Leo Lania. Von Charkow über Wien, Berlin und Paris in die USA. Schlüsselstationen eines Protagonisten der Zwischenkriegszeit

Das Modul rekonstruiert die Werkbiographie eines der vielseitigsten und mobilsten Kritikers, Journalisten, Schriftstellers und Filmexperten aus den 1920er Jahren, der an herausragenden und innovativen Projekten in Wien und Berlin beteiligt war bzw. solche realisierte, etwa an den Schnittflächen von Politik und Literatur, Reportage und Dokumentation, sowie im Kontext der neuen Medien Radio und Film. Trotz einer auch im französischen und ab 1941 im US-amerikanischen Exil vergleichsweise starken öffentlichen Präsenz geriet er seit den frühen 1960ern erstaunlich rasch in Vergessenheit bzw. in die Selektionsmechanismen der Literaturgeschichtsschreibung.

Von Primus-Heinz Kucher | Jänner 2012

Inhaltsverzeichnis

  1. Selbstverständnis und Stellung im Kultur- und Literaturbetrieb der 1920er
  2. Frühe Arbeiten (1918-24)
  3. Literaturkritik 1: Proletkult-Debatte am Beispiel einer Trotzki-Schrift und Majakowski-Begegnung
  4. Literaturkritik 2: Theater, Revue, Reportage
  5. Arbeiten für Radio und Film
  6. NS-Kritik 1933, Russland-Reisen und der Weg ins Exil

1. Selbstverständnis und Stellung im Kultur- und Literaturbetrieb der 1920er

In autobiographischen Selbstdarstellungen, Klappentexten, Reden und Briefen unterstrich der 1896 in Charkow als Hermann Lazar geborene, 1903 nach Wien übersiedelte spätere Journalist, Redakteur, Literaturkritiker, Feuilletonist, Schriftsteller, Stückeschreiber, Drehbuch- und Filmautor, aber auch Agitator, Revolutionär, Pazifist, Exilant und Immigrant wiederholt, dass er nicht nur zahlreiche brennende Schauplätze des jungen 20. Jahrhunderts hautnah mit erlebt, sondern mit herausragenden Akteuren quer durch die ideologisch-politischen Lager zum Teil auf Augenhöhe verkehrt habe: mit Bela Kun, dem Führer der gescheiterten ungarischen Räterepublik 1919 in Wien, mit Karl Radek, einer schillernden wie tragischen Figur der Komintern im Umfeld von Leo Trotzki in den frühen Berliner 1920er Jahren sowie im Zuge seiner Russland-Reise 1932, mit Amadeo Bordiga, Mitbegründer der Kommunistischen Partei Italiens, mit Friedrich Austerlitz, Chefredakteur der Arbeiter-Zeitung, aber auch mit Walter Rathenau im Zuge der deutsch-sowjetischen Verhandlungen in Rapallo 1922 oder mit Thomas G. Masaryk, dem tschechischen Präsidenten, dem er über Vermittlung von Karel Capek 1936 vorgestellt wurde, um ihm und seinem Sohn später eine politische Schlüssel-Biographie zu widmen, sowie mit Willy Brandt.1 Selbst Adolf Hitler sei er 1923 als verdeckter Sonderberichterstatter einer faschistischen Parteizeitung, als Undercover-Journalist und Interviewer gegenübergetreten, um ihn daraufhin in einer reißerischen Reportage Die Totengräber Deutschlands bloßzustellen. Dies und seine gewichtige Präsenz in der Tagespresse in Wien und Berlin, seine Kontakte zur Film- und Theaterszene, zu W.G. Papst, Robert Wiene, zu Bertolt Brecht und Erwin Piscator, zu Alfons Paquet, aber auch zu Joseph Roth und später zu Stefan Zweig, um nur einige Namen zu nennen, sein Eintreten für die zeitgenössische amerikanische und russische Literatur machten ihn einerseits zu einer Instanz im literarisch-kulturellen Leben der späteren 1920er Jahre, andererseits verdächtig für die Literaturgeschichtsschreibung. Einer, der sich gewandt auf allen Bühnen präsent zeigte, passt nicht auf die Parameter der Wissenschaft, im Gegenteil, er fordert nachgerade zur Ausgrenzung, zur Verdrängung heraus. Die wenigen lexikalischen Beiträge haben Lania, der diesen Namen 1915 erstmals als Pseudonym für Beiträge für die Arbeiter-Zeitung verwendet hatte, denn auch rasch und nachhaltig rubriziert: als Mitbegründer der KPÖ und Kurzzeit-Redakteur der Roten Fahne, als umtriebigen Journalisten in Berlin, der auf das Fach der Aufdeckungsreportage festgeschrieben wurde und, ohne einen Durchbruch zu erzielen, in der Filmbranche Fuß zu fassen versucht habe sowie, mit Blick auf seine Nachkriegsbücher, als Verfasser von biographischen Romanen und, zuletzt, als Ghostwriter für Willy Brandt. Sieht man vom Beitrag von Karl-Franz Hackel in John M. Spaleks monumentaler Übersicht Deutschsprachige Exilliteratur (1989) sowie vom Eintrag ins Lexikon deutsch-jüdischer Autoren (2007) ab, so ist kaum einer der kleineren Beiträge in der Lage, ein vollständiges Werkverzeichnis anzubieten oder auch nur präziser darzulegen, welche Themen Lania in seinen zahlreichen Feuilletons, Reportagen und literaturkritischen Beiträge abhandelte, welches Formenrepertoire ihm eigen war. Zu monieren ist auch das Fehlen einer fundierten Arbeit über seine vielseitige Exilproduktion, aber auch kritisch nachfragt, warum doch zahlreiche Projekte nicht zustande kommen konnten.2

