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Franz Theodor Csokor: Die neue dramatische Form (1921)

Franz Theodor Csokor: Die neue dramatische Form. (Die Wandlung und ihre Gründe)

             Unleugbar erweist sich bei einer entwicklungsgeschichtlichen Untersuchung sämtlicher Kunstformen die des Dramas als die bis in die jüngste Zeit konservativste. Wohl brachten veränderte kulturelle, philosophische und sozialpolitische Anschauungen  Abwechslung in die dramatischen Themen, doch neben einer ethisch und ästhetisch die Schaubühne als moralische Anstalt konstant fixierende Auffassung ist auch die äußere Konstruktion der Tragödie – Akteinteilung und die Behandlung des Konfliktes nach Schürzung, Steigerung, Höhe und Lösung – seit dem hellenischen Theater fast unverändert geblieben. Auf dieses Schema hat beinahe jede dramatische Kunst sowie sie über den Boden des rein Monologischen und Monodramatischen hinauswuchs, zurückgegriffen und sich daraus ein Baugesetz geschaffen, das zum Axiom für alle die Bühne belangenden Werke erhoben wurde und in ihnen ebenso beim pathetischen Stildrama wie in der Lokalposse nachweisbar ist.

             Die Zerrissenheit unserer Epoche, die in dem großen Krieg äußerlich sinnfällig wurde, als Gezeichnete vorfühlend, wichen die nachnaturalistischen Dichter von dieser, angesichts großer menschlicher (nicht bürgerlicher) Probleme bereits irgendwie unzulänglich gewordenen Tradition. Die tieferen Gründe, die sie dazu vermochten, seien später ausgeführt. Unsere Eingangsbetrachtung will erst die Tatsache feststellen, ehe sie sich an ihre Erklärung wagt. Und eine solche in der Geschichte dieser Kunst völlig frische Tatsache besteht in dem unleugbaren, sich stets stärker straffenden Bestreben um eine Neuorientierung der dramatischen Form, dem parallel eine des Inhalts läuft, die moralische und schönheitsrichterliche An-//sprüche des Zuschauers, ja diesen selbst, ihrer Absicht hintantsetzt. Zum erstenmal in der Geschichte des Dramas geht es gleichzeitig um Form und Inhalt, aus der richtigen Erkenntnis, daß neue Themen zu ihrer restlosen Bewältigung eine besondere ihnen adäquate Technik erfordern. Mag auch vieles der nun bereits seit einem Jahrzehnt darauf zielenden Versuche in gehirnintuitiven Spekulationen steckengeblieben sein, mag oft genug die überklare Bewußtheit der Adepten das Dichterische, das immer nurn aus einer ahnenden Dumpfheit quillt, verätzen, so wird dennoch aus diesen konstruktiven Gebläsen endlich geklärt und schlackenfrei das Drama unserer Zeit strahlen, sobald die Kraft eines Genies in der Synthese wirksam alle jene mehr oder weniger gelungenen Einzelexperimente intuitiv erfaßt und zu einer neuen formgewaltigen Schöpfung vereinigt. Seien Vorläufer freilich haben die kunstgeschichtlich seit alters so undankbare und dabei wichtige Aufgabe, Gerätschaft und Material zu bereiten, daraus sodann unter der Hand des Auserwählten das Meiserwerk entsteht. Während ihres Schaffens durch ihr noch nicht geklärtes neues Wollen aller Gespött, wird ihnen nicht einmal dann Gerechtigkeit, wenn das durch sie angeregte Werk der Zeit seine Erfüllung fand: denn der Glanz des Vollendeten verdunkelt ihre einsamen Beginne.

