N.N. (Friedrich Austerlitz): Eine Republik ohne Republikaner

            Gewiß, die Monarchie hat ausgespielt; aber sind die politischen Menschen darum Republikaner geworden? Sind sie erfreut darüber, den monarchischen Popanz losgeworden zu sein, stolz darauf, ihre Geschicke in ungehemmter Demokratie nun selbst bestimmen zu können? Die Republik ist doch nicht bloß eine Staatsform, eine bestimmte Einrichtung der Gewalten im Staate; sie ist in Wahrheit auch eine Lebensauffassung. Erst in der Republik ist Freiheit, Selbstständigkeit und Unabhängigkeit des Volkes restlos erfüllt, wogegen die Einrichtung der Monarchie, und sei sie geartet wie immer und bis zur Wesenlosigkeit abgeschwächt, eine Beeinträchtigung der souveränen Rechte des Volkes ist und bleibt. Die Republik ist die Würde des Volkes, der durch eine Institution, die ihren Ursprung außerhalb der Entscheidung des Volkes, über ihr und unabhängig von ihr sucht und setzt, schwerer Abbruch zugefügt wird. In einer Republik zu leben, muß der Stolz des Bürgers sein; die Monarchie ist Entmündigung, Unfreiheit, Knechtschaft. Empfinden das die Bürger in Deutschösterreich?

            Die Monarchie ist in Oesterreich, wie überall in Schmach und Schande versunken, und ihre Unmöglichkeit und die Unmöglichkeit ihrer Wiederherstellung leuchtet wohl jedermann ein. Der Staatsgrund und der Befähigungsnachweis der Monarchie lag in Oesterreich-Ungarn darin, daß sie die vielen Nationen zusammenfaßte und zusammenhielt; da sie gerade an diesem Punkte ihre vollständige Unfähigkeit bewies, so hat sie ihre volle Zwecklosigkeit dargetan. Denn wenn die Dynastie das nicht zu leisten vermochte, wozu sie da war – und mit welcher Flucht von der habsburgischen Staatlichkeit ihre „Wirksamkeit“ geendet hat, weiß man -, wofür sollte man sie noch brauchen? Aber da wäre es um jeden Heller schade! Von den geheimnisvollen Kräften der Monarchie, mit der man die Gehirne schon in der Volksschule benebelt hat, ist doch gar nichts übrig geblieben; sie haben sich alle als eitel Blendwerk erwiesen. Die treue Armee und die getreuen Völker haben sich beide als Einbildung bewährt; die Vorstellung, dafür zu steuern, dafür Geist und Ehre herzugeben, auf daß ein junger Mensch, dem dazu überdies jede innere Begabung fehlte, den Monarchen darstellen kann, ist zum Schluß jedem peinlich geworden. Womit könnte man es denn begründen – denn auf das einfältige Gottesgnadentum fällt doch heute niemand hinein –, daß sich Deutschösterreich den von allen anderen Nationen abgelehnten Kaiser noch einmal als Dynasten erküren soll? Brauchen wir ihn? Kann er zur Erhöhung unserer Wohlfahrt, zur Festigung unserer Zustände, zum Aufbau unserer Staatlichkeit das geringste beitragen? Welche wirkende Kraft könnte von ihm ausgehen? Würde er etwas anderes sein als eine Last, eine drückende Last schon deshalb, weil ihm zu dem Beruf, für den ihn angeblich eine unerforschliche Vorsehung bestimmt habe, doch auch alle Voraussetzungen und Fähigkeiten fehlen? Das alles ist so selbstverständlich, schon dem bescheidensten Nachdenken gewiß, daß der Besuch einer monarchischen Restauration an der inneren Unvernunft dieser Monarchie vorweg scheitern müßte – womit allerdings nicht gesagt ist, daß er nicht gewagt werden wird, weil nämlich die Monarchen und die Monarchisten das Unabänderliche nie mit Würde zu tragen wissen. Aber eine Heimstatt in den Gefühlen des Volkes wird diese Monarchie, die mit dem fürchterlichen Zusammenbruch geendet hat, nie mehr finden.

             Aber wer aufgehört hat, ein Monarchist zu sein, ist noch lange kein Republikaner geworden. Denn von der Monarchie ist eine Aushöhlung des Geistigen und Sittlichen ausgegangen, die ihre Wirkungen bewahrt, auch wenn die Quelle versiegt ist. War nicht jeder dieser Bürgerlichen stolz darauf, zu dem Hofe in irgend eine Beziehung zu gelangen? War es nicht ihr aller höchster Ehrgeiz, einem Erzherzog oder gar dem Kaiser „vorgestellt“ zu werden? Wohl haben sie die absolute Richtigkeit dieser „Vorstellung“ immer faßlich gesehen, aber es ist ihnen doch immer ein Schauer über den Rücken gelaufen, vor der Majestät oder irgendeinem ihrer Vertreter zu stehen, und für jeden war es die beseligendste Erinnerung, von dem Kaiser „angesprochen“ worden zu sein. Sie sind ihr Leben lang gekrochen, innerlich gekniet, und nun sollen sie, weil die Majestät in Trümmern, aufrechte Menschen sein? Dieses deutsche Bürgertum ist immer Spalier gestanden; sehr oft wirklich, immer aber geistig; sein ganzes Wesen ist von Servilismus durchtränkt, und diese Speichellecker und Bauchrutscher sollen wir uns nun als stolze Republikaner vorstellen? Habt ihr schon einen Bürgerlichen gesehen, der nicht glücklich gewesen wäre, einen Orden, einen Titel, eine Auszeichnung, irgend etwas von dem zu erhaschen, dem allem der freie Mensch nur Verachtung entgegenbringt, das aber auf den Spießergeist als unerhörte Verführung gewirkt hat? Sind sie nicht alle wie besessen dem Adel nachgelaufen, war nicht jeder, auch der Politiker und Abgeordnete, von Glücksgefühl durchbebt, wenn er, was das Ziel seines Lebens war, das kleinste Adelsprädikat endlich erstrebert hatte? Und dieses Volk von kaiserlichen Räten und Hofräten, diese Menschen , die, wenn sie die Anrede Exzellenz gebrauchen können, vor Vergnügen schnalzen, diese kleinen und windigen Seelchen sollen nun den Stolz des freien Mannes empfinden, sollen Republikaner sein, was die Verachtung all des äußerlichen Krimskrams bedeutet, in dem sie ihr ganzes Leben hindurch aufgegangen sind? Auf den Schildern kann man den k. k. Hoflieferanten unschwer auskratzen, aber den byzantinischen Geist, die innerliche Verlotterung auszuscheiden, die sich als Wirkung der monarchischen Institution eingefressen hat, diesen ganzen ungeistigen Sumpf trocken zu legen wird lange Zeit brauchen. Dazu gehört freilich vor allem, mit all den Elementen der monarchischen Verführung aufzuräumen, das Ideal des schlichten Bürgertums von allen Verunreinigungen zu befreien, die die Monarchie, weil sie nur darin ihre Fundierung finden konnte, so üppig ausgestreut hat.

            Und dazu gehört die Einrichtung des Adels mit allem, was drum und dran hängt, den Orden, Titeln und Auszeichnungen, aus denen die Monarchie geradezu ein Mysterium gemacht hat. Die Monarchie abschaffen und ihre Auswüchse bestehen lassen, hieße wirklich halbe und darum vergebliche Arbeit tun. Wie soll die demokratische Rechtsgleichheit gegründet werden, wen der Adel, der doch ihre Verhöhnung und Verneinung ist, aufrecht bleibt? Wie sollen wir ein freies Volk werden, wenn wir den ganzen Unrat der Vergangenheit weiterschleppen? Man sage nicht, daß das nur ein äußerliches Ornament sei und man ihm zu viel Ehre erwiese, wenn man sich nur seine Abschaffung bemühte. Das Aeußerliche hat auf die Vielzuvielen, aus denen leider Gottes das gegenwärtige, von der Monarchie durchseuchte Geschlecht besteht, eine große Gewalt, und für die Vertiefung und Vergeistigung der Republik ist es unerläßlich, diese Macht des Aeußerlichen, des Ungeistigen und Unmoralischen zu brechen. Eine demokratische Republik, die durch den unaufhaltsamen Gang der Entwicklung schon morgen eine soziale Republik sein wird, kann den vergiftenden und verderbenden Pomp und Prunk der überwundenen Vergangenheit nicht dulden; sie muß dem Bürger ein ganz anderes Ideal darbieten, das Ideal der Pflichterfüllung, der Selbstlosigkeit, der menschlichen Solidarität. Wenn wir alle Vorrechte der Geburt verneinen: warum das unmittelbarste Vorrecht der Geburt, das doch eine Erhöhung über die anderen sein will, dulden und fortschleppen? Wir wollen den Sinn der Menschen neuen Idealen öffnen; wie sollen dann die Verlockungen der alten Zeit bestehen bleiben? Wohl wissen wir, daß die wirkliche Macht heute gar nicht mehr bei den „historischen Klassen“ ruht und daß insbesondere der Kampf des Proletariats vor allem auf die Entthronung des Mammons gerichtet sein muß, daß es noch lange nicht ausreicht, den Kaiser zu beseitigen, vielmehr die härteste Aufgabe noch vor uns steht: Zerreißung der Fesseln des Kapitals, die die drückendsten und schmerzhaftesten sind. Aber die Vorarbeit ist eben die Begründung der Demokratie, ihre Auswirkung durch den ganzen Gesellschaftskörper hindurch und dazu ist unumgänglich, daß mit dem Dünkel, mit den Vorurteilen und Einbildungen der alten Zeit Schluss gemacht wird. Es muß rein und hell werden in der Welt.

            Die Republik braucht Republikaner; mit jenen Zweifelhaften und Zweideutigen, die sich mit der neuen Ordnung „abfinden“, ist ihr nicht geholfen. Deshalb muß die Republik für die neue Staatsform, die auch eine neue Lebensauffassung ist, wirken und werben. Wir müssen aus dem öffentlichen Leben alles Falsche und Niedrige entfernen, die ganze Bibelvorstellung von der Entwicklung der Menschheit, wie sie insbesondere in der lumpigen bürgerlichen Geschichtsschreibung, niedergelegt ist, weit von sich weisen, dem Volke den Vorrang in allen Empfindungen verschaffen. Eine solche Reinigung tut auch innerlich not; der Monarchismus hat nicht umsonst Jahrhunderte gelebt, einen ganzen Gedankenkreis um sich gelagert, als daß die Ansteckung, die von ihm ausgeht, nicht tiefer gegangen wäre. Die deutschösterreichische Republik macht deshalb einen so unerquicklichen Eindruck, weil man es allzu deutlich fühlt, daß einem gewissen Bürgertum, die Herren Nationalräte eingeschlossen, ferner Stolz auf diese große Errungenschaft fehlt, den sie vollauf verdient. Aber in den breiten Massen des Volkes ist das Gefühl für diesen gewaltigen Fortschritt lebendig, und die Wahlen zur konstituierenden Nationalversammlung werden ein großes Bekenntnis zu der neuen Zeit werden.