2. Frühe Arbeiten (1918-24)

Die frühen Arbeiten, d.h. jene, die unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkrieges entstanden sind, tragen unverkennbar die Male der sozialen und politischen Erschütterungen, der Hoffnungen und Enttäuschungen, das intellektuelle und politische Marschgepäck jener Generation, die desillusioniert, aber auch veränderungswillig aus dem Krieg 1918 zurückgekehrt war. Noch bevor Lania zur KPÖ fand und dort, so eine Anekdote aus seiner Autobiographie, aufgrund einer Broschüre, die angeblich Lenin gelesen und lobend kommentiert haben soll, die redaktionelle Leitung des Zentralorgans Die Rote Fahne übernahm3, d.h. vor 1919, veröffentlichte er in der Arbeiter-Zeitung einige feuilletonistische Skizzen und Kurzerzählungen, aus denen neben einem Lesungsbericht zu Karl Kraus die bündige Erzählung Im Nebel ein beachtliches narratives Potential anzeigt.

Im Zuge der internen Debatten und ideologischen Grabenkämpfe, die durch Emissäre der KPD wie aus der Sowjetunion zugespitzt wurden und, so im autobiographischen Rückblick Today We Are Brothers (1942), wesentlich um die Frage weiterer Putschversuche nach dem gescheiterten vom Juni 1919 sowie um die Gewinnung der proletarischen, auf die sozialdemokratisch dominierten Arbeiterräte hörenden Massen kreisten, – Debatten, in denen Lania gemeinsam mit Paul Levi, der auf Karl Liebknecht nachgerückt war, eine pragmatische Position bezog, fuhr Lania im Jänner 1920 erstmals nach Berlin, um mit der Führungsspitze der KPD zu konferieren und strategische Vorgaben einzuholen. Bald danach, 1921, kam es während eines Parteitages in Wien zum Eklat, als Lania Zweifel an der von Moskau vorgegebenen Linie äußerte und sich gezwungen sah, die Partei zu verlassen. Im September 1921 vertauschte er Wien mit Berlin und versuchte dort Fuß zu fassen. Eine Anlaufstelle war dabei das Romanische Café, in dem Intellektuelle und Bohemiens verkehrten, in dem Informationen getauscht, gehandelt und erfunden wurden und Grundlage mancher Projekte und Hoffnungen bildeten. Lania erkannte dieses Bedürfnis und gründete, gestützt auf seine vorangegangenen Kontakte und Informationsquellen, flugs eine Nachrichtenagentur: die  Internationale Telegraphen Agentur (Intel) mit dem heroischen Ansinnen, diese als alternative Instanz zu bürgerlich-konservativen Informationsmonopolen (Wolff und Tel-Union) zu etablieren.

