1922 | Karl Schönherr: Es

Nachfolgend finden Sie diese sechs Besprechungen zu Karl Schönherrs Drama Es, das am 25. Dezember 1922 im Deutschen Volkstheater seine Uraufführung feierte.

  1. Moriz Scheyer: „Es.“ Drama in fünf Akten von Karl Schönherr
  2. Otto Koenig: „Es“. (Zur Uraufführung im Deutschen Volkstheater.)
  3. Raoul Auernheimer: [Feuilleton.] Düstere Weihnachststücke
  4. H[einrich] Leoster: Karl Schönherrs neue Tragödie vom Kind
  5. Viktor Trautzl: [Theater, Kunst und Musik] „Es.“ Schauspiel in fünf Akten von Karl Schönherr
  6. Felix Dörmann: Problem der Eugenetik

Moriz Scheyer: „Es.“ Drama in fünf Akten von Karl Schönherr.

Zur Uraufführung im Deutschen Volkstheater. [Feuilleton]

Mit „Es“ hat Schönherrs Einsilbigkeit ihren Höhepunkt erreicht; zwei Personen: „er“ und „sie“ durch fünf Akte in einem und demselben Zimmer. Und dieses Zimmer – das Studierzimmer eines Arztes – entspricht ebenfalls dem einsilbigen Titel: in seiner kalten und unwohnlichen, nur auf das allernotwendigste konzentrierten Sachlichkeit, in seinem geflissentlichen Abbau jeder, auch der geringsten Behaglichkeit wirkt dieser Zweckraum durchaus wie ein geschlechtsloses Neutrum. Eine Sehenswürdigkeit ersten Ranges.

Und eine dramatische Kraftprobe ersten Ranges. Es gehört schon eine eiserne Hand und eine unglaubliche Oekonomie dazu, mit zwei Protagonisten und einer einzigen Dekoration, die obendrein seine ist, das Theater zu zwingen: während der drei ersten Akte wenigstens. In den beiden letzten freilich stemmt der herkulische Schönherr zuweilen die kolossalen Schwergewichte eines Pathos, das innerlich hohl klingt, und zum Schlusse zwingt das Theater seinen Bezwinger: da nimmt sich einer auf der Bühne das Leben, stirbt mit allen klinischen Symptomen einer Vergiftung, und im effektvollsten Augenblick erscheint noch die Frühlingssonne und tut ihre verklärende Schuldigkeit; nachdem drei Akte lang ein qualvolles und unversöhnliches Halbdunkel geherrscht hat. Aber die endlich hervorbrechende Sonne ist hier nicht wärmendes, leuchtendes Symbol einer Seele voll heimlichen, inneren Glanzes: sie wirkt lediglich als melodramatisches Rührungsrequisit.

Schönherrs Kraft ist zugleich auch seine Schwäche; mit derselben Wucht, mit der diese geniale, vor nichts zurückschreckende Gewaltnatur ihre zyklopischen Blöcke formt und schleudert, mit demselben Griff packt Schönherr oft ganz zarte und feine Dinge, und dann zerbrechen sie ihm hilflos zwischen den Fingern. Vorgefühle, dunkle und traumhafte Schwingungen löst er aus ihrer wunderlichen, lautlos horchenden Bezauberung und hebt sie unbarmherzig ans nüchterne Tageslicht. Es ist nicht immer gut, das Kind beim Namen zu nennen.

Vor uns auf der Bühne stehen und sprechen „er“ und „sie“; aber der eigentliche Held des Dramas ist das, was sich als Drittes unsichtbar zwischen die beiden stellt und hinter der Szene seine stumme Hauptrolle spielt: es, das Kind, das noch ungeborene, erst im Mutterleib keimende Kind.

„Er“, der Vater, ist ein junger und bereits sehr angesehener Arzt; in Wort und Schrift vertritt er leidenschaftlich die Theorie von der erblichen Belastung: daß kranke Menschen nur kranke Kinder in die Welt setzen können, kaum geboren und schon umwittert vom faulen Hauche der Verwerfung, und so weit soll es unter seiner Bedingung kommen dürfen. „Was krank ist, möge lieber nicht geboren werden.“ „Sie“, die blonde und tüchtige Frau, die früher Pflegerin auf des Gatten „Abteilung“ gewesen und dort die traurigsten Erfahrungen gesammelt hat, stimmt ihm rückhaltlos zu. Denn einmal sind die Frauen namhafter Gelehrter immer von deren Ueberzeugung durchdrungen, anderseits ist nichts leichter, als einer Theorie zu huldigen, solange sie in der Praxis au die anderen beschränkt bleibt. Auch der Kommunismus zum Beispiel ist eine Lieblingsidee begüterter Herrschaften geblieben, und von den sogenannten „Edelkommunisten“ verfügt fast ausnahmslos jeder neben seiner Gesinnung noch über ein entsprechendes Guthaben in Edelvaluta.

Kehren wir zu unserm Fall zurück. Dort werden „er“ und „sie“ eines Tages vor die praktische Probe auf ihre theoretischen Exempel gestellt: der junge Doktor konstatiert aus einer mikroskopischen Untersuchung, daß er von der Mutter her erblich mit hochgradiger Tuberkulose belastet ist, und die Frau wiederum entdeckt, daß sie Mutterfreuden entgegensieht. Daraus der Konflikt: „er“ will unter seinen Umständen an sich selbst zum Verräter werden; sein ganzes Lebenswerk, seine eigenen Tabellen und Statistiken und vor allem seine eigene Krankheit müßten wider ihn zeugen: das Kind darf nicht zur Welt kommen. „Sie“ wirft alle diese Argumente mit einer einzigen Handbewegung unter den Tisch… . Sie will ihr Kind, ganz einfach. Mag es krank sein, verkrüppelt, ja, mag es selbst frühzeitig sterben müssen.