In: Arbeiter-Zeitung, 24.11.1918. S. 1f.

Emmy Stricker: Für die Autoreise

             Im großen Reiseauto von Stadt zu Stadt, von Land zu Land zu fahren, ist zu einer Alltäglichkeit geworden. Kein Fahrplan behindert einen, man ist an Zeit und Ort nicht gebunden. Der Ausblick in die durchfahrende Landschaft und Oertlichkeit ist nach allen Seiten frei. Der Reisegenuß ist ein intensiver. Wenn einer eine Autoreise tut, so kann er viel mehr erzählen, als von einer Eisenbahnreise. Deshalb werden die Anhänger der Autoreisen immer zahlreicher.

             Ein eigener Industriezweig ist um die Ueberlandautoreise entstanden. Sie verlangt großes Raffinement des Gepäcks. Die modernen, geräumigen Gesellschaftswagen befördern viele Personen, denen während der Fahrt Bewegungsfreiheit gelassen werden soll, so daß es einer nicht kleinen Erfindungsgabe bedarf, um möglichst viel Gepäck unterzubringen, um alle für den modernen Menschen unentbehrlichen Reisekleider und -utensilien in kleinen, leichten und doch festen, rationell eingerichteten Koffern zu verstauen.

             Die Reisekleidung ist Gegenstand des größten Interesses der Reisenden und infolgedessen auch der Modeschöpfer geworden. Konnte und kann man fürs Eisenbahncoupé irgendein schickes, praktisches älteres Kostüm oder Rock, Bluse und Mantel nehmen, so verlangt das Ueberlandauto mit seinem bei schönen Wetter der frischen Luft freigegebenen Wagen eine spezielle, für diese Art Reise erprobte Kleidung.

             Gegen den Wind schützt der neu komponierte leichte Leinenhut, der in ganz moderner Weise vorne aufgeschlagen werden kann und durch ein auf sinnreiche Art andrückbares Sturmband seine Krempen schützend um den Kopf, insbesondere die Ohren, breitet. Ein mit Opossumfell verbrämter Homespunmantel, gut übereinandergeknöpft, hat große, viele Utensilien bergende Taschen, die so gearbeitet sind, daß der Inhalt sie nicht aufbauscht.

             Für größere Städtereisen, wie sie beispielsweise jetzt das Handelsmuseum in Verbindung mit einer Rheinreise geplant, wird die Dame zum Eintritt in eine Ausstellung oder zu Empfängen unter dem Mantel im Auto ein etwas elegantes Kleid tragen, das unzerdrückbar und repräsentabel ist. Beispiele? Ein in zwei Farben gehaltenes Krepellakleidchen, etwa in Hell und Dunkel einer Farbe, mit hochzuschließendem Kragen zu einem in den gleichen Farben gehaltenen Hut mit ausstellbarer Schildkrempe kann als elegantes Besuchskleid gelten und bleibt lange tadellos. Ein Plisseekleid mit gesteppten Faltenplissees aus Crepe de Chine hat für die größte Hitze ein abnehmbares Jumpergilet aus Stoff in einer komplementären Farbe, die dem Kleide den ausgesprochenen hochsommerlichen Charakter nimmt: diese Weste kann auch aus Trikot oder Jersey sein. Neu, elegant und praktisch ist ferner ein sandfarbener Kashamantel (Figur 6), der (ohne die anzuknöpfenden Capeärmel) einen einfachen Reiseregenmantel vorstellt; durch die dazugehörigen Capeärmel wird er zum Schiffsmantel gestempelt, der auch eine stürmische Rhein- oder Bodenseefahrt verträgt. Zu einer größeren Autoreise vergesse man nicht, einen Mantel zu nehmen, der durch einen überknöpfbaren Teil, eine eingesetzte Dütenfalte oder durch eine innen eingefügte breite, versteckbare Leiste über den Knien ganz zu schließen ist und nicht klafft. – So kann durch kluge Ueberlegungen die raumsparende Reisedreß par excellence praktisch, elegant und zu vielen Gelegenheiten geeignet, geschaffen werden. Stramm geknöpfte, hohe Wildledergamaschen über Spangenschuhen leisten den gleichen Dienst wie hohe Schuhe und ersparen ein Paar hohe Schuhe.

In: Neue Freie Presse, 2.9.1928. S. 18.

Max Brod: Ausschaltung der Frau?

             Die neueste Literatur bekommt mehr und mehr einen harten, kalten, männlichen Zug. Ganz ebenso wie die moderne Musik antiromantisch, antisentimental klingt. Von Liebe darf weder geredet noch gesungen werden. Das verträgt sich nicht mit der „Sachlichkeit“, dem obersten Postulat der Zeit. Die merkwürdige Schwenkung besteht eigentlich in folgendem: Hart und maschinenmäßig formt sich die Zeit seit Beginn des 19. Jahrhunderts, seit damals jedenfalls in immer deutlicherem Ausdruck – die Dichtung nahm jedoch eine Proteststellung ein, Flaubert erkannte wohl den erbarmungslos nüchternen Mechanismus unserer Epoche, seine Helden aber (die Bovary wie der sentimentale Frederick) zerreiben sich, weil sie sich diesem Mechanismus nicht anpassen können. Dies war im wesentlichen durch Dezennien die Grundhaltung des Dichters. Im Geheimen blieb er Feind der Zeitentwicklung, Feind des Amerikanismus. Das Problem taucht auf: Haben die neuen Dichter submittiert, haben sie ihren Kampf im Namen des Geistes aufgegeben, hat die nüchterne Zeit jetzt endgültig über alle Proteste weg gesiegt?

             Liebe, Liebessehnsucht galt ehedem als Einblick in den tieferen Sinn des Daseins, Leidenschaft für eine Frau erhellte zauberhaft jene Zusammenhänge, die sich in den bloß egoistischen Beziehungen zwischen Menschen des Alltags den stumpferen Sinnen entziehen. (Was hier von Liebe gesagt wird, gilt von jeder über den Alltag hinausschlagenden adeligen Herzenswallung.) –  Die junge Generation hat aus dem Krieg ein sehr berechtigtes Mißtrauen gegen allen, was Herzenswallung ist, mitgebracht. Hinter wie vielem, was edle Leidenschaft schien, hinter wie schönen Farben von Patriotismus, Ver sacrum, nationalem und erotischem Aufschwung lag nichts als Phrase, lag Aergeres als Phrase: niedrigstes Interesse von Kriegsverdienern, politisierenden Kapitalisten! Da ist es zunächst höchst richtig und gesund, wenn eine Generation von Desillusionierten heranwächst. Wenn man mit Remarque und Glaeser erlebt hat, wie alles sich auf den einfachen Nenner der Todesangst und eines Gänsebratens bringen läßt – wenn man solche Not und nie zu vergessende Erniedrigung der Menschenkreatur erlebt hat, dann hat man das gute Recht, alles für Schwindel zu halten – mit einziger Ausnahme des Triebes, derartige Greuelzeiten in Hinkunft von der Menschheit abzuwehren.

             In dieser auf elementare Defensive vereinfachten Situation hat in der Tat Liebe und Frau und Herz und Seele nichts zu suchen. Diese Jugend verteidigt sich nur; Erlebnisse des Herzens waren stets Eroberungszüge in unbekanntes Land – im Sinne der heutigen Autoren also Luxus, Distraktion von wesentlicherem Ziel.

             Die jungen Autoren sehen nur den Alltag, das Dokument, die Photographie, Reportage, Sachlichkeit, über die hinaus es nichts zu erobern, hinter der es keinen Sinn zu erschließen gilt. Religiöse Deutung irgendwelcher Art erschienen ihnen als Illusion. (Dies der deutliche Abstand der „neuen Sachlichkeit“ vom älteren Realismus etwa dem Gerhart Hauptmanns.) Die modernen Autoren haben vor nichts so sehr Angst wie vor Illusionen. Durch Illusionen wurden wir in den Krieg hineingezerrt. Den Alltag nicht etwa bejahen, ihn in seiner ganzen Scheußlichkeit, Chaotik, Unmoral sehen – das erscheint als Gesetz. Vom Alltag, der als das einzig Wirkliche betrachtet wird, hinter dem es nichts Wirklicheres, Gütigeres, Liebenderes (Frauenhafteres) gibt, kann man sich nur durch Witz und Ironie distanzieren. Demgemäß wird Ironie zum einzigen Kunstmittel der jüngsten Generation. In der Dichtung wie in der Musik.

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             Die drei großen Erfolge der letzten Berliner Theatersaison zeigen genau in diese Richtung: „Dreigroschenoper“, „Verbrecher“, „Rivalen“. Die beiden ersten konnte man auch in Prag kontrollieren. „Rivalen“ gab es hier zunächst nur im Film. Von der „Ausschaltung der Liebe“ kann man keinen deutlicheren Begriff bekommen, als wenn man im „Theater der Königgrätzerstraße“ das amerikanische Kriegsstück in der Bearbeitung Zuckmeyers [!] über sich hinwegexplodieren läßt. Zwei Männer streiten in der Etappe um die Schenkwirtstochter. Geht der eine an die Front, gehört sie dem andern. Die Frau als Gebrauchsgegenstand, als ein Stück Wäme und Lust ohne den geringsten Schein innerer Bindung. Wie wertlos sie im Grunde den beiden Männern ist, zeigt die Schlußszene: beide müssen an die Front in demselben Augenblick ist ihnen die Frau ein Dreck, sie sehen sie gar nicht mehr, der Appell der Kameradschaftlichkeit siegt über alle Rivalität, Schulter an Schulter marschieren die beiden Männchen, wieder zu Männern geworden in den Schützengraben.