Leo Lania: Today We Are Brothers, Cover

Das Projekt kam zunächst gut voran; es gelang Lania jedenfalls in der Branche Fuß zu fassen, wobei er, mangels Zugriff auf Quellen sowie aufgrund seines Interesses, den verschiedenen reaktionären Putschplänen und geheimen Organisationen auf die Spur zu kommen, verstärkt zu unkonventionellen Recherchemethoden greifen musste. Daraus entstand denn auch die erste Hitler-Reportage 1923 unter dem bezeichnenden Titel Totengräber Deutschlands, bei dem sich Lania als Bruder Mussolinis und Redakteur einer faschistischen Zeitung ausgab. Bald darauf lernte Lania den amerikanischen Journalisten Edgar A. Mowrer kennen, mit dem ihn eine lange und wechselseitig produktive Freundschaft verbinden wird4. Damit war noch vor Egon Erwin Kischs erfolgreicher und nachhaltiger Durchsetzung der Reportage die Idee für die freilich erst 1927 im Verlag Die Schmiede realisierte Reihe Berichte aus der Wirklichkeit, an der u.a. Kisch, aber auch Joseph Roth, letzterer mit dem Band Juden auf Wanderschaft mitwirkten, geboren. Sein nächster Coup bestand darin, brisantes Material im Umfeld von Waffenschmuggel und Aufrüstungsprojekten an verdeckten Schnittflächen zwischen der Reichswehr, reaktionär-fanatischen Zirkeln aus Junkern, alter Hofaristokratie und Industriellen sowie der NSDAP zu sammeln und publik zu machen. Als 1924 Lania dieses Material in Form eines Buches unter dem Titel Gewehre auf Reisen im Malik-Verlag veröffentlichte, war das Echo gewaltig: nicht nur in Form von Besprechungen, die auch den Verfasser schlagartig ins Rampenlicht rückten, sondern in Form eines unmittelbar danach angestrengten Hochverratsprozesses gegen ihn, der allerdings mit einem Freispruch endete. Kurt Tucholsky, der das Buch in der Weltbühne besprach, übermittelte ihm vorsorglich Anregungen, wie sich Lania bei den Gerichtsverhandlungen verhalten solle, die österreichische Botschaft intervenierte beim preußischen Justizministerium und neben zahlreichen deutschen griffen auch einige Wiener Zeitungen wie Die Stunde oder Die Wiener Morgenzeitung den Fall auf – kurzum: Lania hatte damit den Durchbruch in die literarisch-politische Öffentlichkeit geschafft und nützte dies, um 1925 mit Gruben, Gräber, Dividenden die Diskussion über Querverbindungen zwischen Industrie, illegaler Rüstungen und Korruptionsfälle am Beispiel der im Krieg zerstörten, nun spekulativ wieder aufgebauten nordfranzösischen Industrieregion neuerlich anzufachen.

3. Literaturkritik 1: Proletkult-Debatte am Beispiel einer Trotzki-Schrift und Majakowski-Begegnung

Etwa zur selben Zeit setzt seine frenetische literaturkritische Arbeit für mehrere deutsche, österreichische aber auch für pragerdeutsche Zeitungen und Zeitschriften ein. Auch hier exploriert Lania neue Felder, positioniert sich, im Sinne Walter Benjamins, als „Stratege im Literaturkampf“, dem „Partei ergreifen“ ebenso ein Anliegen ist wie der Text, der Film, das Theaterstück oder ein Aspekt des kulturellen oder sozialen und politischen Habitus.5 Bereits manche Titel lassen erkennen, dass hier einer am Werk war, der das große Wort nicht scheute und mit ihm umzugehen verstand. Der Feldherr als Ästhet, erschienen 1924 ziemlich zeitgleich im Prager Tagblatt, im Berliner Börsencourier, im Neuen Berliner 12 Uhr-Blatt und im Leipziger Tagblatt, zählt z.B. dazu. Der Form nach ein klassisch wirkendes Feuilleton, das eine zufällige, faszinierende Begegnung skizziert, nämlich jene mit Majakowski in einem Berliner Hotel, schöpft der Text alle Mittel dialektischer Disputation aus, um grundlegende Fragen eines ‚revolutionär-proletarischen’ Kultur- und Dichtungskonzepts aufzugreifen. Eine kleine Schrift von Trotzki, die auszugsweise gerade auch auf Deutsch in einem Wiener Verlag (!) erschienen war, firmiert als Auslöser, um im Wechsel von Zitat und Kommentar einen plastischen und thesenförmigen Charakter anzunehmen. Geradezu Blasphemisches aus der Sicht der späteren stalinistischen Denunzianten wird dabei fassbar: dass die Kunst materieller Absicherung bedarf, ja des „Ueberflusses“, dass es nicht darum gehen könne, „der bürgerlichen Kultur und der bürgerlichen Kunst die proletarische Kultur und die proletarische Kunst entgegenzustellen“, dass die neue Kunst nicht grundlegend mit der Tradition brechen müsse und die Kunst insgesamt nicht das Feld sei, „wo die Partei zu kommandieren berufen ist“. Was sich als proletarische Kunst geriere, als „Proletkult“, müsse sich erst beweisen; sie mag Ausdruck von Talent sein, kann aber bürgerliche Kunst noch nicht substituieren. Lernen müsse man zunächst, auch  beim sogenannten Klassenfeind, – worauf, so der Schluss, Majakowski lächelnd und nickend anfügte, „er hat mit vielem recht, der gute Trotzki“ Aber auch anfügt: „Obwohl er ein gefährlicher ‚Rechtler’ ist.“6

