Klara Mautner: Bildergalerie der Straße (1921)
Klara Mautner: Bildergalerie der Straße
Man spricht sehr viel von Wiener Plakatkunst. Nicht jedem ist es gegeben, die künstlerischen und technischen Werte würdigen zu können, die sie bietet. Aber jeder Mensch mit klarem Blick und gesundem Urteil ist imstande, den moralischen Qualitäten der Plakate, die jetzt unsere Straßen säumen, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Man hastet nur zumeist rasch daran vorüber und nimmt sich nicht die Zeit zu näherer Betrachtung. Das heißt: wir Erwachsenen nehmen sie uns nicht. Die Heranwachsenden, die Schuljugend hat Muße genug, dazu und versäumt es gewiß nicht, die Bildergalerie der Straße liebevoll und sorgsam zu studieren und sich alle die Gemeinheit, Lüsternheit, deutlicher oder minder deutlich vertretene Erotik gründlich zu Gemüte zu führen. An Gelegenheit fehlt es wahrhaftig nicht. Da ist ein Pärchen in engster, absichtlich ungeschickter Tanzverschlingung zu sehen, dort fuchtelt ein ziemlich unbekleidetes Frauenwesen mit den Beinen in der Luft herum, hier streichelt eine Schöne ein Miniaturmännchen auf ihrem Schoß, auf jedem Ballplakat halten Männlein und Weiblein einander eng umschlungen und die Männer haben einen Ausdruck im Gesicht, daß man sich zu einer Ohrfeige veranlaßt fühlte. Natürlich können auch die Kinos in diesem Wettbewerb nicht zurückbleiben, das ist von vornherein einzusehen. Sie tragen ihr redliches Teil dazu bei, die Straßenausstellung für Halbwüchsige anziehend und lehrreich zu gestalten. Daß manche dieser Plakate flott gezeichnet, witzig und elegant sind, soll nicht geleugnet werden. Aber diese künstlerische Qualität (die übrigens beileibe nicht alle auszeichnet), kann mit der Tatsache nicht versöhnen, daß sauber empfindende Frauen – es gibt ja auch das noch in Wien – die Mehrzahl der angebrachten Plakate nicht näher ansehen können, ohne vor Scham und Zorn rot zu werden. Man muß ja durchaus kein Mucker sein, um an den verschiedenen Plakaten für Bälle, Vergnügungsetablissements usw. Anstoß zu nehmen. Dabei kann man dieser Schaustellung auf keine Art entgehen und es gibt auch kein Mittel, Kinder und Halbwüchsige von ihr fernzuhalten.
Welchen Eindruck es auf die Fremden machen mag, in einer Stadt, die in der ganzen Welt für ihre Hungernden gebettelt hat und weiter bettelt, alle Bretterwände mit Darstellungen wüstesten Lebensgenusses beklebt zu sehen, in der „sterbenden Stadt“ Plakate zu finden, deren sich keine Matrosenkneipe und kein Bordell zu schämen hätte, läßt sich leicht vorstellen. Was hilft es, wenn man noch so nachdrücklich darauf hinweist, daß die arbeitende Bevölkerung Wiens neben dem fidelen Schieberpack im bittersten Elend lebt. – die bunten Bilder sprechen gegen uns. Sie zeugen uns, weil wir sie dulden, weil wir aus Trägheit, Achtlosigkeit, Stumpfheit, diesem offenkundigen Unfug nicht entgegentreten. Die hohe Obrigkeit aber, sorgsame Hüterin unserer Sittsamkeit, die vor keinem Mittel zurückschreckt, eine bedenkliche Theatervorstellung, die zu besuchen wahrhaftig niemand gezwungen ist, findet es ganz selbstverständlich, daß sich an allen Straßenecken schamlose Gemeinheit breitmacht.