Es ist etwas unsagbar Feierliches und Erhabenes um das ewige Urmysterium der Mütter; aber hier, wo es um ein Kind geht, das noch gar nicht da ist, wo ferner ein vom Tode gezeichneter Mensch sich nur der furchtbaren Verantwortung seiner eventuellen Nachkommenschaft gegenüber voll bewußt ist, hier ist der Mütterlichkeitsfanatismus dieser Frau von skrupelloser Selbstsucht nur schwer zu unterscheiden. Man möchte ihr zurufen: „Ja, siehst du denn nicht, das kranke, der zärtlich helfenden Mutterhände bedürftige Kind, das ist hier nicht „es“, ein Unbestimmtes, Ungeborenes, sondern „er“, dein Mann mit seinem armen, mitten entzweigebrochenen Leben.“

Durch einen chirurgischen Eingriff an der unfreiwillig narkotisierten Frau wird „es“ noch rechtzeitig von den gefährlichen Küsten des Daseins abgetrieben. Aber das Kind spielt selbst noch als Schatten unsichtbar weiter mit: es hat zwei Menschen einsam gemacht. Feindlich und lauernd stehen sich die beiden gegenüber.

Man kann sich des Gefühls nicht erwehren: diese Frau hat ihren Mann nie geliebt. Es ist besser so, daß er zugrunde gehen muß. Und es fällt einem das qualvolle Wort Strindbergs ein: „Das Schrecklichste ist, die Wertlosigkeit höchsten Glücks zu erkennen.“

Einmal glauben die beiden wieder einander gefunden zu haben. Aber es war nur der Trieb, der erbärmliche und verbissene Trieb, was ihre Körper in einer schwülen, selbstvergessenen Minute zusammenkuppelte, ohne Glanz und ohne Gnade. „Er“: verbrannt vom Sinnenhunger des Schwindflüchtigen, der sich noch mit letzter Gier an das entweichende Leben festsaugen möchte, „sie“: gepeinigt von dem gärenden Kräfteüberschuß des jungen, gesunden Weibes. Dann ist es zu Ende, für immer.

Dieses Ende wäre an sich schon tragisch genug; doch greift Schönherr zum Schlusse noch zu den krassesten Mitteln. Er läßt „ihn“ Gift schlucken; und nicht genug an dem: während der Unselige auf den Tod wartet, während er sich in Krämpfen windet, singt draußen eine frische, grausam unbekümmerte Stimme ein Kinderlied. Da weiß der Sterbende plötzlich, daß „sie“ nun zum zweitenmal Mutter werden soll, zum zweitenmal eine wurmstichige, lebensunfähige Frucht im Schoße trägt. Er ruft nach ihr, nach seiner Frau, verlangt Gegengift, noch wäre es Zeit, noch könnte er gerettet werden. Aber sie steht daneben, deklamiert ihm nochmals ihren ganzen Haß ins Gesicht und – läßt ihn ruhig sterben; weil sie Angst hat, er könnte zum zweitenmal seiner Pflicht als Vater und als Arzt nachkommen.

Heroismus? Mutterliebe? Nein; zum zweitenmal empfindet man: Rohheit, Unmenschlichkeit.

Obzwar die Höflich als „sie“ auf der Bühne steht; obzwar die prachtvolle Schauspielerin selbst im quälenden Dunkel noch ihr eigenes Licht auszustrahlen scheint, obzwar ihre Stimme selbst das härteste Wort noch zu der Milde und der Süßigkeit einer höheren Musik emporträgt. Wie einen kostbaren Mantel wirft die Höflich ihre Seele über die Blößen der Dichtung.

Herr Edthofer ist ihr Partner: ergreifend in Haltung, Geberde und Ton, von größter Einfachheit und Wahrheit in dem komplizierten Zerfetzungsprozeß eines immer rasender dem Tode entgegengaloppierenden Schicksals.

Nach jedem Akt – besonders nach dem dritten – rief starker Beifall die Darsteller und den Dichter; aber erst zum Schlusse erschien Schönherr, um den lauten Dank persönlich zu empfangen.

Schönherr hat uns da zu den Feiertagen einen mächtigen, imposanten Weihnachtsbaum beschert, mit vielen bewunderungswürdigen Ueberraschungen. Nur eines hat er vergessen: die Lichter. Die Lichter, diese kleinen, bescheidenen Dinger, und doch ist ihr frommer, demütiger Glanz Symbol für das reichste, beseligendste Geschenk, das von eines Menschen Herz zum Herz der Menschen kommen kann: die Liebe.

In: Neues Wiener Tagblatt, 27.12.1922, S. 2-3.

Otto Koenig: „Es“. (Zur Uraufführung im Deutschen Volkstheater.)

„Es“ ist das ungeborene Kind, der mit Tuberkulose erblich belastete Embryo, der kranke Fötus, um dessen Sein oder Nichtsein sich der Kampf zwischen „Er“ und „Sie“, der Kampf der Eltern erhebt. „Er“ ist nicht nur der eine wissende Arzt, der – was dicke Fachwissenschaftler bestreiten dürften – die ausnahmslose Vererbung der Tuberkulose vom Vater auf das Kind wissenschaftlich erwiesen hat und seiner Gattin den kranken Keim wider ihren Willen entfernt, „Er“ ist das soziale Gewissen, das in unbarmherziger Klarheit die Fortzeugung von Seuche und Krankheit verwehrt. „Sie“ ist nicht die eine Arztesfrau, die den natürlichen Mutterdrang über die grausame, kalte Vernunft stellt und ihrem Gatten, der sie um das Kind betrog, flucht, ihn sterben läßt, weil sie von seiner harten Wissenschaftlichkeit auch für das zweite keimende Leben fürchtet, das sie empfing, da der Lusttrieb des kranken Mannes und ihre eigene gesunde Natürlichkeit sie noch einmal zusammenführten. „Sie“ ist das Weibtum, die Mütterlichkeit an sich. So hat Karl Schönherrs neues Schauspiel, in dem schließlich die unbesinnte Natur über soziale Verantwortlichkeit und Vernunft siegt, prinzipielle Bedeutung. Im Mittelpunkt des dichterischen Interesses steht, wie in „Weibsteufel“ und „Kindertragödie“ das Kind, diesmal die Verantwortlichkeit gegen das werdende Kind, und der ergreifende, mit allen, auch reißerischen Mitteln gesteigerte Seelenkampf des einen Vaters, der einen Mutter, wird zum Allgemeinbedeuten erhoben. Aber die Lösung, die in einem angeklebten konzessions-expressionistischen Resumé die Frau, die Mutter schließlich bietet, „es muß auch Krankheit erzeugt werden, damit Liebe und Mitleid nicht aus der Welt kommen“, ist doch schwächlich, sentimental und logisch verkehrt, weil durch sie Mitleiden zum Selbstzweck erhoben wird.