4. Literaturkritik 2: Theater, Revue, Reportage

Wie breit Lanias Interessen gefächert, aber auch wie leserorientiert seine Einschätzungen geworden sind, zeigen zwei Besprechungen, die vom Thema her wie im Ton nicht unterschiedlicher sein könnten, programmatisch ausgerichtete literaturkritische Beiträge wie z.B. Dichter für das revolutionäre Proletariat oder Maschine und Dichtung in der Wiener Arbeiter Zeitung7 sowie die zahlreichen Alltagsreportagen in den Boulevardzeitungen Berliner Morgenpost, Welt am Abend oder Montag Morgen. Die eine der Besprechungen widmet sich Arnolt Bronnens Rheinische Rebellen anlässlich der Uraufführung im Staatstheater Berlin im Juni 1925, die andere dem Auftritt der Chocolate Kiddies, einer schwarzen Revuetruppe aus New York anlässlich ihrer Tournee durch Europa, die über Berlin auch nach Wien ins Raimundtheater führen sollte. Bronnen, dessen dramaturgische Begabung Lania zunächst herausstreicht, auch dessen Verdienst, den Konflikt mit der Vätergeneration zugespitzt zu haben , wird seiner Aura, seinen großen Gesten buchstäblich entkleidet, auf den nackten Boden seiner eigenen Ansprüche zurückgeholt. Und gerade da zeige sich, dass der von vielen als Shooting Star gehandelte Autor im Versuch, „einen Stoff aus der Geschichte unserer Zeit zu entnehmen und ein Problem zu gestalten“ über seine perfekte, glatte Handwerklichkeit stolpere und die eigenen Ansprüche dabei preisgebe. Bronnens Fähigkeit, Politik und Liebe zu „streckenweise groteske Überraschungen“ verquicken zu können, hinterlasse wohl einen gewissen Eindruck; allerdings hält ihm Lania vor, „unjung“ zu sein und damit an den selbst hochgelegten Ansprüchen zu zerbrechen, weshalb folglich Rheinische Rebellen nicht ungestraft einen missglückten Versuch verkörperten.8 Ganz anders im Tonfall der Text über die „Negertruppe“ und ihre Revuen, die sie aus New York nach Berlin gebracht haben. Ausgelassen, den Bewegungen auf der Bühne nachempfunden, zeichnet Lania deren „wilden Ulk“ nach, „bei dem sich Beine und Arme und Kopf vom Körper lösen und ihre eigenen, verschlungenen Wege wirbeln“. So sehr die wilde Rhythmik des Spektakels seinen Blick gefangen nimmt, so versucht er doch auch hinter sie zu blicken. Und da „kommt es einem zu Bewußtsein, wie raffiniert berechnet und wie gebändigt diese primitive Zügellosigkeit ist“, die freilich nicht als ‚primitiv’ verworfen wird, sondern eher „das entfesselte Theater unserer Zeit“ zu verkörpern unternehme und auch beim Zuseher etwas anspreche, das schon verloren geglaubt war: die Erinnerung an die eigene Kindheit.9