             Zwar sind im Akt zuvor alle Schrecken des Schützengrabens mit Piscatorscher Eindringlichkeit gezeigt worden (Nie zuvor hat sich Piscators Regiekunst zu solcher Einfachheit, Geschlossenheit der Wirkung erhoben; es ist als Regieleistung ein klassisches Werk.) Man hört Granaten heranpfeifen, Schallplatte und Megaphon, Lärmmusik aller Art überfällt dein Hirn, rhythmisch gegliederte Angst strebt Höhepunkten zu, die man kaum mehr für physisch erträglich hält, das Ineinandergreifen der Schreckensszenen steigert sich, Geschoßwind heult, die Deckungen flattern, die Latten biegen sich, rechts stürzt ein Unterstand ein, in der Mitte wimmert ein Sterbender, selbst der Kommandant schreit: „Nie wieder Krieg!“ – das alles ist von heilsamster Tendenz der Abschreckung. Nein, sinnlich erlebt, wirkt es so. Der Idee nach aber, die schließlich das längerhin Wirksame bleibt, …was erleben wir der Idee nach? Gar nichts. Zwei außerordentlich männliche Offiziere, die sich um ein Weibstück raufen, männlich, falls man unter „männlich“ Fluchen, Saufen, Kartenspielen, Fressen, Puffen, Stoßen, Boxen, Ohrfeigenausteilen versteht. Und ein Schimmer von Sympathie ruht auf den beiden ja doch erst, sobald sie die Frau um der Front willen aufgeben. Klingt aber nicht in diesem Moment (die Gegensätze berühren sich) eine alte, höchst verderbliche idealistische Rattensängerweise herein, etwa so – ganz von Ferne her – : „ Im Felde, da ist der Mann noch etwas wert… frischauf, Kameraden, aufs Pferd, aufs Pferd!?“

             Und das ist es, weshalb ich diese Bemerkungen schreibe. Der Stil der Sachlichkeit, der Herzlosigkeit hat seine Gefahrenzone erreicht. Er steht im Begriff, umzukippen, das Gegenteil von dem zu erzielen, was er angestrebt hat. Er steuert, allen Illusionen ausgewichen, einer neuen und viel schlimmeren Illusion zu: der Apotheose des rüden, rein animalischen Menschen. Das Herz und die Sehnsucht hat man ausgeschaltet. Was bleibt übrig: Animal! („Dreigroschenoper“ und „Verbrecher“ weisen, wenn auch nicht so kraß, auf das gleiche Endziel hin.) Nun wäre ernstlich die Frage aufzuwerfen: Wer hat die ärgere Schuld am Krieg, jener Menschentyp, der seine gemeine Gesinnung hinter gleißenden Illusionsphrasen von Gemeinschaft, neuer Zeit, Vaterlandsliebe (im Stil des alten romantischen Idealismus) verbarg und heute noch (teilweise auch vor sich selbst verbirgt oder jene frischfröhlichen Gesellen nach Art der Zuckmeyerschen „Rivalen“, die unter Ausstoßung herzhafter Dialektscherze Revolver zücken und ein Menschenopfer für das wohlfeilste aller Argumente halten? Man kann es auch anders formulieren: Ist der Krieg wirklich infolge eines Zuviel an Herz und Liebe entstanden, so daß man den Heranwachsenden diese romantischen Utensilien gewaltsam aus dem Kopf treiben muß –, wäre nicht vielmehr durch echte Liebe und Verbundenheit, deren Karikaturen allerdings im Nationalismusrausch aufs Gefährlichste kriegsfördernd wirkten, all die Scheußlichkeit nackter Interessenkämpfe, die man als Kampf um höhere Güter der Menschheit aufputzt, einzudämmen gewesen?

             Der überzeugte Ironiker von heute wird einwenden, daß es diese echte Liebe und Menschlichkeit, daß es die Frau, nach der man sich sehnt, in Wahrheit eben nicht gibt, daß sie romantische Illusion und als solche auszurotten ist – daß der Dichter nur die grauenvoll lieblose Wirklichkeit zu zeigen hat.

             Ich werde nicht mit einer Analogie des alten Bonmots antworten: Wenn es keinen Gott gäbe, so müßte man einen erfinden. Dieser gerühmte Satz ist mir nie sehr weise erschienen. Denn ein erfundener Gott ist keiner.

             Ich werde dem Ironiker vielmehr antworten: Seien Sie zynisch, so viel Ihnen behagt, aber seien Sie dabei nicht so sicher! Lassen Sie „Liebe“ zumindest als Problem offen. Mehr als ein schmerzliches, immer wieder schmerzlich erlebtes Problem ist sie ja auch mir nicht. Die Problemlosigkeit ist es recht eigentlich, die ich an den „sachlichen“ Autoren auszusetzen habe; nicht die „Sachlichkeit“, nicht die Wahrheitsliebe, die mir, einem Schüler Flauberts, als Methode und Substanz der Kunst lieb sein müssen. Was bei dieser Problemlosigkeit herauskommt, das zeigt gerade der Fall der „Rivalen“ mit erschreckender Eindeutigkeit. Man zeichnet die Kriegsrüpel objektiv, man zeichnet den Krieg sogar als das unmenschliche Grauen, das er ist, aber in dieser bewußt unmenschlichen, herzausschaltenden Darstellung erscheint mir einem dämonischen Ruck ganz zuletzt, den Autoren gewiß selbst unwillkommen und unheimlich, der Krieg als so etwas wie das verrucht angepriesene „reinigende Stahlbad“. Man hat die Romantik jeglicher (auch der tief berechtigten) Observanz so lange bekämpft, bis man vom äußersten Gegenpol ihrer bösesten Spielart zutaumelt. Wer andern eine Ideologie gräbt fällt selbst hinein.

In: Prager Tagblatt, 11.6.1929, S. 3

Leopold W. Rochowanski: Amerikanische Bühnenkunst

             Seit ungefähr zehn Jahren ist die Bühnenkunst Amerikas in einem fortwährenden starken Umwandlungsprozeß und der Künstler im heftigsten Kampf mit dem fürchterlichen, alles Schöpferische vernichtenden Großbetrieb. Der Erfolg eines Schaffenden, eines, der Neues will, wird drüben geradezu als etwas Wunderbares angesehen, weil die Kenner der Verhältnisse die großen Schwierigkeiten  abzuschätzen wissen, die in den Verhalten der Direktoren und dem  Nichtvorhandensein von stets in sich geschlossenen Schauspielergruppen liegen.

             Es ist bemerkenswert, daß der erste Sieger auf amerikanischem Boden ein Österreicher war. Der Wiener Architekt Josef Urban malte gemeinsam mit Heinrich Leffler die Dekorationen zu „Tristan und Isolde“ für das Opernhaus in Boston und schuf damit die erste Inszenierung in modernem Sinn. Bald darauf wurde er von Eben Jordan nach Boston berufen und seit vielen Jahren ist er an der Metropolitanoper in New York tätig. Ein wichtiger Wegbereiter auf dem Gebiete der Beleuchtungstechnik war David Belasco . Große Impulse gaben auch Reinhardts Sumuru-Inszenierung im Jahre 1912 –, die Arbeiten Golowins und Leon Baksts. Am ausschlaggebendsten aber blieb lange Zeit die Tätigkeit Urbans in Boston und ab 1914 in Broadway. Durch seine Verbindung mit Florenz Ziegfeld jun. hatte er Gelegenheit, seine Absichten in ganz Amerika zu demonstrieren.

             Sehr entscheidend machte sich bald der Einfluß der kleineren Theater geltend. Viele Künstler, die heute zu den bedeutendsten gezählt werden müssen, kamen von dort. So kam Normann Bel Geddes vom Kleinen Theater in Los Angeles. Von den Square Players in Washington kam Lee Simonson und Rollo Peters. Von den anderen seien nur noch Ernest de Weerth – der voriges Jahr auch in Salzburg und Wien bei Reinhardt tätig war – Maurice Brown, Raymond Johnson, Sam Hume, Rudolf Schaeffer, Norman Edwards, Livington Platt, Watson Barratt, Sheldon K. Viele, Munroe Hewlett, Mordecal Gorelik, und Robert Locher hervorgehoben. Von Künstlern, die aus Europa kamen, müssen noch Nikolaus Roerich, Willy Pogany, Boris Anisfeld, John Wenger und Herman Rosse genannt werden. Letzterer hat bedeutende Bauideen für das Theater ausgesprochen.

             Zu den markantesten Künstlern gehört Robert Edmond Jones. Er arbeitete zuerst ein Jahr bei Reinhardt in Berlin und kam vor Kriegsbeginn nach Amerika, wo er vor allem durch seine Inszenierungen des „Macbeth“ von Arthur Hopkins und des „Richard III.“  Aufsehen erregte. Er schuf für dieses Stück als permanenten Hintergrund die grauen Mauern des Towers, stellte auf die Bühne nur einfache Gegenstände, die die Szene andeuteten. Ein eiserner Käfig war das Gefängnis „Heinrichs VI.“, ein hoher Lehnstuhl akzentuierte die Krönung, ein Galgen die Schlußepisode. Seine Shakespeare- und Maeterlink-Inszenierungen zeigen ihn durchweg als eigenartigen schöpferischen Künstler.

              Eine phantasiestarke Persönlichkeit ist Norman bel Geddes. Sein bedeutendstes Werk ist die dramatische Darstellung von Dantes „Göttlicher Komödie“. Geddes schrieb auch das Stück, und zwar aus Anlaß von Dantes dreihundertstem Todestag. Sheldon Cheney hat von der szenischen Wirkung eine ausführliche Schilderung gegeben. Es war höchste Kristallisierung einer visionären Phantasie, restlose Beherrschung von Licht und Farbe, ein ungeheures Schauspiel von Licht, Klang und Bewegung. Die Bühne stellt eine Hügelkurve dar, die, vom Zuschauerraum ausgehend, eine tiefe Grube umschließt. Eine Kaskade von Stufen führt hinab in den Krater, mit Plattformen in abgewogenen Intervallen. Zwei gigantische Sockel erheben sich im Hintergrund, ohne erkennbare Form zuerst, aber eindrucksvoll sich verändernd mit dem Fortschreiten der Handlung durch Erde, Hölle, Fegefeuer und Paradies. Alle Szenenveränderungen werden durch nichts anderes als durch Beleuchtungswechsel und Veränderung der Massengestalt vollbracht. Selten war das Licht berufen, einen so großen Teil der dramatischen Bürde zu tragen. Um die drei Hauptteile des Stückes kenntlich zu machen, kommt in der Höllenszene alles Licht von unten, aus dem Innern des Kraters. In der Fegefeuerszene scheint es von der Bühne zu kommen und während der Paradiesszene strahlt es von oben.

             Die Spielermasse ist mit dem Spiel bedeutungsvoller Einzelfiguren so geordnet, daß es den Eindruck von Szenenwechsel gibt. Die Handlung scheint mehrere Schauplätze zu umfassen, während es eigentlich ein einziger ist. Die Bewegung beginnt mit dem Schreiten der einsamen, emporklimmenden Gestalt, dann kommen Gestalten, die einander begegnen, aus Ecken und Winkeln, endlich drängen geballte Massen über die Szene, sprechen das einemal für sich, sind ein andermal Meereswellen. Sie formen und gestalten auch die großen Säulensockel, zwischen denen der Karren zu Dante hinunterfährt. In dem Wachsen der Bewegung, von dem Schreiten der einsamen Gestalt am Anfang bis zu der menscherfüllten Bühne am Ende, ist das gleiche Sichentfalten wie in dem Wachsen des Lichtes.

             Die beiden Sockel, turmartige, gestaltlose Körper, sind während der größten Zeit des Spieles halb verloren im Dunkel. Doch hie und da tauchen sie empor, nehmen Gestalt an, wirken als Teufelsflügel, als Engelsschwingen und dergleichen. Diese Wirkungen werden hervorgebracht durch Spielermassen, die auf den Plattformen in verschiedenen Höhen erscheinen und Gegenstände in den erforderten Umrissen halten und heben.