Es mag Schönherr dichterisch und menschlich sehr stark gedrängt haben, in jenem Kampf um eine neue Verantwortung, der gegenwärtig schon ein öffentlicher geworden ist, zugunsten der neuen Natürlichkeit und des Individuums seine Stimme zu erheben, aber – und das ist der leidige Eindruck, den man von „Es“ gewinnt – eine andere Absicht, die mit Dichtkunst und Menschlichkeit sehr wenig zu tun hat, wirkte nicht minder stark mit an dem kühnen Versuch, den Fötus zum erregenden Moment zu erheben. Der Konstruktionswille, das Interesse an einer Rechenaufgabe, die Lust am dramatischen Skelettexerzieren, die den Autor seit dem „Weibsteufel“ beherrscht. Auf das Spiel der drei ist nun das Spiel der „zwei“ gefolgt, und die wirksamen Kräfte der Gegenspieler, die in der „Kindertragödie“ hinter der Szene spielen, sind nun in den Mutterleib verlegt. Freilich hat Schönherr das Rechenexempel virtuos gelöst. Die fünf realistischen Akte zwischen zweien, mit symbolistischen und expressionistischen Mitteln kunstreich garniert, erregen und spannen. Zum Schluß aber überwiegt doch das Empfinden, daß sie nicht erschüttern. Sie wirken grausam, nicht tragisch, und der ganze Konflikt ist durch medizinisch anfechtbare Voraussetzungen des Nebenmotivs vom wissenschaftlichen Ruf des Mannes zu unglaubhafter psychologischer Zuspitzung verschärft. Alle Stilarten, Naturalistik, Symbolik und Expressionismus müssen mitwirken, um den Zuschauer in Atem zu halten, und so wohnt dem interessanten Werk so viel Absichtliches, Unwahrscheinliches und Kunstwidriges inne, daß es sich von dem, was man Dichtung zu nennen berechtigt ist, deutlich und streng scheidet.

– Das Schauspiel war von Friedrich Rosenthal sehr sorgfältig in Szene gesetzt, und Anton Edthofer und Lucie Höflich speilten die zwei psychologischen Gewaltrollen mit allen Mitteln bewußter Kunst und treffsicherer Technik. Ohne drastischere Hilfen und starke Effekte wäre das virtuos konstruierte Duospiel nicht zu bewältigen. In der Wirkung war Edthofer erfolgreicher als seine Partnerin. Der Verfasser war anwesend und hatte die Genugtung, seiner und der Darsteller artistische Leistung mit Beifallsstürmen belohnt zu sehen.

In: Arbeiter-Zeitung, 27.12.1922, S. 5.

Raoul Auernheimer: [Feuilleton.] Düstere Weihnachststücke.

Die beiden jüngsten Neuheiten des Deutschen Volkstheaters: Lenormands „Die Namenlosen“ und Schönherrs „Es“ gleichen in nichts jenen ebenso rosigen als wohlfeilen Weihnachtsengeln, wie sie ansonsten im Christbaumschmuck unserer Theater um diese Zeit aufzutauchen pflegten. Es sind zwei düstere Nachtstücke, die uns, jedes in seiner Art, einen schmerzlich tiefen Einblick in schauerliche Abgründe des Lebens eröffnen; und die, indem sie in ihrem Kolorit ziemlich weit von der hergebrachten Schablone grundlos vergnügter Weihnachtsstücke abweichen, auch in technischer Beziehung neue Wege einschlagen. Schönherrs Drama bestreitet den dramatischen Haushalt mit nur zwei Personen; Lenormand im Gegenteil löst die herkömmliche Aktgliederung nach dem Vorbild der Russen und anderer jüngerer Dramatiker in eine lockere Bilderreihe auf. Beide Dichter bleiben dabei dem Theater nichts schuldig; sie geben starkes Theater, ja sogar bewährtes Theater, dessen motivische Verzahnung und Verkettung jeden mystischen Schwindel ausschließt. Aber sie versuchen zugleich, die konventionelle dramatische Form zu durchbrechen: Lenormand, indem er sie auflöst, Schönherr, indem er sie zusammendrückt. Beide Dichter machen auf diesem Wege allerhand Erfahrungen, und der Zuschauer macht sie, höchst angeregt, mit ihnen.

Karl Schönherr gebührt als dem heimischen Meister der Vortritt. Sein soeben aufgeführtes Drama „Es“, dessen Titel aus zwei Buchstaben und dessen Personal aus zwei Figuren besteht, ist ein Unikum dramatischer Oekonomie. Es gleicht jenen allerwinzigsten Uhren, die in einem Schirmgriff oder in einer Krawattennadel untergebracht sind, und die trotzdem gehen. Ein Kunststück noch mehr als ein Kunstwerk, ist es zugleich ein solches und schon dadurch bedeutend, daß es ein an sich bedeutendes Problem dramatisch entfaltet.

Das Problem läßt sich mit den Worten umschreiben: Sind tuberkulöse Eltern berechtigt, Kinder in die Welt zu setzen? „Er“ – Schönherr treibt in diesem Stücke seine an Kargheit grenzende Sparsamkeit so weit, daß er den beiden Personen, die er einführt, nicht einmal mehr Namen gibt – verneint diese Frage kategorisch. Er ist Arzt und auf Grund langjähriger Untersuchungen zu der für ihn unumstößlichen Erkenntnis gelangt, daß, wer an Tuberkulose erkrankt, immer auch entweder einen tuberkulösen Vater oder eine tuberkulöse Mutter hatte. Zu dreihundert Fällen seiner Praxis hat er diesen Zusammenhang ganz schlüssig erwiesen und die logische Folgerung seiner Beobachtung in einer Schrift niedergelegt, deren rücksichtsloser Wahrheitsmut in dem Axiom gipfelt: „Wer ärztlich nicht gesund befunden, ist von der Ehe fern zu halten. Wer erkrankt schon im Mutterleib, darf nie in die Welt hinein.“ Aber während die wissenschaftliche Arbeit, in der er diese grausame These erhärtet, in Druck gelegt wird, geschieht etwas, was sein ganzes Leben aus den Angeln hebt. Der zweiunddreißigjährige Mann, der sich in der letzten Zeit von einer langsam zunehmenden Müdigkeit beunruhigt fühlt, läßt eine mikroskopische Untersuchung anstellen, aus der für ihn mit unzweideutiger Gewißheit hervorgeht, daß er selbst von Tuberkulose befallen ist. Und gleichzeitig muß er erfahren, daß seine Frau sich Mutter fühlt.