1926 war ein weiteres Schlüsseljahr für Lania: einerseits übernahm er eine Redakteursstelle beim Berliner Börser-Courier, einer der ersten Adressen unter den bürgerlich-liberalen Zeitungen, für die er bis Mitte 1927 zahlreiche Reportagen und Artikel verfasste, die von der Tagespolitik und ihren Politskandalen über die Technikeuphorie im Zusammenhang mit Flugexperimenten bis hin zu Genreskizzen aus dem Alltag reichten. Kurz darauf wechselte er zur Bühne, als sich eine bis in die Exiljahre hineinreichende fruchtbare Zusammenarbeit mit Erwin Piscator ergab. Für ihn verfasste er das Stück Generalstreik (1927), nach ihr kamen in der Folge Lanias Komödie Konjunktur (1927) und die Dramen Emigranten (1928) und Gott, König Vaterland (1930) zur Aufführung. Die Bühnenarbeit führte indes auch zu einer Regieverpflichtung durch Max Reinhardt an den Berliner Reinhardt-Bühnen; sie war aber auch begleitet vom Interesse für die neuen, wirkungsmächtigen Medien Radio und Film und deren künstlerisch-politische Ausdruckspotentiale. Eine geradezu frenetische Produktion, aus der die Filme Hunger in Waldenburg, Die 13 Koffer des Herrn O. und die Mitwirkung am Drehbuch des Dreigroschenoper-Films sowie eine Reihe von Radiostücken und Radiointerviews herausragen, belegt dies. Es handelt sich um eine durch programmatische ästhetisch-kritische Reflexion begleitete Produktion, die Lania nicht nur als Tagesproduzenten ausweist sondern als profunden Kenner z.B. des russischen Films, der internationalen Theatermoderne, des zeitgenössischen amerikanischen Romans oder der Radiodebatte.

Leo Lania: Indeta, Cover

Die Literarische Welt brachte z.B. im Juli 1926 eine jener programmatischen Reflexionen, die u.a. auch deshalb in Erinnerung zu rufen ist, weil sie den Versuch unternimmt, zwei in der Literaturwissenschaft ästhetisch umstrittene Manifestationen zusammenzudenken und auf ihre Tauglichkeit zu befragen. Ausgehend von den Erfolgen Kischs mit dem Rasenden Reporter und der bereits weniger beachteten, für Lania hingegen interessanteren Hetzjagd durch die Zeit fragt Lania in Reportage als soziale Funktion nach der Möglichkeit, die „durchdringende Stimme dieser Gegenwart“ zum Sprechen zu bringen, ohne als „Knecht des darzustellenden Objekts“ dazustehen. Mit Verweis auf Entwicklungen in  Amerika, u.a. der „Heimat der Reportage“, insofern diese durch die Kenntnis der Oberfläche zur „Enthüllung des Kerns“ fortschreite, sieht er den Boden zwar noch nicht aufbereitet, aber doch so weit, bestellt zu werden. Versprechender Ausgangspunkt dafür scheint ihm „das starke Interesse, das auf allen Gebieten der Kunst der sachlichen Gestaltung unmittelbar aktuellen Stoffes entgegengebracht wird, die Abkehr von aller Artistik und Romantik“ zu sein. Wie weit er sich dabei von gängigen Vorstellungen handwerklicher Reportage entfernt und die komplexen Herausforderungen der Zeit etwa an den Schnittstellen von Information und politischer Macht, von Medien, Gewalt und Herrschaftspraxis thematisiert, lässt sich an seinem 1928 veröffentlichten Roman Indeta. Fabrik der Nachrichten ablesen, in den eigene Agentur-Erfahrungen sowie die Mitarbeit in mehreren Redaktionen, aber auch die Kenntnis der einschlägigen und z.T. illegalen Beziehungen zwischen dem aufkommenden Nationalsozialismus und den alten politisch-ökonomischen Eliten eingeflossen sind.  Womit sich diese Beiträge einreihen in die, man nehme auch Robert Neumann hinzu, frühe Diskussion über neusachliche Schreibweisen, die gerade im Hinblick auf ästhetische und gesellschaftliche Positionierungen weit mehr Resonanz nach sich gezogen hat als die Literaturgeschichte einzugestehen bereit ist. Kaum eine der großen Zeitungen, die nicht eine ausführliche Besprechung des Reihenkonzepts ‚Berichte aus der Wirklichkeit’ und Besprechungen der Einzelbände abgedruckt hätte: Bernard von Brentano merkt in der Frankfurter Zeitung an, es handle sich um „eigentlich unangenehme Bücher“, doch dafür treten sie „wieder kämpferisch, aufrüttelnd, ein wenig revolutionär“ auf. Lanias Band sei zwar „ein bisschen romanhaft geblieben“, Joseph Roths Juden auf Wanderschaft könne dagegen als „das Musterbeispiel einer großen modernen Reportage“ angesehen werden. Letzteren hebt auch Axel Eggebrecht in der Literarischen Welt besonders hervor, findet aber auch an jenen von Kisch und Lania Gefallen.  Hans Sahl rühmt im Börsen Courier ausdrücklich die der Reihe zugrunde liegende Intention,  „die durch literarische und romantische Vorstellungen verbarrikadierte Gegenwart in ihren Tatsachen darzustellen“ und dabei „wichtige Stoffgebiete“ zu erobern, darunter eben auch eine Telegraphenagentur in Indeta: „Eine bewegte, wogende Schilderung, die im Rahmen einer flüchtig skizzierten Erlebnishandlung den abenteuerlichen Betrieb internationaler Nachrichtenvermittlung enthüllt.“