             „Werk der Zeit“ – diese Bezeichnung könnte zum Widerspruch reizen, zu einem empirisch wohl berechtigten Einwurf. Wirkt denn das große Kunstwerk jeder Epoche nicht stets zeitlos bis auf gelegentliche unwesentliche Chronismen? Stehen seine Maße nach äußeren und inneren Regeln nicht ganz unverrückbar da, als könnten sie gar nicht anders beschaffen sein, so jenseits des Gesetzes der Schwere, wie aus sich selber gewachsen? Kennzeichnet sich nicht eine scheinbare Mühelosigkeit, der man nirgendwo die Qualen der Geburt anmerkt? Gewiß! Aber einzig durch ihre Genesis sind diese ‚klassischen‘ Werke vorbildlich, keineswegs jedoch als schematische Vorlagen, Raster oder Stanzen: denn auch sie zeugten einzig die Kunstgesinnung ihrer eigenen Epoche, nicht die einer vorhergegangenen, zeugten sie als sublimsten und intensivsten Ausdruck ihrer geistigen Haltung, als Abbild ihrer Zeit und deren Querschnitt und Spitzenwirkung in allen Lebensbelangen. Daher das Dramenrezept Shakespeares zu ergründen wie es beispielsweise // Otto Ludwig unternahm, nicht minder eitel bleibt, wie jeder Versuch, auf welchem Kunstgebiete immer, im Geist einer vergangenen Aera zu schaffen. Solchen Rückfühlungen fehlt notwendigerweise der unwägbare Kunstgeist jener ersehnten Zeit im selben Grade wie der Acker religiöser, kultureller und politischer Voraussetzungen, dem er entsprang. Am anschaulichsten wird das in der dem Drama wesensverwandten Architektur, wo sich kein historischer Stil mit Reißbrett und Zirkel erneuern läßt. Man denke da bloß an das Mysterium der Gotik und die kläglichen Purifikations- und neugotischen Arbeiten des neunzehnten Jahrhunderts. Derlei Experimente vermögen stets nur Addition, niemals aber Synthese zu werden, weil das Werk jeder Epoche bereits keimhaft den Auftrieb zur nächsten in sich trägt.

             Dennoch blieb die eingangs konstatierte Unfehlbarkeitserklärung der Antike gleichwie in der eben berufenen Architektur bis in die jüngste Vergangenheit aufrecht, bei einer Verlegung der Wirkungsstrahlen der sie erfüllenden Werke von dem in der Antike bezielten Nervenzentrums des Zuhörens auf sein naives Gefühlsleben und einer dadurch bedingten innerlichen Verweichlichung gegenüber der Tragödie des klassischen Altertums. Gelegenheit zu dieser keineswegs rapid und nur ruckweise vollzogenen neuen Einstellung war immer dann erhöht gegeben, wenn sich das Drama gleichzeitig einer rationalistischen Weltanschauung näherte, gewissermaßen verengt wurde lediglich auf die Äußerungen des Individuums, nicht aber auf deren Genesis in ihm, während der große mystische Motor, der jedes Einzelgeschick und seinen taktischen Zusammenhange mit der Gesamtheit regelt, als wissenschaftlich nicht nachweisbar ausgeschaltet hat. Der Mikrokosmos der bürgerlichen Sozietät, den man sich dann zumeist als Stoffgebiet wählte, enthält zwar auch jene Elemente, die die Schauer des griechischen Dramas, sein „phobos kai eleos“ (Furcht und Mitleid), auszulösen vermöchten, doch viel versteckter und gebrochener; und hatte das Drama der Alten in seiner Versandung zu dem Togawurf der Haupt- und Staatsaktionen geführt, so verfiel man auf der Gegenseite in seelische Kostümstücke, die traurige, nicht aber tragische Ereignisse gestalteten, indem sie sich bloß mit der Feststellung der Endresultate bourgeoiser Affekte begnügten, jedoch ihren Ent-//stehungsursachen und ihrer Problematik nicht nachsannen. Das Los des Oedipus konnte grausig wirken, nie aber sentimental; hingegen verleite die bürgerliche Kleinwelt als dramatischer Vorwurf häufig zu einer umgekehrten Betrachtung. Gerade jene Epoche, die der dramatischen Richtung unserer Zeit – präziser formuliert: dem gefühlsmäßigen Gesamtkunstwillen der Gegenwart auf dem Gebiete des Dramas – vorausging, bietet ein treffliches Beispiel dafür. Und hiermit kommen wir auf die inneren Gründe zu sprechen, die zu jener bereits erwähnten entschiedenen Wandlung in der so konservativen dramatischen Kunstgesinnung führten, zu der radikalen Abkehr der nach naturalistischen Generation von einer seit Jahrtausenden scheinbar unverändert gebliebenen und selbst durch den impressionistischen Sturm und Drang nicht erschütterten Form.