              Eine ähnliche Lösung zeigt die Art der Kostümierung. Individuelles ist bei den Massepielern selbstverständlich ausgeschlossen, die Note des Unpersönlichen, Abstrakten wird noch verstärkt, wenn sich im Szenenwechsel die Masse als Gestalt verändert. Die persönliche Gestalt wurde vom Künstler genial negiert, besser, als es Griechen und Orientalen durch Entpersönlichung der Gesichter erreichen.

             In der Schlußszene des Stückes ist das Aufflattern von zwanzig unermeßlich großen Schleiern von einer der obersten zwanzig Stufen jenseits der Sockel. Sie werden langsam aufgezogen, um die Handlung zum Gipfel des Lichtes zu führen.

             Das dritte Element – der Klang – folgt dem gleichen Gesetz allmählicher Steigerung wie Licht und Bewegung. Aus dem ersten Schweigen steigt die Stimme Dantes, das Wort der Dichtung wächst empor. In gleicher Weise beginnt die Musik als ein Ton. Von diesem Beginn geht es in stetem Steigen bis zu dem vollen himmlischen Chor am Ende. Ein Orchester von 150 Mann ist vorgesehen, mit Schlaginstrumenten, Pauken und Trompeten im Vordergrund, die Geigen als Orchesterchor hinter der Bühne. Es gibt auch einen unsichtbaren Chor von mehreren hundert Sängern, die in ein verborgenes Riesenmegaphon singen, dem eine ungeheure Tonsäule entsteigt. Auch Dampfsirenen werden verwendet, um die Chorschreie der Verdammten ausdrücken, und große Pfeifen, um die Luft erbeben zu machen, ohne einen Laut zu geben.

             Normen bel Geddes hat auch im vorigen Jahr für Max Reinhardt die Inszenierung des „Mirakels“ im Century Theatre in New York geschaffen, eine Leistung, die einer eigenen Betrachtung wert wäre.  Ebenso müßten noch seine Theaterbauten besprochen werden.

In: Die Bühne (1927), H 113, S. 24f.

Rudolf Jeremias Kreutz: Nochmals – die Dame

             Emil Lucka, der verehrte Dichter-Philosoph, hat kürzlich an dieser Stelle den Begriff „Dame“ historisch belichtet, kritisch untersucht, und ist nach mancherlei geistwollen Schlüssen zu dem Ergebnis gelangt, daß unsere Zeit dem Typus jenes „zimperlichen Halbwesens, dessen Daseinsinhalt Schönrednerei, Faxen, Toiletten und Tee bedeutet“, feindselig gegenüberstehe. Das weibliche Ideal unserer Epoche sei die Kameradin. Sie lehne schroff die Dame ab, deren Wesensmerkmale Reserviertheit, Umständlichkeit und Aeußerlichkeit seien. Denn sie setze an ihre Stelle Mut, Tatkraft, Zuverlässigkeit bis Selbstopfer.

             Es sei gestattet, das Vorstellungsbild „Dame“ aus einem anderen Blickpunkte zu betrachten, von dorther nämlich, wo Definitionen zwar versagen, aber ein gefühlsmäßiges Etwas, mit Worten kaum erfaßbar, für die Dame zeugt, für ihre seltene, aber um so beglückendere Erscheinung wirbt. Hierzu ist die Vertrautheit mit dem englischen „ladylike“ unerläßlich, einer sprachlichen Formel, die sich restlos ebensowenig verdeutlichen läßt, wie etwa „gentleman“, der mit Ehren- und Edelmann nur höchst obenhin übersetzt ist.

             Ladylike. – Was bedeutet das? Welche Eigenschaften umschließt das Wort? Eine Anzahl, die überall, wo Frauen nach wirklicher Kultiviertheit stehen, nach seelischer und körperlicher Verfeinerung lechzen, stets – gleichgültig, welche „neue Sachlichkeit“ immer das Verhältnis der Geschlechter umformen mag – heiß erstrebt, wenn auch nicht gerade oft vorkommen erworben werden.

             Ladylike: Wollte man damit bloß damenhaftes Benehmen, damenhaftes Auftreten von Fall zu Fall bezeichnen, es wäre reichlich wenig erraten. Was der Engländer meint, beinhaltet eine weit größere Forderung : Stetes damenhaftes Sein. Die Selbstverständlichkeit des tadellosen in seelischer und körperlicher Haltung, die unaufdringliche Harmonie, die Takt heißt, die Unfähigkeit zu brutaler Gebärde, zum schrillen Wort, zu formlosem Außersichgeratens. Die Beherrschtheit in Anmut, die Sparsamkeit der Geste, sei es in Freude oder Leid. Und vor allem: Das völlige Fehlen jedes Konventionellen, Gezierten, Gewollten. Die Frau, in deren Nähe wir sogleich, magisch verzaubert, die Dame erkennen, wirkt immer natürlich. Wir fühlen die Verkehrsformen, die sie zeigt, als mit ihr organisch verwachsen, die sie bestimmt. Womit, weiß Gott, nicht behauptet werden soll, daß die Dame unentwegt Sklavin dieser Distanziertheit sei. Ihr Weibtum folgt keinen „feineren“ Entwicklungslinien als das anderer Frauen, ist ebenso triebbedingt. Aber selbst im Taumel der Sinne, im Ueberschwang der Hingabe, wird ein Wunderbares sie davor schützen, sich dirnenhaft zu übersteigern. Warum sollte sie sich nicht auch zur guten Kameradin eignen? Der Begriff Dame schließt Kameradschaft ebensowenig aus, wie er sie voraussetzt. Er ist weder Hemmung noch Antrieb zu funktionellen Eigenschaften, weil er lediglich ethisch und ästhetisch Gipfelpunkte weiblicher Vollendung umfaßt.

In: Neue Freie Presse, 10.10.1928. S. 1.

Paul Szende: Mode und Klassenkampf

             Welche Verblendung! Welche Einseitigkeit! mag mancher beim Lesen dieses Titels ausrufen. Will man auch schon die weibliche Mode in die Zwangsjacke des Klassenkampfes pressen? Andre werden vielleicht sagen, daß es dem Ernste sozialistischer Prinzipien nicht entspreche, wollte man den Begriff des Klassenkampfes auf den Streit um die Länge der Röcke und der Frisur ausdehnen. Trotz dieser Einwendungen halten wir daran fest, daß der Angriff, den das Proletariat jetzt gegen die bisherige Frauenmoden vom Zaune gebrochen hat, letzten Endes einen Abschnitt desselben  Kampfes bildet, dessen andre Etappen die Klerikalisierung der Schule, der Schmutz- und Schundparagraph, die Schmälerung des Wahlrechtes, die Hetze gegen Einheitsschulen, Schulausspeisung und Kinderfreibäder sind: man will den Aufstieg  und die Befreiung der Arbeiterfrauen und damit der ganzen Arbeiterschaft verhindern oder hemmen. Die bisherige Mode war ein beredtes Symbol dieses Aufstieges, sie führte zu einer weitgehenden Demokratisierung der weiblichen Kleidung. Die frühere Scheidung zwischen höheren und niederen Volksklassen in bezug auf die weibliche Kleidung war größtenteils verschwunden, was das Selbstbewusstsein der arbeitenden Frauen merklich steigerte und ihre Minderwertigkeitsgefühle in hohem Maße beschwichtigte. In den Beziehungen der Geschlechter zueinander ist die weibliche Bekleidung ein wichtiges Mittel der Anziehung und des Wettbewerbes. Je einheitlicher die Mode wurde, desto geringer wurde der Vorrang, den bisher auf diesem Gebiet die Damen der höheren Gesellschaft gegenüber den arbeitenden Frauen genossen.

             Diese Mode war so zugleich das Kennzeichen einer Entwicklung, die mit dem Vorwärtsdringen der Arbeiterklasse untrennbar verbunden ist. Wir können diesen Prozeß als die Rationalisierung des sozialen Lebens bezeichnen. Die Gesellschaftsordnung, die Haupteinrichtungen des sozialen und wirtschaftlichen Lebens werden nicht mehr als von oben her gegebene, für die Menschen unverrückbare Tatsachen betrachtet, die der Kontrolle und der Kritik der untergebenen Massen entzogen sind:  man will wissen, welchen Interessen sie dienen, welche Bedürfnisse sie zu befriedigen vermögen. Dadurch büßen sie ihren früheren mystischen Schein ein. Ein wichtiger Abschnitt dieses Entgötterungsprozesses war auch die Einsicht, daß der Kinderreichtum kein Segen Gottes und daß das Kinderkriegen kein für die Menschen unabänderliches, natürliches Schicksal sei, daß vielmehr die Geburtenregelung möglich, ja sogar notwendig ist. Dieselbe Rationalisierung kam nun auch auf dem Gebiet der Mode zur Erscheinung. Diese Mode war die zwangsläufige Folge der wirtschaftlichen Entwicklung und der politischen Emanzipation der Frauen. Beide entrissen die Frauen ihrem ausschließlich häuslichen Wirkungskreis und führten sie der Berufsarbeit und dem Sport zu. Für viele Frauen war die lange, enge, komplizierte Tracht unmöglich geworden. Das glatte, einheitliche, kurze Schlüpfkleid ist eigentlich amerikanischen Ursprungs und entspricht den demokratischen Tendenzen und Uniformierungsbestrebungen des dortigen Lebens, es brachte auch die Machtstellung und die günstige materielle Lage der amerikanischen Arbeiterschaft zum Ausdruck. Diese Mode bedeutet nicht nur eine seelische, soziale und sexuelle Befreiung für die arbeitenden Frauen, sondern auch eine körperliche Befreiung für die Frauen aller Klassen, früherer unsinniger Moden. Zum ersten Male wurde eine Mode liebgewonnen, nicht weil sie von irgendwelchen mystischen Mächten diktiert war, sondern weil ihre praktische Nützlichkeit und ihre einfache Schönheit freiwillig anerkannt wurde. Darin besteht die weltgeschichtliche Bedeutung der kurzen Röcke. Diesem Umstand war es auch zu verdanken, daß diese Mode eine so allgemeine Verbreitung fand und sich so lange hielt; sie drang  in die entlegensten Täler ein, übte dort denselben überzeugenden Einfluß aus und half selbst eine Ursache der Entfremdung zwischen Stadt und Land, die aus der Verschiedenheit äußerlicher Lebensgewohnheiten stammt, zu mildern.