5. Arbeiten für Radio und Film

Inwieweit auch das Theater Stimme der Gegenwart sei bzw. sein müsse, wird kurz darauf in den Essays Das Theater als Former der Zeit (1927), Das Theater als Ausdruck der Zeit (1927) sowie Drama und Geschichte (1928) zur Diskussion gestellt. Gegen die wiederholt diagnostizierte Krise des Theaters stellt Lania dessen Lebensfähigkeit programmatisch ins Zentrum und untermauert diese gerade durch die „innere Beziehung zur Zeit“, die allerdings auch einen „ständigen Prozeß der Wandlung seines materiellen und ideologischen Inhalts voraus“ setzt. Die „Erfüllung dieser Mission vom Theater“ könne freilich nur gelingen, indem es einerseits seiner klassischen Bestimmung treu bleibt, d.h. Themen und Erlebnisse zu gestalten, die „an den Saiten des Menschen rühren“, andererseits sich zunehmender bewusst wird, „welche Macht ihm über seine Zeit gegeben ist: nicht nur als Ausdruck, sondern auch als Bahnbrecher jener Kräfte der Gegenwart, die in ihrem Schoße die Zukunft tragen.“10

Aus: Der Deutsche Rundfunk. Die Neue Woche 21 (1929)

Wenig bekannt und bis dato überhaupt nicht dokumentiert sind Lanias Beiträge für das Radio seit Ende der Zwanziger Jahre, d.h. insbesondere für die Berliner Funkstunde und den Schlesischen Rundfunk. Er bearbeitete hierfür dramatische Texte, die bereits unter Piscator ihre Tauglichkeit bewiesen haben wie z.B. das Emigranten-Stück oder bereitete Auszüge aus zeitgleich veröffentlichten Büchern wie z.B. aus Indeta eigens dafür auf, verfasste aber auch eigenständige Radiostücke wie Der Mensch Nr. 17381 nebst mehreren Rundfunk-Essays. Programmatisch verknüpfte Lania in einer Rundfrage für die Zeitschrift Der Deutsche Rundfunk (H. 14/1930) welche die Frage nach der Möglichkeit von Theaterkritik im Radio aufwarf, Ästhetik und Politik im Sinne von Brecht und Piscator: „Aufgabe des Rundfunks – in erster Reihe des Rundfunks – müßte es sein, diesen geistigen und künstlerischen Prozess des Theaters, der an die tiefsten Probleme des sozialen Organismus rührt, zu verfolgen: also keine ästhetische Würdigung des Stückes […] sondern die Vermittlung der großen Gesichtspunkte, der Aufriß der Zusammenhänge, die jeden einzelnen Theaterabend in die großen Ströme der ideologischen Auseinandersetzungen einschalten.“ Um den „Aufriß der Zusammenhänge“ war es Lania auch schon in Drama und Geschichte, immerhin der Eröffnungstext zu Das Politische Theater. Blätter der Piscatorbühne (H. 1/1928) gegangen, in dem das historische Schauspiel nicht mehr als Schicksalsdrama zu inszenieren wäre, sondern primär als „das politische Dokument einer Epoche“ das nur soweit lebendig sei, als es vermag „die Brücke zu schlagen vom Einst zum Jetzt und die Kräfte freizumachen, die berufen sind, das Gesicht dieser Gegenwart und der nächsten Zukunft zu formen“. Im „Lichte der aktuellen Gegenwart“ verstand sich auch das Radiostück Emigranten, das in Emigrantenzirkeln in Paris, unter Gestrandeten nach den Wirren der Revolution 1918-19 angesiedelt ist und in der Tagespresse, gemessen am Genre, ein außergewöhnliches Echo, auch teils polemischer Natur, nach sich zog. Während das 12-Uhr Blatt die Aufführung zwar als erfreulich, aber „überakzentuiert“ bewertete, die Welt am Abend „die Auswirkungen