Der erste und zweite Akt sind der langsamen, technisch meisterhaft durchgeführten Entschleierung dieser doppelten Voraussetzung gewidmet; der dritte beginnt, das Problem zu entwickeln. Mann und Frau verändern sich unter der Einwirkung des drohenden, unerhofften „Es“. Der Mann ist bereit, seiner Theorie nachzuleben; oder sollte er vielleicht „zurückkriechen“, jetzt, da es ihm „ans Nackte geht?“ Täte er das, so wäre er kein Schönherrscher Held. Die Frau, aus dem Pflegerinnenberufe hervorgegangen und mit allem Jammer der Krankheiten vertraut, ist theoretisch der gleichen Meinung; doch eben nur theoretisch. Da die Wirklichkeit an sie herantritt, strickt sie Häubchen für das zu Erwartende und läßt ihren tuberkulösen Mann weiter sein klinisches Material sichten und sammeln. Der aber wäre nicht, der er ist, wenn er, den Umständen Rechnung tragend, auch nur um Haaresbreite zurückwiche; im Gegenteil, er geht vor. Zu der wissenschaftlichen Ueberzeugung gesellt sich die Rechthaberei und jener Tiroler Eigensinn, den wir an den Schönherrschen Helden kennen; zum Eigensinn die Grausamkeit, die allen Gefühlseinwänden gegenüber taub und stumm bleibt. Anstatt sich mit der Frau durch Gründe und Gegengründe zu verständigen, tut er, aus Sittlichkeit, etwas, was kaum noch sittlich zu nennen ist: er narkotisiert sie und nimmt ihr, in der Narkose, das im Entstehen begriffene Kind.

Die Frau genest nach dem Eingriff, aber noch im Halbschlaf, aus der Betäubung erwachend, errät sie, was mit ihr geschehen. Von Stund’ an ist es ihr einziges Streben, ihn, den sie nur noch mit schneidendem Hohn „Vater“ nennt, noch einmal zum Vater zu machen. „Was die Frau will, will Gott“, sagt ein französisches Sprichwort; und so gelingt ihr auch das trotz seines sittlichen Widerstrebens und obwohl die ihn verwüstende Krankheit bereits einen rettungslosen Verlauf nimmt. Im fünften Akt, nach Fertigstellung seines Werkes, beschließt er, seinem verlorenen Leben freiwillig ein Ende zu machen. In demselben ärztlichen Ordinationszimmer, in dem alle fünf Akte nacheinander spielen – ein technisches Meisterstück, durch das sich der Dichter seine Aufgabe noch erschwert – sehen wir den einsamen Doktrinär der Tuberkulosebekämpfung den selbstgemischten Gifttrank mit den unerbittlichen Worten: „Was gesund ist, soll leben!“ an die Lippen heben. Aber da er sich nachher in Krämpfen windet, hört er nebenan seine Frau jungem Mutterglück entgegensingen. Er erahnt den Zusammenhang ihres Singens mit jenem Fehltritt, zu dem sie ihn wider seine bessere Einsicht verleitet hat, und er ruft sie in seiner Todesangst herbei, um sich das Gegengift von ihr reichen zu lassen. Aber sie reicht es ihm nicht; für das Kind unter ihrem Herzen fürchtend, läßt sie lieber den geliebten Mann sterben. So steht Mord gegen Mord und das „es“ gegen das „wir“; das „es“ erweist sich als stärker. Mit dem Worte „Mutter!“ verhaucht der Arzt in den Armen seiner Frau, die im Verhauchen dem ihn niederdrückenden Bewußtsein, ein „Krankes und Schwaches“ in die Welt gesetzt zu haben, die tröstlichen Worte entgegensetzt: „Wo Krankes ist und Schwaches, da tun sich Herzen auf. Werden Hände hilfsbereit. Immer wieder krankes Leben und immer wieder neue Liebe..“

Man kann diesem dichterisch ersonnenen Vorgang die tragische Schlüssigkeit ebensowenig wie den hohen sittlichen Ernst absprechen; dennoch bleibt es, auf der Bühne, ein ersonnener Vorgang. Daran vermochte auch die Kunst des Schauspielers nichts zu ändern. Herr Edthofer, der nach zwei Jahren der Trennung von seinem Publikum ernster und gleichsam auch körperlich größer geworden, zu uns zurückkehrt, gibt mit einem ergreifenden Ernst und nicht ohne Größe den in seiner Theorie verstrickten Arzt. Frau Höflich verficht ihr Mutterrecht durch alle fünf Akte mit überwältigender Innigkeit; sie nimmt das letzte Wort des Schauspielers vorweg und ist von dem ersten Atemzug angefangen, den sie auf der Bühne tut, mehr Mutter als Frau. Trotzdem will sich die richtige tragische Ergriffenheit nicht einstellen, und der Zuschauer hat trotz aller angewandten Kunst und technischen Meisterschaft das Gefühl, eher einem vivisektorischen Versuch als einer Tragödie beizuwohnen. Schönherrs Arzt hat recht, er muß immer auch noch etwas mehr als recht haben. Uebrigens: Auch Schillers Tuberkulose war höchstwahrscheinlich ererbt. Wäre darum der Menschheit ein Dienst erwiesen, wenn es einer fortgeschrittenen ärztlichen Wissenschaft gelungen wäre, sein Inslebentreten zu verhindern? Gewiß nicht der Menschheit und – obwohl man das Glück, ein großer Dichter zu sein, vermutlich nicht überschätzen darf – wahrscheinlich nicht einmal ihm selbst.

Ein unglücklicher Mensch ist darum noch kein tragischer Held. Dieser entsteht immer erst durch eine Verbindung von Charakter und Schicksal, wie sie in dem Schönherrschen Stück wenigstens teilweise – die Tuberkulose ist ein Unglück, die wissenschaftliche Rechthaberei des Arztes Charakter – gegeben ist.

In: Neue Freie Presse, 27.12.1922, S. 1-3.

H[einrich] Leoster: Karl Schönherrs neue Tragödie vom Kind.

(Zur Uraufführung des Dramas „Es“ im Deutschen Volkstheater am 25. Dezember).