             Diese Gründe liegen in dem kontinuierlichen, durch die Geschichte aller Künste stets wieder fühlbaren Einfluß der zweifachen Einstellungsmöglichkeiten des Menschen zum Kosmos: als dessen irdisch begrenzter eingebildeter Gott oder als machtloser Diener einer darin geahnten höheren Kraft, gleichviel, ob er in ihr ein metaphysisches Wesen oder die erhabene Gleichgültigkeit des Chaos erblickte. In einer derartigen Duplizität des Empfindens, die man allgemein als die des Realismus und des Idealismus determinieren könnte, lösen sich diese beiden Komponenten, jede zugleich schöpferisch wie auch ästhetisch kritisch wirksam, im Willen des Individuums zum geistigen Wert beständig und stets vertiefter ab: sie erzeugen damit jenen Wechselstrom, der zum wichtigsten Antrieb jeder Kunstentwicklung wird. Der Vorgang darin vollzieht sich immer gleich. Durch selbständige Denkkraft und deren praktische Ergebnisse hat sich das Individuum zu einer seiner Ansicht nach dominierenden Stellung gegenüber der Natur aufgeschwungen, logischerweise bleibt in solchen Epochen seine Kunstsprache im Eindruckmäßigen und Realen fixiert mit einem Trieb darüber hinaus, einem metaphysischen Impressionismus, den diese Kunstform bei ihrer letzten Wiederkehr übrigens nicht voll erreicht hat. Beim Aufbau des Dramas drückt sich solche Weltanschauung in einer von harmonischer Gesetzmäßigkeit gezügelten und geschlossenen Tektonik aus, deren höchste zum Kunstdogma // erhobene Vollendung die hellenischen Klassiker erreichten. Verdorrt solcher Wille vor dem ihm mit naturgeschichtlicher Konsequenz folgenden Bewußtwerden irdischer Problematik, so wird Vergeistigung und damit Verewigung der vorher als unkritische Eindrücke gewonnenen Erkenntnisse durch Verankerungen im Gedanklichen erstrebt, das seinerseits Grundlage für tiefere gestaltende Vision bereiten soll, als es die aus dem unmittelbaren Eindruck geborene gewesen war. Die formale Gestaltung eines aus solchem Geiste empfangenen Kunstwerkes entwickelt sich entsprechenderweise ungebunden, in freier Szenenfolge, die einzig von dem Diktat eines tunlichst restlosen Ausdrucks der bezielten Idee durchflutet wird. Immer mehr erringt der Mensch die äußere Herrschaft über die Schöpfung, in stets gewaltigere Katastrophen stürzt er dadurch und sucht doch fort aufs neue Zentralisierung in sich. Dem Wunder der Technik folgt das Wunder des Geistes: Ewiger Kreislauf, dessen produktive Äußerungen bald zentripetalen (Realismus), bald zentrifugalen (Idealismus) Charakter in steigend bereichertem Grade tragen. Bei Eintritt des zwanzigsten Jahrhunderts war die dadurch bedingte Spannung ganz besonders stark gewesen. Der Mensch des Materialismus, der seine Welträtsel erraten und seine Himmel durch die Forscherarbeit des eigenen Hirnes entgöttert gewähnt, hatte sich als Kunstausdruck den Naturalismus geschaffen. Bald darnach aber, wie schon an der vorhergegangenen Jahrhundertwende nach der Epoche der Aufklärung, an die Schwelle des großen „ignorabimus“ gelangt und in dumpfer Ahnung des dahinter dräuenden Chaos, der bereits ab und zu voll schreckhafter Dämonie über seine einsinkenden Selbstherrlichkeitsgemäuer schlug, begann er, unsicher geworden, einen Stabilitätspunkt jenseits dieser Erde zu suchen, darauf er, der vermeintliche Herr der Schöpfung, der sich urplötzlich als sinnlos geschleuderten Lehmkloß empfand, zur Rast für das eigene Werk, für die eigenen Gedanken gelangen konnte. Keinerlei Halt mehr bot ihm die Tatsachenwelt; aus ihr und aus ihr vertrieben, griff er in Wolken. Und während eine fälschlich als Kultur gemeldete Mechanisierung und Maschinisierung seiner Zeit, jene Entwertung und Vernichtung aller Menschenrechte und Menschenwürde vorbereitete, deren schamrote Zeugen wir durch Jahre waren, mußte// er sich, entfremdet sämtlichen Vorlagen, aus einer ihm jählings gespenstisch anmutenden Umwelt mit Hilfe seines Hirnes ein außerirdisches Gerüst errichten, auf dem er seine Gestalten schaffen oder die seiner Brüder im Geiste betrachten konnte.

In: Die neue Schaubühne. H.2/3, Feb. 1921 (Dresden), S. 27-32.