichnet, das die Ausländer dann nach Hause mitnehmen. Sie machen ebensowenig Unterschied zwischen Grinzinger, Sieveringer und Nußdorfer Räuschen wie zwischen einem Original Wiener Rausch und der arg verfälschten Nachahmung des Kost-er-was-er-kost-Rausches, dem die Weinsorte gleichgültig ist, wenn sie nur möglichst rasch in „Stimmung“ bringt.
In: Neues Wiener Journal, 7.8.1921, S. 9.
Fred Heller: Jazz-Dämmerung (1921)
Was „Jazz“ und was Shimmy ist, braucht man keinen Tänzer mehr zu sagen. Und Nichttänzer sind, seit der Foxtrott mit zu einem Souper gehört, keine voll zu nehmenden Menschen. Wie können sie sich beispielsweise jetzt in einem Kurort, draußen in der Sommerfrische erholen, wenn sie nicht allabendlich oder doch ein-, zweimal in der Woche ein bißchen trotten und steppen! Die Beherrschung der modernen amerikanischen Tänze ist längst ein Teil der allgemeinen Bildung. Ein allgemein gebildeter Mensch hat sich also natürlich auch bereits den „Jazz“ und den „Shimmy“ zu eigen gemacht, diese beiden letzten Importe aus Amerika, oder er ist zumindest fest entschlossen, spätestens im Herbst seine bislang noch theoretischen Kenntnisse, sein Wissen um die Geheimnisse menschlicher Gelenke, in praktisches Können umzusetzen. Aber ob es dann nicht schon zu spät sein wird? Zuverlässige amerikanische Berichterstatter malen einen Tanzteufel an die Wand, der nicht mehr nach vorgeschriebenen Rhythmen die Schultern verstauchen, den Leib verkrümmen und die Gliedmaßen aus ihren Scharnieren heben will. In Amerika bereitet sich nichts geringeres als eine Reaktion vor! Eine Reaktion im amerikanischen Tanz ist aber eine europäische Angelegenheit. Deshalb kann nichts früh genug die Aufmerksamkeit der Alten Welt auf die drohenden Anzeichen jenseits des großen Teiches hingelenkt werden.
Miß Albertina Rasch, eine junge Wienerin, die sich als erste Tänzerin drüben am Century Opera House, der Jahrhundertoper in New-York, ihren Namen gemacht hat, ist kürzlich in Wien zum Besuch ihrer Angehörigen eingetroffen und hat ganz besorgniserregende Nachrichten mitgebracht. Worüber spräche man denn auch in Wien zuerst mit einer amerikanischen Tanzkünstlerin? Vielleicht erfährt man gar als erster von einem ganz neuen Tanz und hat dann das Glück, ihn sich gleich zeigen lassen zu können.
„Ich komme über Paris, ich weiß alles“, lächelt Miß Rasch. „Europa, du hast es nicht besser! mußte ich denken, als ich den begeisterten Tanzkult sah, und wie ich höre, steht Wien durchaus nicht zurück. Nein, es gibt keine neueren Tänze als den Jazz und den Shimmy. Kann es denn überhaupt in dieser Beziehung noch „Moderneres“ geben? Man hat sich drüben den ersten Niggertanz, den Cake Walk, von idyllischen Festlichkeiten der Neger in die Ballsäle geholt. Das war noch ein wirklicher Tanz, ganz neuartig für unsere Begriffe und trotz oder wegen seiner exotischen Reize auch nach ästhetischen Begriffen eine Bereicherung der Gesellschaftstänze. Aber dann hat man angefangen, die Niggertänze aus den Nachtlokalen von San Francisco und New-Orleans zu beziehen, südamerikanischer Einfluß machte sich bemerkbar, und so ist der Nachfolger des argentinisches Tango und der brasilianischen Matchiche der Foxtrott geworden, eine Kreuzung etwa von One Step und Matchiche. Der Foxtrott kam dem amerikanischen Tänzer sehr entgegen, der ein ungemein ausgeprägtes rhythmisches Gefühl, aber gar kein melodisches Empfinden hat, daher auch eine Art Walzer mit synkopischer Taktform statt des echten Walzers tanzt. Es gibt kaum einen Amerikaner, der nicht Foxtrott tanzt und man tanzt ihn von früh bis nachts, in den Vergnügungslokalen genau so wie mittags in den Restaurants. Und es wird heute noch genau so gern Foxtrott getanzt wie vor einem Jahr, obwohl inzwischen der Jazz und der Shimmy modern geworden sind. Mit dem Jazz, der aus New-Orleans und Chicago eingeschleppt wurde, mit diesen, schon durch die dazugehörige Musik der Jazz-Banden unerträglichen gymnastischen Uebungen zum Lärm und Geräusch der unglaublichsten Instrumente ist man bereits von dem, was man noch Tanz nennen kann, abgekommen; der Gipfel der Geschmacksverrohung war dann gleich die nächste Novität, der Shimmy, ein Tanz, der nur aus der allgemeinen Verrohung durch den Krieg zu erklären ist. Wie hätten auch Kulturmenschen sonst an etwas Gefallen finden können, das die Roheit des rohesten Afrika ausdrückt. Und auch dieser Tanz ist von Europa übernommen worden!“
„Es ist unser letzter Schrei!“ bemerkte ich.