Das vorletzte Drama Schönherrs war die Kindertragödie, das letzte war die Tragödie des ärztlichen Berufes, und das neueste heißt „Es“ und ist die Tragödie vom ungebornen Kind des kranken Arztes. Fast in allen Werken Schönherrs herrschte eine zyklopische Zärtlichkeit für das Kind und wird das Kind zugleich Objekt und Symbol des tragischen Opfers. Ein moderner dichterischer Abraham legt er immer wieder den Lieblingssohn als Opfertier gefesselt auf den Altar des Bekenntniszwanges und schlachtet ihn für eine höhere Macht, gegen die er sich auflehnt. Er ist gleichsam nicht der Darbieter des Opfers, sondern nur das willenlose Messer in einer Hand, die einem Willen gehorcht, dessen Ziele menschlicher Erkenntnis verschlossen, dessen Wege dem Menschenauge lichtlos sind. Diesmal wird das Thema vom ungebornen Kind, das im Weibsteufel angeschlagen wurde, unerbittlich weitergesponnen und in der Auseinandersetzung über das Recht der Ungeborenen auf Leben klingen Harmonien und Disharmonien aus Wildgans „Dies Irae“ mit. Von der medizinischen Seite gesehen könnte man auch sagen, daß diese Tragödie mit vollem Recht den Untertitel „Der Arzt am Scheidenwege“ tragen könnte. Denn der Dichter stellt hier einen Arzt, dem er selbstverständlich die große Sehnsucht des persönlichen Ewigkeitsgedankens, also den Wunsch nach dem Kind, und zwar nach dem Knaben gegeben hat, mit der diesem Dichter eigenen, aus Brutalität und Überzartheit gemischten Asketik vor die Frage, ob er der aus seinem Naturtrieb heraus wachsenden Sehnsucht oder der aus seinem Kulturtrieb sich emporreckenden Erkenntnis folgen dürfte oder richtiger gesagt müsse. Das Lebenswerk, das geistige Kind (also sein spiritueller Ewigkeitsgedanke im Gegensatz zu dem Fleisch gewordenen, dem leiblichen Kinde) ist ein medizinisches Werk über die Vererbungstheorie mit einem in Jahrzehnten gesammelten Material, das ihm den Beweis lückenlos zu liefern scheint, daß Väter, die mit gewissen Krankheiten behaftet sind, ganze Generationen verseuchen und Kindern das Leben aufzwingen, die von vornherein zu furchtbarem Leiden, zu unentrinnbarem Siechtum verurteilt sind. Hier taucht natürlich sogleich die Erinnerung an Ibsens „Gespenster“ auf.

Schönherrs Arzt kommt auf Grund seiner Arbeiten zu dem Schlusse, daß ein Kranker, der die Erkenntnis seiner Krankheit hat, ein Verbrechen an der Nachkommenschaft begeht, wenn er seinem Naturtrieb freien Lauf läßt und fortpflanzt, was im Interesse der Nation, der Menschheit ausgerottet werden sollte. Ganz trocken gesprochen, fordert der Arzt Schönherrs für Ehe und Fortpflanzung die obligatorische Zustimmungserklärung des Arztes. Fordert also, die Übermacht der Erkenntnis über die Natur, fordert somit die Reglementierung der Natur durch die Kultur. Dieser Arzt nun erfährt durch eine Untersuchung des eigenen Blutes, daß er selbst Glied in einer Kette ist, die schon vorher hätte abgerissen werden sollen, und die bei sich abzureißen seine wissenschaftliche und menschliche Pflicht ist. Er erfährt aber auch gleichzeitig, daß seine Frau eine begeisterte Anhängerin seiner Erkenntnisse, bereits ein Kind von ihm unter dem Herzen trägt. In ihr wirft das Mütterlichkeit zusammenfällt, ist das kranke, schwache, der Verstandes die bisherige Überzeugung samt allen Beweisen (das letztere sogar äußerlich in der Form der gesammelten Krankheitsgeschichten) dem Gatten vor die Füße. Ihrer absoluten Weiblichkeit, die für Schönherr mit der absoluten Mütterlichkeit zusammenfällt, ist das kranke, schwache der Sorge und Zärtlichkeit also um sobedürftigere Kind das Ziel fast noch unwiderstehlicherer Sehnsucht. Im Manne aber erringt das geistige Kind vorerst noch einen Pyrrhussieg über das Leibliche. Er nimmt seiner Frau wider ihrem Willen die wurmstichige Frucht vom Baume der Erkenntnis. Die Szene, in der sie erwacht und entdeckt, was mit ihr geschehen ist, die Leere in sich fühlt, die nicht nur in ihrem Leib, sondern auch in ihrem Mutterempfinden entstanden ist, bedeutet den Höhepunkt des Dramas. Den Flüchen der siech in die Welt geschickten Kinder, die den Mann vor sich herjagen, setzt sie den Fluch des gemordeten Lebens, den Verdammungsschrei der geschändeten Weiblichkeit entgegen:

Aber in ihm steigert die Krankheit, in ihr die Gesundheit den Naturtrieb. Die Natur nimmt den Kampf mit dem Versuch, sie zur Ordnung zu rufen, sogleich auf und zwingt die beiden Menschen noch einmal zusammen. Und sie erreicht noch einmal ihren infernalischen Zweck über Einzelleichen zur Massenproduktion zu gelangen. Die Frau jubelt, wie sie neues Leben in sich spürt und wieder ist sie freudig, wie aus einer Unerlöstheit befreit, in dem Gedanken, ein hilfsbedürftiges Kind hegen und pflegen zu können. Aber sie verbirgt ihre Freude vor dem Gatten, vor dem Sterbenden, der sein geistiges Kind geboren hat und es stolz der Welt zeigt, selbst aber seinen letzten Frühling erlebt, den Frühling, der ihn knickt. Sonderbar. Das sieche Leben in ihr, das ja noch gar nicht Leben, nur Keimen ist, liebt sie, aber dessen siecher Erzeuger ist zugleich für sie abgetan. Ihre Gesundheit, von der sie gar nicht genug haben kann, um viel und immer mehr dem Kind zu geben, das kranke Blut des Vaters in ihm zu ersticken, sehnt sich nach Gesundem. Die Erkenntnis hat in ihm einen Triumph gefeiert und die Natur in ihm erwürgt. Er ist fertig und greift zum Giftstäschchen. Da hört er ihren Jubelgesang, ruft sie zu sich und verlangt von ihr, daß sie ihm das Gegengift reiche. Aber sie weigert es ihm, ja sie stößt ihn zurück, wie er selbst danach tastet, sie läßt ihn sterben und wirft sich dann laut aufschluchzend über seine Leiche. Die Natur hat gesiegt, und im Gesunden die Erkenntnis erwürgt.