              Das Modekapital, das seinen Sitz in Paris hat, und für das die Kürze oder Länge der Röcke nur eine Frage der Profitrate ist, sah zuerst dieser Uniformierung mit Freude zu, denn durch die Vereinheitlichung der Mode und infolge des Aufstieges der Arbeiterklasse, der den Arbeiterfrauen erlaubte, für Bekleidung mehr als bisher auszugeben, stieg die Absatzmöglichkeiten der Modelle der Pariser Modehäuser ganz beträchtlich. Allmählich aber trat eine Stabilisierung der Mode ein, so wie dies bei den Männerkleidern der Fall ist. Die Aenderungen, die jede neue Saison brachte, waren nicht einschneidend, das Wesen der Frauenmode blieb dasselbe. Zwar hätte dem Modekapital die ständige Erweiterung des Konsums eine mehr als genügende Schadloshaltung geboten. Aber das Pariser Modekapital genoß sei zwei Jahrhunderten eine Monopolstellung, es war gewohnt, zu gebieten, und seine einzige Geschäftsmethode war, durch den stetigen Wechsel der Mode einen schnellen Umsatz der investierten Kapitalien zu erreichen. Dabei will es auch jetzt bleiben. Die Führer der großen Pariser Modehäuser fingen daher wieder an, auf ihre Monopolrechte zu pochen, sie wollten in jeder Saison den Frauen wieder neue kostspielige Moden mit einschneidenden Veränderungen auferlegen. Durch die neue praktische Mode, deren Symbole der kurze Rock, die kurze Haartracht, die fleischfarbenen Strümpfe und die leichte Einheitswäsche waren, war eine gewisse Solidarität der Frauen aller Klassen geschaffen worden. Gegen sie richtete sich der Angriff der Pariser Modehäuser. Ihr Kriegsziel war das Zerreißen der Einheit der Mode.

             Ich will nicht durch die Aufzählung der Merkmale der neusten Mode den falschen Anschein eines Fachmannes erwecken; eine kurze Übersicht ist dennoch notwendig, weil sie zeigt, daß nicht nur die Methoden, sondern auch die Merkmale dieser Mode eine bewußte Anlehnung an das Mittelalter versuchen. Ich habe nicht nur in der Pariser großen Presse, sondern auch in Wiener bürgerlichen Blättern bezahlte Artikel gelesen, die den feudal-mittelalterlichen Charakter der neuen Modeschöpfungen ausdrücklich betonen. Lange, überreiche, wallende Kleider – Verzeihung, nicht mehr Kleider, sie heißen auch in der deutschen Sprache wieder Roben –, komplizierter Schnitt, Prunk wie in den alten Zeiten, überreiche, gold- und silberdurchwirkte Stoffe, Falten und Zipfel, unnützer und verschwenderischer Aufputz, das Prinzeßkleid – schon der Name spricht Bände – mit der höhergerückten Taille und der durchlaufenden Linie und endlich das große feierliche Abendkleid mit der Schleppe. Auch eine ähnliche Umwälzung der Hutmode wird angebahnt: Feder, Schleier, Spitzen werden wiedereingeführt. Alle diese Merkmale haben nicht nur einen feudalen, sondern auch einen plutokratischen Charakter. Die moderne Frau wird wieder in die Dame rückverwandelt, die ohne Kammerzofe sich nicht mehr anzukleiden vermag und nur im Automobil ausfahren kann. Setzt sich diese Mode gänzlich durch, dann ist die Einheit der Kleidung gebrochen.

             Zum Lob der bürgerlichen Frauen muß festgestellt werden, daß die überwiegende Mehrheit diese neue Mode nur unwillig aufnahm und sogar Widerstand leistete. Nun setzte das Trommelfeuer der vom Modekapital ausgehaltenen bürgerlichen Presse ein. Es ist ein wirklicher Erpressungsfeldzug, der in ihren Spalten gegen die bürgerlichen Frauen geführt wird. Wie in der Politik wendet diese Erpressungstaktik zwei Methoden, eine scheinheilige und eine offene, an. Die eine arbeitet mit Phrasen und Lügen, sie erklärt die bisherige Mode für unweiblich und unsittlich – aber die Rolle des Sittenrichters steht den Vertretern des Modekapitals wirklich schlecht zu Gesicht; mögen sich zu diesem Zweck jüdische Modehäuser noch so sehr mit katholischen Bischöfen verbinden. Wo aber diese Mittel versagen, dort wird eine offene Sprache geführt, man spekuliert unverhohlen auf die Klassen- und Besitzinstinkte der Damen, die man mit allen Mitteln wachzurufen bemüht ist. Es wird ihnen in unzähligen Artikeln verständliche gemacht, daß durch die „Weiblichkeit“ die sexuelle Anziehungskraft der nach der neuen Mode gekleideten Damen unbedingt größer sei, und daß daher die Damen den Vorsprung, den sie vor der Einheitsmode vor den übrigen Frauen hatten, wieder zu erreichen vermögen. Es wird ihnen auch versichert, daß sie nicht mehr Gefahr laufen, mit dem Pöbel in Modegemeinschaft leben zu müssen, denn durch die Kompliziertheit des Schnittes wird es unmöglich, die Modelle wie bisher zu kopieren, die Robe aus dem guten Salon wird wieder ein Privileg der Damen sein. Den Schwankenden und Zögernden gegenüber wird die große Drohung ausgestoßen: Die Pariser Häuser werden nicht nachgeben, ein „Zuwarten“ kann nicht helfen, die Dame, die „gut angezogen“ zu sein wünscht, muß schnell ihre Auswahl treffen. An die arbeitenden Frauen ergeht das Ultimatum, sich dem Diktat, wenn auch murrend, doch freiwillig zu fügen oder das Zurückstoßen in den früheren Zustand der Klassenscheidung auch äußerlich zu erdulden. Ich stelle die Frage, ob diese Taktik nicht vollständig identisch ist mit dem Ultimatum mancher bürgerlicher Politiker in der Verfassungsfrage: Annahme der Verfassungsänderungen – wenn nicht, dann Staatsstreich! Die Vertreter des Modekapitals wissen nur zu gut, daß die arbeitenden Frauen nicht in der Lage sein werden, diese Mode mitzumachen. Sie rechnen aber darauf, daß diese Frauen, um einer beschämenden Degradierung zu entgehen, selbst um den Preis größter Entbehrungen und unter Hintansetzung wichtiger  Lebensbedürfnisse, trachten werden, mindestens ein Kleid nach der neusten Mode zu kaufen, um wenigstens bei öffentlichen Anlässen ihre Minderwertigkeit zu verbergen und ihren Platz im sexuellen Wettbewerb wahren zu können. Sie rechnen nicht damit, daß sich genügend aufrechte und selbstbewußte Frauen finden, die nicht nachgeben, sondern diesen Kampf zwischen Demokratie und Aristokratie in der Kleidung aufnehmen und ausfechten!

             Letzten Endes hängt die Entscheidung davon ab, was die sportliebenden und arbeitstätigen amerikanischen Frauen, die die Hauptkundschaft für das Pariser Modekapital abgeben, tun werden. Doch sind auch die proletarischen Frauen nicht ganz wehrlos. Sind sie geneigt, einen Kampf gegen dieses Diktat zu führen, dann können sie des Anschlusses weiter bürgerlicher Frauenschichte sicher sein. Der Kampf um den Mieterschutz brachte große Truppen des Kleinbürgertums und des intellektuellen Mittelstandes in das sozialistische Lager und gab ihnen dadurch Gelegenheit, sich mit den leitenden Ideen des Sozialismus vertraut zu machen; viele unter ihnen sind gute Sozialisten geworden. Ein solcher gemeinsamer Kampf an der Seite der proletarischen Frauen würde manche arbeitende bürgerliche Frau nicht nur dem Einfluß der bürgerlichen Presse entziehen. In diesem Kampfe wird so nicht nur die künftige Mode entschieden, sondern auch ein gutes Stück Menschheitsgeschichte.

In: Arbeiter-Zeitung. Wien, 15.12.1929, S. 4.

Julian Sternberg: Der neue Thomas Mann

             Thomas Mann, „Der Zauberberg“. Verlag S. Fischer, Berlin. Vier große Epiker, vielleicht darf man sogar getrost sagen, die vier großen Epiker der deutschen Gegenwart, sind beinahe gleichzeitig mit neuen Werken vor das Publikum getreten: Gerhart Hauptmann und Thomas Mann, Artur Schnitzler und Jakob Wassermann. Schnitzler stürmt seinen Weg dahin, Hauptmann schlendert, Wassermann wandelt, Thomas Mann aber schreitet. An den Priester, der die Messe zelebriert und weihevoll als bewußter Vertreter der Gottheit den Altar umkreist, muß man unwillkürlich denken, will man zunächst einmal sich selbst den Eindruck klar machen, den der Erzähler der Buddenbrooks in seinem neuen Werke durch die Art seines Vortrages hervorruft. Ungemein schwierig übrigens, eine tragbare Brücke zu schlagen zwischen dem berühmten Entwicklungs- und Geschlechterroman Thomas Mann´s und seiner letzten Schöpfung, in der, trotz der verwirrenden Fülle der Gestalten doch nur ein Einzelschicksaal restlos abgewandelt wird, das des Hamburger Patriziersohnes Hans Castorp, der auf dem „Zauberberg“, in einem Sanatorium in Davos zu der wahren Erkenntnis von den eigentlichen und letzten Aufgaben des Menschen gelangt, der alle inneren Kämpfe seelischen Zwiespaltes zuvor siegreich bestehen muß, die Thomas Mann, der Denker und Essayist in seinen „Betrachtungen eines Unpolitischen“ mit so glühenden, aus der Zeit und ihren Nöten hervorgeholten Farben geschildert hat.

             Zuvörderst die Bemerkung, daß es eigentlich so aussieht, als habe Thomas Mann sich diesmal das Ziel gesetzt, in seinem 1200 Seiten starken Roman zu zeigen, daß der Roman als Kunstform, wie ihn seine erlauchten Ahnen, die Balzacs und Dostojewskis, als Rahmen für künstlerische und ethische Glaubensbekenntnisse benützt haben, endgiltig ausgespielt hat.