„Daß das sogar in Wien möglich ist!“ staunte die Amerikanerin aus Wien. „Die überschlanke Amerikanerin darf sich vielleicht noch solche Körperbewegungen erlauben. Aber schon die Pariserin fand ich im Jazz unmöglich. Doch selbst in Amerika beginnt man bereits von den allerneuesten Tanzschöpfungen abzuschwenken, man tanzt Shimmy und Jazz immer seltener, der Geschmack fängt sich an, umzubilden. Das Naserümpfen und die abfälligen Bemerkungen werden drüben in letzter Zeit häufiger. Die Verrohung, die auch drüben der Krieg mit sich gebracht hat, geht sichtlich auch im allgemeinen zurück, und so wird man auch von den wilden modernen Tänzen allmählich wieder zu sanfteren, legereren Linien zurückkehren!“
„Und der uns allen heilige Foxtrott?“
„Keine Sorge, der wird sicherlich noch lange herrschen, wenn er nicht überhaupt schon zum sogenannten „ewigen“ Bestand der Tanzkarte zu zählen ist, wie der Two Step und die nur augenblicklich in Vergessenheit geratene „Washington Post“. Es existiert ja in Amerika eine veritable Foxtrottindustrie. Fast täglich kommt ein neuer Foxtrott heraus. Eigene Musikverleger befassen sich mit dem Vertrieb, die Noten werden weithin gratis verteilt und in zwei Wochen kann das ganze Land jeden neuen Foxtrott. Die erfolgreichsten Komponisten sind dabei fast durchweg russische Juden, so zum Beispiel der populärste, der sich Irving Berlin nennt. Edison und ihn kennt jeder Mensch.
In allem Unglück also doch ein Trost: wir haben den Foxtrott zumindest nicht umsonst gelernt, wenn wir im heurigen Winter vielleicht schon den Jazz und den Shimmy wieder vergessen müssen. Daß es um diese beiden Negerstämmlinge besonders schade sein würde, wird wohl am wenigsten in Wien behauptet werden, wo wir als „Ersatz“ immerhin und schlimmstenfalls noch den Walzer haben.“
In: Neues Wiener Journal, 21.7.1921, S. 5.
Hugo von Hofmannsthal: Die Idee der Festspiele und das heurige Programm (1926)
Das Programm der der Salzburger Festspiele ist von Jahr zu Jahr immer bunter geworden, und es könnte die Frage entstehen, welche künstlerische Idee eine so bunte Darbietung zusammenhält. Wenn man auf unserem Programm eine Oper, die Hauptwerke Mozarts, ein Ballett von Gluck, die „Serva padrona“, Goldoni, Mysterienspiele, den Faust, Schillers Jugenddramen sieht, so könnte man fragen: Wo ist denn da noch das geistige Band? Und hier scheinen wir in bezug auf Formulierbarkeit sehr in der Hinterhand zu sein im Vergleich zu deutschen Festspielen auf der Wartburg, in Weimar, in Köln, in Düsseldorf, in München, wo überall nach einem Gesichtspunkte gespielt wird. Wenn ein Festspiel, wie Bayreuth, sich um das Lebenswerk eines Genius gruppiert, so hat es ein natürliches Programm und eine natürliche Zuhörerschaft, man könnte sie als Gemeinde bezeichnen. Was wir anstreben, ist durchaus nicht eine Gemeinde, sondern ein Publikum im weitesten und breitesten Sinne. Daraus ergibt sich deutlich, daß wir ein vielfältiges Programm machen müssen. Von Jahr zu Jahr wurden die Darbietungen immer reicher und bunter. Wo liegen nun die Grenzen? Die Grenzen scheinen mir weitergezogen als die des Repertoirs der höheren deutschen Bühne im allgemeinen, die ja eigentlich auf das Repertoire, auf die Nationalbühne als Schöpfung unserer Klassiker zurückgeht. Demgegenüber gab es aber doch in Wien etwas Aelteres, Weiteres und „Wirklicheres“. Das Wiener Theaterspiel, jene Buntheit der Wiener theatralischen Darbietung zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts: Burg, Vorstadttheater, Raimund, Nestroy, Kärntnerthortheater, dieses Wiener Theaterleben, das das unbeschreibliche Entzücken aller nach Wien kommenden höheren Bildungsmenschen hervorrief, und das eine vollkommene, naturgewachsene Einheit war mit tragischen und komischen Elementen in allen Mozart-Werken, mit volkstümlichen, dialektischen Elementen und hohen Stilelementen. Von diesem bayerisch-österreichischen, diesem süddeutschen Theatergeiste, dem einzigen, dem es innerhalb der deutschen Kultur überhaupt gibt, haben wir uns leiten lassen, und er bildet das unsichtbare geistige Haus, innerhalb dessen wir uns bewegen. […] Auch die „Fledermaus“ wird heuer nicht fehlen. Betrachten Sie, was wir Ihnen bieten, immer als ein Lebendiges, als Hindeutung auf jenen unerschöpflichen Theaterboden Salzburgs und nehmen Sie an, daß wir dort immer in einem gewissen Salzburg-Wiener Geiste zu spielen vorhaben und daß wir glauben, innerhalb der deutschen Gesamtkultur nichts Reineres geben zu können, als wenn wir unser Eigenstes geben. Wir wollen jenes Element deutschen Theaterwesens hervorkehren, ohne welches, ich getraue mich dies zu sagen, überhaupt nichts auf die Dauer Lebendiges auf deutschen Bühnen geschaffen worden ist.
In: Neue Freie Presse, 5.6.1926, S. 9f.