Ganz monumental ist das alles aufgebaut. Nicht völlig ohne Theatralik freilich. Und dich mit einer fast vernunftverachtenden Gradlinigkeit. Halsstarrig, ohne Angst vor der Banalität, ja selbst vor der Kitschigkeit. Die berühmte Technik Ibsens, den Figuren doppelten Boden zu geben, sie zugleich als streng profilierte Individuen und als allgemeine Symbole zu gestalten, wird gar nicht versucht. Das Menschliche und das Symbolische decken sich bei Schönherr. Zweckfiguren. Der Mann, das Weib als Spielball der Urtriebe. Und unter diese Urtriebe zählt Schönherr auch einen ethischen: den Bekenntnistrieb. Im Kampf des Bekenntnistriebes gegen die Gewalt entsteht für ihn immer das, was man die tragische Schuld nennt. Nachdem sich seine Kritiker den Kopf darüber zerbrochen haben, ob die Verwendung von nur drei Personen für ein fünfaktiges Drama dichterisch Armut oder Reichtum bedeute, hat sich dieser dramatische Krafttadel entschlossen, zwei Personen fünf Akte lang miteinander allein sein zu lassen. Seine künstlerische Absicht bei dieser Diminuendo-Lizitation an Personen ist klar: er schaltet alles zufällige Beiwerk, das andere Dichter zu einem Problem mühsam dazutragen, ebenso sorgfältig aus. Dasselbe macht er mit der Dekoration, für die er nur jene Verfaßstücke zuläßt, die Verwendung finden, sein Ideal ist die absolute Konzentration. Er regt die Phantasie des Zuschauers nur in der Richtung an, in der sie für seine Zwecke zu arbeiten hat. Zwei Personen also erzeugen in diesem Stück eine ununterbrochene, steil aufsteigende dramatische Spannung. Es mag Eigensinn darin stecken, aber gewaltige Kunst ist es jedenfalls.

Ihn spielt unser Edthofer, der zu diesem Zwecke aus Berlin geholt werden mußte, Sie gibt Lucie Höflich, die wir in Wien auch schon kennen. Vor der Hingabe, mit der diese beiden Künstler dieses erschütternde Ringen der Erkenntnis mit dem Naturtrieb auf das Schaugerüst stellen, müßte jeder kritische Einwand verstummen. Hier agiert sublimierte Menschlichkeit. Die Regie führt neben dem Dichter Friedrich Rosenthal. Er hatte die schwere Aufgabe, den spielleitenden Dichter von den Schauern der Zeugung zu befreien. Und „Es“ gelang ihm.

In: Der Morgen, 26.12.1922, S. 4-5.

Viktor Trautzl: [Theater, Kunst und Musik] „Es.“ Schauspiel in fünf Akten von Karl Schönherr

Uraufführung im Deutschen Volkstheater am 23. Dezember 1922.

Vielleicht hat so mancher im Stillen gehofft, in Schönherr einen Kronzeugen im Kampfe gegen den sogenannten Mutterschaftszwang zu finden, vielleicht standen sogar anfangs des Dichters Sympathien auf der Seite des Forschers, den die Liebe zur Menschheit wichtiger erscheint als die Liebe zum Menschen. Und trotzdem bricht im Verlaufe der dramatischen Entwicklung das kunstvoll gezimmerte Gerüst wissenschaftlicher Beweisführung zusammen und die Natur triumphiert über den schwachen Menschen, der ihr seine Gesetze diktieren wollte. Die Tragödie des Arztes, dem die Wirklichkeit die geistvollen Theorien zerstört, verblaßt neben dem Hohenliede der Mutterliebe, die aus jeder echten, reinen Frauenseele erblühen muß, seine wissenschaftlichen Bedenken kennt und gerade diejenigen Kinder am innigsten umfangt, die am schwächsten und am hilflosesten sind.

Wie in „Vivat academia“ führt uns Schönherr auch in seinem neuesten Schauspiel in den ärztlichen Berufs- und Gedankenkreis, der ihm begreiflicherweise besonders nahesteht. Ein junger Kliniker, dessen Lebensarbeit der Bekämpfung der Tuberkulose gewidmet ist, gelangt knapp vor der Erreichung seines Zieles, das ihm die Anerkennung der Fachwelt bringen muß, zur Erkenntnis, daß er selbst ein Opfer dieser entsetzlichen Krankheit sei, des Erbes seiner früh verstorbenen Mutter. Viele hunderte Kinder sah er bisher dahinwelken, wie ein Fluch lastet die Tuberkulose auf den Geschlechtern, nie erlöschend. Seinen Grundsatz, daß kranke Eltern durch Sicherung ihrer Nachkommenschaft ein Verbrechen an der Menschheit begehen, muß er auf sich selbst anwenden, denn für Krankes und Verseuchtes hat die Welt keinen Platz. Sein junges Weib, das bisher mit Stolz seine wissenschaftliche Arbeit begleitet hat, ist über die ihm unverständliche, kühl abweisende Haltung des Mannes bestürzt und die echt weibliche gedankliche Einstellung vermutet eine Untreue des Gatten, zumindest ein Erkalten seiner Liebe. Dieses Mißtrauen zwingt den Arzt, die Ursache seiner Zurückhaltung zu offenbaren. Doch nur einen Augenblick erschrickt Frau Maria vor der fürchterlichen Tatsache, dann erwacht ihr gesundes Empfinden. Was sie bisher rückhaltlos gebilligt, erscheint ihr nun, da sie selbst betroffen wird, als widernatürlich und unbewiesen trotz aller Beweise. In nervöser Ueberreizung tritt sie ihrem Manne entgegen und plötzlich gelangt sie zur Erkenntnis, daß sie selbst Mutter werden soll. Ihr Geständnis schmettert den Gatten nieder. Sein Gelehrtenstolz verträgt es nicht, daß sein eigenes Tun im Widerspruch zu seiner Theorie stehen soll. Ohne Wissen und Willen der narkotisierten Gattin beseitigt er die Frucht ihres Leibes.