             Er verschmäht es, den Durchschnittsleser durch den lockenden Reiz der bewegten Handlung näher zu kommen und sich damit etwa zu begnügen, daß doch etwas irgendwo haften bleibt von dem Gedankeninhalt des Buches, daß hier und da, von günstigem Wind verweht, ein Samenkorn in einer herablassend überlegenen Selbstverständlichkeit steht es auf jeder der vielen hundert Seiten zwischen den Zeilen geschrieben: Apage Satanas! womit der Durchschnittsleser des Unterhaltungsromans gemeint ist. Dieses Buch fordert starke Nerven und noch mehr; beinahe ebensoviel Geduld nämlich, wie sie die erste und selbstverständliche Bürgerpflicht der Insassen des Zauberberges bildet. Zunächst heißt es sich da und dort zu aklimatisieren, im Buche sich daran gewöhnen, seine Leserexistenz ausschließlich zwischen Schwerkranken und Sterbenden zu verbringen, sich in das Denken und Fühlen dieser Menschen hineinzufinden, die im Bannkreise des Zauberberges leben, die bewußt oder unbewußt den scharfen Trennstrich gezogen haben zwischen sich selbst, ihren Gedanken und Empfindungen, ihrem Hoffen und Fürchten, ihrem Hassen und ihrem Lieben auf der einen Seite und denen da unten im Flachland, den Sklaven des Zeitbegriffs, die nicht das Recht der Schatten genießen, im großen Stil zu rechnen, den Monat oder das Jahr als Zeiteinheit zu betrachten. Für das Dasein auf dem Zauberberg gibt es eben keine Ufer. Das verbietet die Krankheit von der wieder zu genesen, den meisten nur eine Fata Morgana darstellt, die sie im nächsten Augenblick als trügerische Lichtspiegelung durchschauen. Beständige Todesängste bringt es mit sich, so scheint der Dichter zu lehren, daß das Ewig-Menschliche sich freier und unbehindert entfaltet, daß gleich gelösten Ketten die Hemmnisse zu Boden klirren, die den gesunden Durchschnittsmenschen dazu veranlassen, vor sich selbst das unvergänglich Schöne des Menschlichen ganz ebenso zu verleugnen und krampfhaft zu verbergen, wie vor der Umwelt, der man sich nur von Kopf bis zu Fuß gepanzert, mit herabgelassenem Seelenvisier zu zeigen wagt. In jedem Durchschnittsmenschen steckt Faust. Das aufzuzeigen erscheint mir der Wesenskern des neuen Romans Thomas Mann´s.

             Solche Heil- und Unheilsbotschaft wandelt er an seinem Helden ab, dem jungen Mann, der sich gesund dünkend, den Zauberberg besteigt, um dort einen kranken Vetter zu besuchen, selbst als Schwindsüchtiger entlarvt wird und dann sieben Jahre lang dort bleibt.

              Sieben Jahre: Vielleicht ist diese biblische Frist nicht zufällig gewählt. Vielleicht meint der Dichter sieben Jahre lang habe sein Jakob inbrünstig werden müssen, um die Rachel reifen Menschentums, bis sie sich ihm erschließt und ergibt. Und dann scheidet Hans Castorp aus dem Zauberberg: Sein Vetter, der angehende Offizier, ist dem fürchterlichen Leiden erlegen, wie so viele, viele andere, die in diesem Buche vorbeiwirbeln, das einem großen Friedhof gleicht, auf dem die Lichter unzählige Gräber überglänzen. Und jetzt erreicht der Dichter den Höhepunkt seiner gewaltigen Ironie, indem er Hans Castorp am Schlusse des Romans in den Weltkrieg ziehen läßt. Der Überwinder seiner Krankheit wird zugrunde gehen an der großen Massendummheit und Massenverbohrtheit. Dort, wo Thomas Mann mit grauenhafter Eindringlichkeit und entsetzenerregender Plastik von den Gebresten des menschlichen Körpers spricht und dartut, wie oft sich die schwarzen Abgründe öffnen, wie selten ärztliche Kunst oder ein gewaltsames Aufraffen der Natur die Rettung bringt, wirkt er im Grunde doch nicht nihilistisch. Er ist freilich kein unbedingter Bejaher des Glaubens an den Fortschritt des menschlichen Wissens und er lächelt skeptisch zu der Vorstellung, daß solcher Fortschritt doch im Laufe der Generationen der Vernichtung immer mehr Boden gewinnt; er läßt jedoch die Frage wenigstens offen und jedem Leser bleibt es unbenommen zu glauben und zu hoffen. Ganz ebenso wie auch die Schwerkranken in Davos, selbst jene, die triumphierend von sich das Gegenteil verkünden, das Glauben und Hoffen in Wahrheit nicht verlernt haben. Aber dieser Schluß mit dem Schicksal Hans Castorps, welches das Schicksal so vieler deutscher Durchschnittsmenschen gewesen ist, wirkt niederdrückend und reckt sich mit eiskaltem Prankengriff gegen das wehrlose Herz. Hans Castorp ist, das wiederholt der Dichter mit unermüdlicher Eindringlichkeit, ein Durchschnittsmensch. Darum augenscheinlich mißt er ihm auch ein Durchschnittsschicksal zu. Hans Castorp ist in das arge Tanzvergnügen des Weltkrieges hineingerissen worden. „Wir wollen nicht hoch wetten“, läßt sich Thomas Mann vernehmen, „daß er daraus davonkommt.“ Und er apostrophiert seinen Helden: „Ehrlich gestanden, lassen wir ziemlich unbekümmert die Frage offen.“ Dann rechtfertigt er den Ausdruck „Unbekümmertheit“. Er habe die Geschichte Hans Castorp nicht um seinetwillen, sondern um ihretwillen erzählt. Damit hat der Dichter den letzten Schleier von der Wesensart seines Werkes weggezogen. Um seiner Gestalten willen, erzählt der Romanschriftsteller. Anders der Essayist, dem jene Objektivität, jenes Distanzhalten Selbstverständlichkeit bilden, die dem neuen Werke Thomas Mann’s ihre Signatur aufdrücken.

In: Moderne Welt (1925), H. 15, S. 21, 24, 36.

Julian Sternberg: Der neue Schnitzler

             Artur Schnitzler1 , „Fräulein Else“. Verlag Paul Zsolnay, Wien. In seiner neuen Meistererzählung, die der Goethe’schen Definition von der Novelle als der Darstellung des unerhörten Geschehnisses auf den Leib geschrieben ist, hat unser repräsentativer deutschösterreichischer Dichter stolze und ragende Höhen erreicht. Kristallklare, reine Lüfte wehen dort oben und langsam nur gewöhnt sich die Lunge, sie mühelos zu atmen und sich an ihrer ganzen Köstlichkeit zu erquicken. Das uralte Gyges- und Rhodopeproblem in der Gestaltung der modernsten Psychologie und gleichzeitig in Verbindung gebracht mit sozialen Zeitproblemen, die deshalb nicht weniger mit eisenhartem Knöchel an die Pforten unseres Gesellschaftslebens pochen, weil wir uns mit Vorliebe schwerhörig oder taub stellen und uns den Anschein des frommen Glaubens geben, alle seelischen und physischen Nöte des jungen Mädchens aus dem heutigen Mittelstand seien aus dem einen Punkt des manchmal recht phrasenhaften Hinweises auf Beruf und Berufsarbeit zu kurieren. Schnitzlers „Fräulein Else“, der zugemutet wird, sich in blendender Nacktheit vor einem Geldmann zu zeigen, der davon und ausschließlich davon die Rettung ihres Vaters abhängig macht, des Advokaten, der Mündelgelder unterschlagen hat, ist nicht das unberührte, dumpf der Hochzeitsnacht entgegenbangenden Jüngferchen des Familienromans vergangener Tage. Sie ist eine Wissende in jedem Sinne des Wortes. Sie hat die ganze Skala der Eventualitäten ihrer Zukunft emsig durchstudiert. Sie ist illusionslos und sehnt sich nach Illusionen. Sie ist sich ihrer Aufgeklärtheit, ihrer traurigen Kenntnis um Menschen und Dinge wohl bewußt, und gerade das bereitet ihr tiefstes Weh, so daß sie sich selbst Frivolität und Zynismus vorspielt, dies aber wahrlich nicht mit genießerischer Selbstgefälligkeit. Eine Blume, die den Kelch hängen läßt, weil sie der rauhe Lebenswind zu entblättern droht. Mit meisterlichem Gelingen ist das Hin und Her ihrer Stimmungen, ihrer Hoffnungen und Befürchtungen dargestellt. Keiner der großen Seelenschilderer der internationalen Literatur, kein Balzac  und kein Dostojewski hat restloser, mit sichereren und erbarmungsloseren Strichen ein Seelengemälde skizziert. In dieser Novelle ist nicht ein Wort zu wenig und keines zu viel. Sie bedeutet den stärksten Triumph einer ebenso eigenartigen wie fabelhaften Technik, die alles innerliche und äußerliche Geschehen mit zugleich geschmeidigen und muskelharten Händen in den Rahmen eines Selbstgespräches zwängt, innerhalb dessen Else‘s Untergang sich atemberaubend, zwingend, mit der ganzen Unabwendbarkeit des antiken Pathos vor den Augen des Lesers abspielt. Zu dieser Technik, die zum ersten Mal im „Leutnant Gustl“ die literarische Welt in ehrfürchtige Bewunderung versetzte, ist der Dichter nach zwei Jahrzehnten zurückgekehrt. Er hat seither nichts eingebüßt von jener kraftvollen, federnden Gladiatorenart, die sich der Sprache als unbesiegbarer Überwinder entgegenstellt und mit ihr, die sich willenlos beugt, in einer glühenden Umarmung verschmilzt. Diese intensivste Ichform unterscheidet sich wesenhaft von jeder anderen Erzählerart. Nirgends sieht man den Dichter sich soufflierend über sein Geschöpf beugen. An den griechischen Athene-Mythos von der Tochter des Zeus, die gewappnet dem Haupte des Olympiers entspringt, ist man zu denken geneigt. Und welch tief innerliche Keuschheit atmet Schnitzlers Monna Vanna, die nur mit dem Mantel bekleidet in den Saal tritt, wo sie die Hülle fallen läßt, nicht allein vor dem, der es geheischt, nein, vor Allen, die ja irgendwie unbewußt Mitschuldige jenes Frevlers sind. In dieser Gebärde liegt die große, die flammende Anklage gegen die heutige Gesellschaft. Dann bricht sie ohnmächtig zusammen und auf ihr Zimmer getragen, gewinnt sie für einen Augenblick wieder ihre Besinnung, trinkt das Veronal, das sie vorhersorgsam in das Glas geschüttet hat und bis zu ihrem letzten Atemzug macht sie sich und ihr Hingleiten durch die schwarze Pforte des Todes dem Leser verständlich. Die Parallele mit Leutnant Gustl zeigt die Entwicklung des Dichters vom Standesproblem zu Menschheitsfragen. Immer wieder habe ich dieses Buch gelesen, und immer neue verborgene Schönheiten wiesen sich dem erstaunten und ergriffenen Blick. In „Fräulein Else“ ist Artur Schnitzler nicht nur der große Künstler, sondern auch der liebenswerte Mensch, der gütige Versteher und Verzeiher.  Er wäre nicht der Dichter, der er ist, wenn er uns nicht in „Fräulein Else“ seine Maria Magdalena geschenkt hätte.

In: Moderne Welt, Zwei Bücher von denen man spricht, Heft 15, 1925, S. 21.