Als sie sich dieser Tat bewußt wird, bricht sie seelisch zusammen. Um alles fühlt sie sich betrogen, um das Höchste im weiblichen Leben, ihr Mutterglück. Sie flucht dem Mörder des keimenden Lebens und sucht wie wahnsinnig in allen Räumen des Hauses das Ungeborene und doch schon Ermordete. Kalt und liebeleer vergehen die Tage, der Arzt weiß, daß nur mehr wenige für ihn anbrechen werden. Die brausenden Lenzstürme werfen in sein Blut Feuerbrände. Alle Theorien und Erkenntnisse vergehen und die Liebe führt ihn wieder zu seinem Weibe.

Wieder vergehen Wochen. Sein wissenschaftliches Werk ist beendet, aber auch er ist am Ende seiner Kraft. Er nimmt Gift, um sein Leiden abzukürzen. Sterbend hört er sein Weib singen, wie „junge Mütter“ zu singen pflegen. Aufstöhnend, ruft er Frau Maria herein. Sie leugnet nicht, daß ihr Leib gesegnet sei. Nun hat ihm die Natur wieder sein Werk verpfuscht. Er heischt das Gegengift, er will noch einmal der Stärkere sein. Aber die Mutter seines künftigen Kindes weigert es ihm. Ihr Kind muß leben, wenn es auch krank und hilflos werden sollte. Sie tröstet den Sterbenden und verweist ihn auf die allerbarmende Liebe, die sein Geschöpf auf Erden vergißt. „Mit jedem Kranken und Schwachen kommt wieder mehr Liebe in die Welt. Darum laßt sie leben!“

Aus diesem Stoffe hätte ein fesselnder psycho-analytischer Roman gestaltet werden können; die dramatische Fassung sah sich vor Schwierigkeiten gestellt, die überhaupt nicht zur Gänze überwunden werden können, besonders nicht auf dem Wege, den Schönherr im „Weibsteufel“ und in der „Kindertragödie“ betreten hat und in „Es“ weitergeht. Die Schaubühne verlangt eben einmal, wie schon ihr Name besagt, sichtbare Handlung. Je kleiner daher die Zahl der auf der Bühne auftretenden Personen wird, desto straffer und gewaltiger muß das Geschehen sein, um den Eindruck der ermüdenden Eintönigkeit zu bannen. Diese Erkenntnis zwingt Schönherr, den qualvollen dritten Akt zu bringen, der von den Narkosedelirien und der Verzweiflung der um ihr Mutterschaftsrecht betrogenen Frau erfüllt ist. Auch der grausame Schlußakt und gewisse Kraßheiten des Dialoges, sowie die unvermuteten Abgänge, Unterbrechungen der Streitgespräche durch das Geklingel der Türglocke, das oft angewendete stumme Spiel erklären sich aus diesem Zwange. Hierin liegen die Hauptschwächen des Stückes, das zwar eine gewaltige dramatische Leistung darstellt, aber als Kunstwerk schwere Bedenken erregt. Das neueste Schauspiel Schönherrs reißt an den Nerven, es zerquält unsere Seele, aber es führt uns nicht in jene lichten Höhen, die Endziel und Endzweck jeder künstlerischen Leistung sein müssen.

Als Darsteller hat sich das Deutsche Volkstheater ein erlesenes Künstlerpaar verschieben, Anton Edthofer und Lucie Höflich. Ihre schauspielerische Meisterschaft verstand es, so manche Härte abzuschleifen, manches Krasse zu mildern, aber der derbsinnliche Ausgang des vorletzten Aktes stoßt ab. Lucie Höflich lieh der Gattin des Arztes ihre blonde frauliche Schönheit und ihre vornehme Gestaltungskraft. Weibliche Güte, Verständnis für den ringenden Gatten, den verzweifelten Mutterschmerz, narkotische Träume und klares Wollen, Weiberlaunen und erhabene Frauengröße, alle diese unzähligen Möglichkeiten ihrer Rolle wußte die Künstlerin auszuschöpfen. In Anton Edthofer fand sie einen würdigen Gegenspieler, der diesen gigantischen Kampf zwischen wissenschaftlicher Ueberzeugung und menschlichen Hoffnungen, Träumen und Schwächen erschütternd gestaltete. In Maske und Spiel gleich vorzüglich, trug er mit Lucie Höflich viel zu dem Erfolge des Abends bei. Der Dichter und die beiden Darsteller wurden oft gerufen. Trotz dieser äußeren Ehren und trotz der erschütternden Tragik des Schauspiels wird Schönherr doch über kurz oder lang neue Bahnen dramatischen Gestaltens beschreiten müssen, wenn seine Kunst nicht in gesuchter Manier erstarren soll.

In: Reichspost, 27.12.1922, S. 7.

Felix Dörmann: Problem der Eugenetik.

Zur Erstaufführung von „Es“ im Volkstheater

Dem landesüblichen Wunsche „Fröhliche Weihnachten“ Rechnung tragend, hat das Deutsche Volkstheater dem traurigen Lebensbild „Die Namenlosen“ das trostlose Lebensbild „Es“ von Karl Schönherr unmittelbar folgen lassen. Angenehme Feiertage! Fünf Akte, zwei Personen ein Zimmer, den peinlichsten Anforderungen der Hygiene entsprechend, scheinbar bazillenfrei, aber nur scheinbar. Mitspielende Requisiten: Frühlingssturm, Sonne, mehrmaliges Läuten hinter der Szene, ein paar Takte eines fröhlichen Liedes und Gift. Das Stück selbst – ein Mutter- und Meisterpräparat. Eine Arbeit von seltener Präzision und Reinlichkeit der Durchführung. Eine Energie und Kraftprobe ersten Ranges! Eine absolut sichere Hand hat das Skalpell geführt. In diesem Falle sind Feder und Skalpell identisch. Zwei Figuren wurden hingestellt. Muskeln und Sehnen werden blosgelegt, ohne Zucken und Zittern. Zu jedem Arzt gehört ein Stück Rohheit. Ob auch zum Dichter, bleibe dahingestellt. Jedes überflüssige Fett ich weggeputzt. Aus dem Medizinischen ins Dramatische übersetzt – der Kathechismus als Ziel und Ideal. Seelisches und Dramatisches auf den Kausalnexus zurückgeführt. Schlanksein, die an Dürre grenzt, psychologische Klarheit und Vereinfachung, die schon manchmal als Untiefe und Primitivität wirkt. Unterbewußtsein gestrichen. Resentiments gestrichen. Nuancen des Gefühls gestrichen. Individuelles gestrichen. Alles auf Urtriebe und Grundfarben reduziert. Urtypen hingestellt, wie Goethe die Urpflanze in seiner Metamorphose. Keine Pflanze, nichts Gewachsenes, sondern die Idee einer Pflanze. Letzte Wirkung dieser dichterischen Methode, Empfindung einer brennenden Kälte des Vortrages, Distanz, vor den Figuren, aber Ueberzeugung eine Angelegenheit von höchster erzieherischer Bedeutung kennen zu lernen, durch zwei Figuren, deren Lebensinhalt auf die zwei Ideen beschränkt ist, die sie zu repräsentieren und in dramatischer Form auszutragen haben.

Die Rassenhygiene kennt den Begriff „Eugenetik“. Darunter ist zu verstehen die Lehre von den Bedingungen zur Erzeugung körperlich und geistig wohlgepflegter Nachkommen. Aber auch das Gegenteil. Nämlich die Verhinderung der Erzeugung ungeratener und kranker Kinder.

Ein junger Arzt hat die Idee der Eugenetik als Lebensaufgabe ergriffen; er will der Idee zum Ziele verhelfen und will selbst als Mensch und Forscher mit der Idee zugleich siegen. Der junge Arzt hat eine junge Pflegerin geheiratet, ein Weib von wundervoller Vitalität und stärkstem Mutterempfinden. Der Arzt hat sich bisher für kerngesund gehalten und entdeckt, daß er tuberkulös ist. Sein Weib gesteht ihm, daß sie Mutterfreuden entgegensieht. Der Arzt am Scheideweg. Er bleibt seiner Ueberzeugung treu, hält das Verbot der Fortpflanzung auch für sich aufrecht, benützt einen Schwächezustand seiner Frau, um sie vollends zu narkotisieren, und nimmt ihr gegen ihren Willen das ungeborene Kind. Aufbäumen der Mutterinstinkte, Verzweiflung und Haß gegen den Gatten und Vater, der es nicht sein will. Eheliche Enthaltsamkeit des Arztes, innere Entfremdung der beiden, Bitterkeiten, trotz der „Libido“, die für Lungenkranke bezeichnet ist. Ein Moment der Schwäche, er erliegt seiner Sinnlichkeit und das Weib ihrer aufgestapelten Lebensenergie. Wieder gerät sie in andre Umstände. Aber diesmal verschweigt sie ihre Seligkeit und kämpft für ihr Kind, ob krank oder nicht, sie will es haben und lieben. Der Gatte hat sein wissenschaftliches Werk vollendet, sein Zustand ist trostlos geworden, er weiß, daß ihn der kommende Frühling mitnehmen wird. Er will es nicht erwarten, und das Ende abkürzen. Er greift nach Gift und erfährt sterbend, daß er sich gegen seinen Willen fortgepflanzt, gegen seine Idee gesündigt, und daß sein Geschlecht, das er zum Aussterben verurteilt, weiterleben wird. Verzweiflung des Sterbenden, lieb- und taktloser Triumph der Mutter. Das Leben war stärker und wird immer stärker sein als jede Theorie.

Das Stück wird von zwei Personen bestritten; Zipfel für Zipfel, Worttropfen für Worttropfen enthüllen sich die inneren und äußeren Tatsachen, werden die reduzierten und den entsprechenden Seelen der Menschen bloßgelegt. Analytische Methode. Ibsen hat es so gehalten und Sardou, aber auch schon Sophokles im Oedipus. Als neues Element eingeführt, was man jetzt als Expressionismus bezeichnet und durchaus nicht so neu ist, als man tut. In diesem Falle bedeutet es äußerste Wortknappheit. Jeder sagt aber fühlt auch nur das unbedingt Notwendige. Gefahr dieser Methode: Eindruck absoluter Herzlosigkeit und Schonungslosigkeit von Mensch zu Mensch, Gefühl einer brennenden Kälte und einer pädagogischen Exempelhaftigkeit. Auf jedes Ziel wird gradlinig zugesteuert, der dramatische Knochenbau wird unverhüllt gezeigt. Aufgabe der Schauspieler war, diese harten Formen mit Leben und Liebe zu erfüllen, denn ohne diese kein Eindruck und keine Wirkung von der Bühne. Es gelang nur zum Teil, dem Werke den Charakter als Zweck- und Demonstrationsdialog zu nehmen. Obwohl eine Schauspielerin wie Lucie Höflich auf der Bühne stand und mit der reichen und warmen Fülle ihres Wesens die Eiseskälte der Arbeit durchblutete. Es ist merkwürdig, daß diese Frau von allem Anfang an nur Mutter ist und nichts als Mutter, und sich nicht ein bißchen um den Mann bemüht, und nichts, aber nichts dazu tut, ihm ihre Liebe zu beweisen, um seine Rettung anzustreben. Sie läßt ihn ruhig sterben. Sie verliert kein Wort darüber, daß er alles daran setzen möge, seinem Schicksal zu entrinnen. Hat diese Frau ihren Mann überhaupt jemals geliebt? Der Arzt war Edthofer, Er ist reif geworden und entwickelt die herbe Kraft, die seine Rolle verlangt.

Er macht die Erfülltheit von seiner Idee, die auch vor Schwerstem nicht zurückschreckt glaubhaft und läßt auch unter dem ungeheuren Druck seines Willens für Sekunden ein Gefühl durchbrechen. Trotz der unerhörten Grausamkeit des dramatischen Themas ging das Publikum zum überwiegenden Teile mit. Zögernde und Wehleidige wurden durch die Wucht und Kraft der Darsteller überwältigt und mitgerissen. Die glänzenden Leistungen von Lucie Höflich und Anton Edthofer wurden stürmisch anerkannt und mit ihnen siegte auch die herbe Kunst des Dichters Karl Schönherr, bei dem Fanatisches und Dramatisches, Geniales und Banales eine so seltsame Ehe geschlossen haben und der das Kunststück zusammenbringt, die Liebe lieblos zu behandeln. Der Regisseur Friedrich Rosenthal hat seine schwere Aufgabe mit Takt und Verständnis geführt. Schönherr erschien mit seinen Darstellern nach dem letzten Akt.

In: Neues 8-Uhr-Blatt, 27.12.1922, S. 2.