  1. Die Schreibweise des Vornamens wurde in dieser Form von Sternberg verwendet und daher hier beibehalten

e[rnst] f[ischer]: Sprechchor und Drama

Alle, die das Problem des Theaters, des Dramas, der Bühnenkunst prüfen, konstatieren seit Jahren in sämtlichen europäischen Ländern die Krise des Schauspiels. Immer wieder ist es vor allem das eine, dessen Mangel schmerzlich empfunden wird: der unmittelbare Kontakt mit dem Publikum. Einst Megaphon religiöser Erlebnisse, später Tribüne herrschender oder revoltierender Klassen, ist das Theater ein Luxuslokal geworden, in dem zusammengewürfelte Massen sich unterhalten wollen. Einerseits erstarrte das klassische Drama in tönender Langeweile, Anlaß zu Festprologen und billigen Phrasen, andererseits waren Autoren und Regisseure gezwungen, durch Effekte lärmender oder sentimentaler Art die Nerven des Publikums zu dem neuen Werke zu verführen. Zwischen  dem zahlenden Publikum und der Bühne klaffte ein Raum, der nur durch die Sensation überbrückt werden konnte.  Dichtung, Inszenierung, Erfolg waren Zufälle ohne tiefere kulturelle Bedeutung, ohne lebendige Bindung mit der Zeit. Man konnte immer auch anders. –

             Das Theater der letzten Jahrzehnte war das Theater des altgewordenen Bürgertums, des Bürgertums, das die Klassiker zu Zitatenonkeln entfärbte und sich bei Operetten von ihnen erholte, des Bürgertums, dem die Werte Schillers zur Konvention und Extravaganzen der Kunst zum Bedürfnisse geworden waren, des Bürgertums, das aus der Wirklichkeit in die Romantik floh. Der Naturalismus war der letzte große und einheitliche Versuch, aus verstaubten Kulissen das schwindende Leben zu retten, der Naturalismus, der zugunsten der von den bürgerlichen Epigonen mit Limonade vergifteten Wahrheit auf Stil und Symbol verzichtete und sich daher sehr bald in innere Widersprüche verwickelte, an denen er starb. Dann kamen die teils genialen, teils schwachsinnigen Experimente des einzelnen, auf eigene Faust eine neue Form des Dramas zu finden. Von den gewaltigen Experimenten Strindbergs und Wedekinds bis zu den blutlosen Konstruktionen der Expressionisten oder den Kunststücken Pirandellos wirken nur ein gemeinsames Wissen, ein gemeinsamer Wille in den Dramatikern des interessant verwesenden Bürgertums: „Die alten Formen sind tot, wir müssen neue finden.“

             Es ist charakteristisch für die Zeit der triumphierenden Technik, daß die Regisseure (vor allem die russischen) die Möglichkeiten einer Theatererneuerung viel deutlicher witterten als die Dramatiker, daß die Inszenierung die Voraussetzungen für Kunstwerke schuf, mit denen die Zeit schwanger geht, ohne sie gebären zu wollen. Der Regisseur riß die Herrschaft an sich und wurde zum eigentlichen Schöpfer und Dichter, ohne daß aus der wundervollen Maschinerie ein Gott sich erhob. Aber die Bühnenzauberer unserer Tage, die Meister des Lichtes, der Farbe und der Dynamik, haben Urkräfte des Theaters entfesselt: Sie haben die von Pedanten vertriebene Lust am Spiel zurückgerufen und sie haben künstlerisch das zwanzigste Jahrhundert entdeckt. Das alles gilt freilich nur für die Inszenierung, nicht aber für die Unterwerfung der Darsteller unter einen bestimmten Stil.

             Das Proletariat war von diesen Ereignissen ausgeschlossen, das Theater war eine Angelegenheit der bürgerlichen Gesellschaft – und weil es das war, konnte es nicht mit strotzendem Leben erfüllt werden. Die sterbende Klasse war nicht mehr fähig, kulturproduktiv in die Zukunft zu zeugen. Nun aber erleben wir etwas seltsam Erschütterndes: Während das Bürgertum die technischen Voraussetzungen für eine neue Bühnenkunst improvisierte und das Theater technisch revolutionierte, begann im Proletariat die neue Form des Dramas organisch sich zu entfalten. Kulturelemente werden nicht am Schreibtisch erklügelt, sie wachsen langsam in tausend Herzen und sind auf einmal da.  Und so entstand an vielen Orten zugleich, aus der Schöpfersehnsucht der proletarischen Jugend geboren, der Sprechchor. In namenloser Gemeinschaft, wie es an den Maschinen steht, wie es gegen die Ordnung der Dinge sich aufbäumt, wie es zu schicksalsverkitteter Solidarität sich bekennt, schafft sich das Proletariat seine Kunst. Der Sohn, die Tochter aus bürgerlichen Familie imitieren, wenn sie sich künstlerisch betätigen, den übelsten Typus des bürgerlichen Kunstbetriebes, den Star, der junge Proletarier, die junge Proletarierin symbolisieren in ihrem Verlangen nach künstlerischem Ausdruck das Schicksal der Klasse, der sie angehören, den Dienst an anonymem, an kollektivem, an gemeinsamem Werk. Kunst und Leben sind eins in diesem Tun und das ist entscheidend, jede Kultur entsteht aus dieser Einheit von Kunst und Leben, jede Kultur zerbröckelt, wenn diese Einheit sich auflöst.

             Ich halte den Sprechchor in der Tat für die Urform eines neuen Dramas, wie einst der griechische Chor, wie einst der Chor der ersten Kirchenspiele es war. Und wer vor einigen Tagen im Opernhaus den Sprechchor der sozialistischen Arbeiterjugend sah und hörte, wer die wundervolle Kraft und Erschütterung, die von der Sinfonie ihrer Stimmen und der Reinheit ihres Spieles ausging, erlebte, der wird meinen Glauben und meine Hoffnung teilen. Man könnte vielleicht einwenden: Was soll ein gelungenes Experiment beweisen? Nun, was ursprünglich nur als Experiment gedacht war, wurde zum wesentlichen Ereignis. Es handelt sich nicht so sehr um den Effekt, den man mit einem sorgfältig geschulten Sprechchor erzielen kann, es handelt sich vor allem darum, daß das Publikum wieder mitspielt, daß die Menschheit der Zukunft, die Arbeiterschaft, die bisher im bürgerlichen Theater nur ein geduldeter Gast war, sich selber auf der Bühne erleben kann, und zwar nicht nur inhaltlich (das war schon bei manchen naturalistischen Dramen, man denke nur an „Die Weber“, der „Fall“), sondern auch in seiner ureigenen Form, in der unisono empfindenden und hanselnden Masse.

             Das Drama der Zeit, die Großstadt, die Arbeiterbewegung, die Revolution, mußten stets in die Formelemente des bürgerlich-individualistischen Dramas übertragen werden, damit man es überhaupt darstellen konnte – und an diesem inneren Widerspruch kranken alle revolutionären Bühnendichtungen unserer Tage. Es war wohl möglich, eine Massenaktion äußerliche richtig, in photographischer Natürlichkeit, auf die Bühne zu projizieren, aber die innere Wirklichkeit, das geheimnisvolle Fluidum der Masse mußte geopfert werden. Und da es im Drama vor allem um innere Erlebnisse geht, waren die großen, die mythischen, die göttlichen Dinge des zwanzigsten Jahrhunderts von der Bühne so gut wie verbannt und die erotischen und pathologischen Konflikte des untergehenden Bürgertums beherrschten das Repertoire. Eine Wiedergeburt der Tragödie aus dem proletarischen Sprechchor würde die Dichter zur Überwindung der kleinlichen Psychologie, der medizinischen Spässe, der überspitzten Gehirnschweinerein, würde sie zu Form und Größe erziehen.

             Das heißt natürlich nicht, daß morgen oder übermorgen das neue Drama blank und gepanzert vor uns hintreten wird; aber alle Dramatiker, die unter dem Zwiespalte der Bühnenkunst leiden und um den künstlerischen Ausdruck der Zeit ringen, werden bald zu dem Sprechchor der Arbeiterschaft in die Schule gehen und hier aufatmend, mitten unter Maschinen und Konstruktionen, etwas organisch Bewachsenes, herrlich Lebendiges entdecken, etwas das nur darauf wartet, einem Werke dienen zu dürfen. Die Möglichkeiten sind euch gegeben, und das Zeit, die Techniker der Inszenierung und das Proletariat haben alles für euch getan, ihr müßt nur hineingreifen in diese beginnende Welt und aus ihr ein dramatisches Gleichnis formen. Denn nicht aus euren einsamen Experimenten, nur aus dem Wesen einer neuen Gemeinschaft wird eine neue Kultur und mit ihr ein neues Drama sich bilden. Und tausendmal lebendiger und ergreifender als alle eure persönlichen Konflikte und Probleme ist der Sprechchor, den die Arbeiterjugend sich geschaffen hat.

In: Arbeiterwille, Graz, 18.10.1925, S. 5-6.1

  1. Der Text ist auch abgedruckt bei: Ernst Fischer: Neue Kunst und neue Menschen. Literarische und essayistische Texte aus seinen Grazer Jahren (1918-1927). Hg. von Jürgen Egyptien. Graz: Clio 2016, 219-223.

Franz Theodor Csokor: Die neue dramatische Form. (Die Wandlung und ihre Gründe)

             Unleugbar erweist sich bei einer entwicklungsgeschichtlichen Untersuchung sämtlicher Kunstformen die des Dramas als die bis in die jüngste Zeit konservativste. Wohl brachten veränderte kulturelle, philosophische und sozialpolitische Anschauungen  Abwechslung in die dramatischen Themen, doch neben einer ethisch und ästhetisch die Schaubühne als moralische Anstalt konstant fixierende Auffassung ist auch die äußere Konstruktion der Tragödie – Akteinteilung und die Behandlung des Konfliktes nach Schürzung, Steigerung, Höhe und Lösung – seit dem hellenischen Theater fast unverändert geblieben. Auf dieses Schema hat beinahe jede dramatische Kunst sowie sie über den Boden des rein Monologischen und Monodramatischen hinauswuchs, zurückgegriffen und sich daraus ein Baugesetz geschaffen, das zum Axiom für alle die Bühne belangenden Werke erhoben wurde und in ihnen ebenso beim pathetischen Stildrama wie in der Lokalposse nachweisbar ist.

             Die Zerrissenheit unserer Epoche, die in dem großen Krieg äußerlich sinnfällig wurde, als Gezeichnete vorfühlend, wichen die nachnaturalistischen Dichter von dieser, angesichts großer menschlicher (nicht bürgerlicher) Probleme bereits irgendwie unzulänglich gewordenen Tradition. Die tieferen Gründe, die sie dazu vermochten, seien später ausgeführt. Unsere Eingangsbetrachtung will erst die Tatsache feststellen, ehe sie sich an ihre Erklärung wagt. Und eine solche in der Geschichte dieser Kunst völlig frische Tatsache besteht in dem unleugbaren, sich stets stärker straffenden Bestreben um eine Neuorientierung der dramatischen Form, dem parallel eine des Inhalts läuft, die moralische und schönheitsrichterliche An-//sprüche des Zuschauers, ja diesen selbst, ihrer Absicht hintantsetzt. Zum erstenmal in der Geschichte des Dramas geht es gleichzeitig um Form und Inhalt, aus der richtigen Erkenntnis, daß neue Themen zu ihrer restlosen Bewältigung eine besondere ihnen adäquate Technik erfordern. Mag auch vieles der nun bereits seit einem Jahrzehnt darauf zielenden Versuche in gehirnintuitiven Spekulationen steckengeblieben sein, mag oft genug die überklare Bewußtheit der Adepten das Dichterische, das immer nurn aus einer ahnenden Dumpfheit quillt, verätzen, so wird dennoch aus diesen konstruktiven Gebläsen endlich geklärt und schlackenfrei das Drama unserer Zeit strahlen, sobald die Kraft eines Genies in der Synthese wirksam alle jene mehr oder weniger gelungenen Einzelexperimente intuitiv erfaßt und zu einer neuen formgewaltigen Schöpfung vereinigt. Seien Vorläufer freilich haben die kunstgeschichtlich seit alters so undankbare und dabei wichtige Aufgabe, Gerätschaft und Material zu bereiten, daraus sodann unter der Hand des Auserwählten das Meiserwerk entsteht. Während ihres Schaffens durch ihr noch nicht geklärtes neues Wollen aller Gespött, wird ihnen nicht einmal dann Gerechtigkeit, wenn das durch sie angeregte Werk der Zeit seine Erfüllung fand: denn der Glanz des Vollendeten verdunkelt ihre einsamen Beginne.

             „Werk der Zeit“ – diese Bezeichnung könnte zum Widerspruch reizen, zu einem empirisch wohl berechtigten Einwurf. Wirkt denn das große Kunstwerk jeder Epoche nicht stets zeitlos bis auf gelegentliche unwesentliche Chronismen? Stehen seine Maße nach äußeren und inneren Regeln nicht ganz unverrückbar da, als könnten sie gar nicht anders beschaffen sein, so jenseits des Gesetzes der Schwere, wie aus sich selber gewachsen? Kennzeichnet sich nicht eine scheinbare Mühelosigkeit, der man nirgendwo die Qualen der Geburt anmerkt? Gewiß! Aber einzig durch ihre Genesis sind diese ‚klassischen‘ Werke vorbildlich, keineswegs jedoch als schematische Vorlagen, Raster oder Stanzen: denn auch sie zeugten einzig die Kunstgesinnung ihrer eigenen Epoche, nicht die einer vorhergegangenen, zeugten sie als sublimsten und intensivsten Ausdruck ihrer geistigen Haltung, als Abbild ihrer Zeit und deren Querschnitt und Spitzenwirkung in allen Lebensbelangen. Daher das Dramenrezept Shakespeares zu ergründen wie es beispielsweise // Otto Ludwig unternahm, nicht minder eitel bleibt, wie jeder Versuch, auf welchem Kunstgebiete immer, im Geist einer vergangenen Aera zu schaffen. Solchen Rückfühlungen fehlt notwendigerweise der unwägbare Kunstgeist jener ersehnten Zeit im selben Grade wie der Acker religiöser, kultureller und politischer Voraussetzungen, dem er entsprang. Am anschaulichsten wird das in der dem Drama wesensverwandten Architektur, wo sich kein historischer Stil mit Reißbrett und Zirkel erneuern läßt. Man denke da bloß an das Mysterium der Gotik und die kläglichen Purifikations- und neugotischen Arbeiten des neunzehnten Jahrhunderts. Derlei Experimente vermögen stets nur Addition, niemals aber Synthese zu werden, weil das Werk jeder Epoche bereits keimhaft den Auftrieb zur nächsten in sich trägt.

             Dennoch blieb die eingangs konstatierte Unfehlbarkeitserklärung der Antike gleichwie in der eben berufenen Architektur bis in die jüngste Vergangenheit aufrecht, bei einer Verlegung der Wirkungsstrahlen der sie erfüllenden Werke von dem in der Antike bezielten Nervenzentrums des Zuhörens auf sein naives Gefühlsleben und einer dadurch bedingten innerlichen Verweichlichung gegenüber der Tragödie des klassischen Altertums. Gelegenheit zu dieser keineswegs rapid und nur ruckweise vollzogenen neuen Einstellung war immer dann erhöht gegeben, wenn sich das Drama gleichzeitig einer rationalistischen Weltanschauung näherte, gewissermaßen verengt wurde lediglich auf die Äußerungen des Individuums, nicht aber auf deren Genesis in ihm, während der große mystische Motor, der jedes Einzelgeschick und seinen taktischen Zusammenhange mit der Gesamtheit regelt, als wissenschaftlich nicht nachweisbar ausgeschaltet hat. Der Mikrokosmos der bürgerlichen Sozietät, den man sich dann zumeist als Stoffgebiet wählte, enthält zwar auch jene Elemente, die die Schauer des griechischen Dramas, sein „phobos kai eleos“ (Furcht und Mitleid), auszulösen vermöchten, doch viel versteckter und gebrochener; und hatte das Drama der Alten in seiner Versandung zu dem Togawurf der Haupt- und Staatsaktionen geführt, so verfiel man auf der Gegenseite in seelische Kostümstücke, die traurige, nicht aber tragische Ereignisse gestalteten, indem sie sich bloß mit der Feststellung der Endresultate bourgeoiser Affekte begnügten, jedoch ihren Ent-//stehungsursachen und ihrer Problematik nicht nachsannen. Das Los des Oedipus konnte grausig wirken, nie aber sentimental; hingegen verleite die bürgerliche Kleinwelt als dramatischer Vorwurf häufig zu einer umgekehrten Betrachtung. Gerade jene Epoche, die der dramatischen Richtung unserer Zeit – präziser formuliert: dem gefühlsmäßigen Gesamtkunstwillen der Gegenwart auf dem Gebiete des Dramas – vorausging, bietet ein treffliches Beispiel dafür. Und hiermit kommen wir auf die inneren Gründe zu sprechen, die zu jener bereits erwähnten entschiedenen Wandlung in der so konservativen dramatischen Kunstgesinnung führten, zu der radikalen Abkehr der nach naturalistischen Generation von einer seit Jahrtausenden scheinbar unverändert gebliebenen und selbst durch den impressionistischen Sturm und Drang nicht erschütterten Form.

             Diese Gründe liegen in dem kontinuierlichen, durch die Geschichte aller Künste stets wieder fühlbaren Einfluß der zweifachen Einstellungsmöglichkeiten des Menschen zum Kosmos: als dessen irdisch begrenzter eingebildeter Gott oder als machtloser Diener einer darin geahnten höheren Kraft, gleichviel, ob er in ihr ein metaphysisches Wesen oder die erhabene Gleichgültigkeit des Chaos erblickte. In einer derartigen Duplizität des Empfindens, die man allgemein als die des Realismus und des Idealismus determinieren könnte, lösen sich diese beiden Komponenten, jede zugleich schöpferisch wie auch ästhetisch kritisch wirksam, im Willen des Individuums zum geistigen Wert beständig und stets vertiefter ab: sie erzeugen damit jenen Wechselstrom, der zum wichtigsten Antrieb jeder Kunstentwicklung wird. Der Vorgang darin vollzieht sich immer gleich. Durch selbständige Denkkraft und deren praktische Ergebnisse hat sich das Individuum zu einer seiner Ansicht nach dominierenden Stellung gegenüber der Natur aufgeschwungen, logischerweise bleibt in solchen Epochen seine Kunstsprache im Eindruckmäßigen und Realen fixiert mit einem Trieb darüber hinaus, einem metaphysischen Impressionismus, den diese Kunstform bei ihrer letzten Wiederkehr übrigens nicht voll erreicht hat. Beim Aufbau des Dramas drückt sich solche Weltanschauung in einer von harmonischer Gesetzmäßigkeit gezügelten und geschlossenen Tektonik aus, deren höchste zum Kunstdogma // erhobene Vollendung die hellenischen Klassiker erreichten. Verdorrt solcher Wille vor dem ihm mit naturgeschichtlicher Konsequenz folgenden Bewußtwerden irdischer Problematik, so wird Vergeistigung und damit Verewigung der vorher als unkritische Eindrücke gewonnenen Erkenntnisse durch Verankerungen im Gedanklichen erstrebt, das seinerseits Grundlage für tiefere gestaltende Vision bereiten soll, als es die aus dem unmittelbaren Eindruck geborene gewesen war. Die formale Gestaltung eines aus solchem Geiste empfangenen Kunstwerkes entwickelt sich entsprechenderweise ungebunden, in freier Szenenfolge, die einzig von dem Diktat eines tunlichst restlosen Ausdrucks der bezielten Idee durchflutet wird. Immer mehr erringt der Mensch die äußere Herrschaft über die Schöpfung, in stets gewaltigere Katastrophen stürzt er dadurch und sucht doch fort aufs neue Zentralisierung in sich. Dem Wunder der Technik folgt das Wunder des Geistes: Ewiger Kreislauf, dessen produktive Äußerungen bald zentripetalen (Realismus), bald zentrifugalen (Idealismus) Charakter in steigend bereichertem Grade tragen. Bei Eintritt des zwanzigsten Jahrhunderts war die dadurch bedingte Spannung ganz besonders stark gewesen. Der Mensch des Materialismus, der seine Welträtsel erraten und seine Himmel durch die Forscherarbeit des eigenen Hirnes entgöttert gewähnt, hatte sich als Kunstausdruck den Naturalismus geschaffen. Bald darnach aber, wie schon an der vorhergegangenen Jahrhundertwende nach der Epoche der Aufklärung, an die Schwelle des großen „ignorabimus“ gelangt und in dumpfer Ahnung des dahinter dräuenden Chaos, der bereits ab und zu voll schreckhafter Dämonie über seine einsinkenden Selbstherrlichkeitsgemäuer schlug, begann er, unsicher geworden, einen Stabilitätspunkt jenseits dieser Erde zu suchen, darauf er, der vermeintliche Herr der Schöpfung, der sich urplötzlich als sinnlos geschleuderten Lehmkloß empfand, zur Rast für das eigene Werk, für die eigenen Gedanken gelangen konnte. Keinerlei Halt mehr bot ihm die Tatsachenwelt; aus ihr und aus ihr vertrieben, griff er in Wolken. Und während eine fälschlich als Kultur gemeldete Mechanisierung und Maschinisierung seiner Zeit, jene Entwertung und Vernichtung aller Menschenrechte und Menschenwürde vorbereitete, deren schamrote Zeugen wir durch Jahre waren, mußte// er sich, entfremdet sämtlichen Vorlagen, aus einer ihm jählings gespenstisch anmutenden Umwelt mit Hilfe seines Hirnes ein außerirdisches Gerüst errichten, auf dem er seine Gestalten schaffen oder die seiner Brüder im Geiste betrachten konnte.

In: Die neue Schaubühne. H.2/3, Feb. 1921 (Dresden), S. 27-32.