weltgeschichtlicher Ereignisse im Lebenslauf einer Schar ungarischer Emigranten […] von starker Eindringlichkeit“ charakterisierte und „den großen Aufwand akustischer Mittel“ herausstrich, der Börsen-Courier das „solide Theaterhandwerk“ anerkannte, aber einen „nebulosen Hintergrund“ bemängelte, stieß sich Der Tag am „Agitationsstoff“, klassifizierte es Die Deutsche Tageszeitung als „wenig funkgerecht“ und der Berliner Lokal-Anzeiger gar als „Sendespiel, wie es nicht sein sollte“. Die konträren Positionierungen machen indes deutlich, dass es Lania mit seinen Radiostücken, die von 1927 bis 1932 nicht nur regelmäßig in mehreren deutschen Sendern ausgestrahlt sondern auch in Reflexionen über die Funktionsweisen des Mediums sowie in literaturästhetische Debatten vor allem über den Wirklichkeits-/ Realismusbegriff eingebettet wurden, wie nur wenigen zeitgenössischen Autoren gelang, die Kritik und die Medienöffentlichkeit für das neue Genre zu interessieren. Diese kritische und selbstbewusste Medienarbeit fand aber auch in eigenen Filmprojekten seinen Niederschlag. Darunter ist die mit W.G. Papst erstellte erste Filmfassung von Brechts Dreigroschenoper zwar das prominenteste, auch umstrittenste Beispiel, aber vom filmästhetischen Ansatz her nicht das bedeutendste. Wesentlich mehr und verdiente Resonanz hatten denn auch die beiden früheren Filme Schatten der Maschine und Hunger in Waldenburg (beide 1929) zu verzeichnen. Fritz Rosenfeld, begnadeter wie unterschätzter Filmkritiker der AZ, würdigte am ersten den spezifischen Montagecharakter, der aus Industriefilmen, Reportagen, Wochenschauen eine Filmstreifensymphonie erstehen lasse: „…eine große unermeßliche Welt bewegten Stahls, ratternder Räder, stampfender Kolben, rauchender Schlote, eine unermeßliche Welt der Arbeit…“ (AZ, 17.5.1929, 7). Am zweiten preist er die gelungenen, einprägsamen Kontrastbilder zwischen der „stummen Pracht der Landschaft“ und den Elendsquartieren und Verzweiflungsgesten ausgebeuteter schlesischer Kohlenarbeiter im Revier Waldenburg, die zugleich im Film tragende Rollen ausüben und damit den Vorstellungen einer die Betroffenen einbeziehenden, sie politisch und künstlerisch sensibilisierenden (Film)Ästhetik nahekommen. Nur wenige Tage danach legte auch Ernst Fischer eine hymnische Besprechung des Maschinenfilms in der AZ vor, der aufreizend sei wie „kein Revolutionsfilm der Russen“, keine Verherrlichung der Maschinenwelt sondern eine subversive, kommentarlose und doch rebellische Kommentierung der durch sie erzwungenen Verkettung und Entwürdigung in der kapitalistischen Maschinerie; – ein „hohes Kunstwerk“, in dem „das Grauen vor der Maschine […] konzentrierten, herzzermalmenden Ausdruck gewonnen“ habe (19.5.1929, 17-18).

Vor diesem Hintergrund überraschte der 1930 vorgelegte biographische Anita-Berber-Roman Der Tanz im Dunkel einigermaßen. Erblickten manche in ihm wohl auch ein „dramatisch bewegtes Zeitbild“, so Fritz Rosenfeld in der Wiener Bildungsarbeit, eine „dichterische Reportage“, (Vorwärts) so werteten Kritiker wie Axel Eggebrecht das Ergebnis trotz einzelner „kräftiger Bilder“ als letztlich vergebliche Anstrengung, „einen inneren Zusammenhang in dies Leben hineinzukomponieren“. In seiner Autobiographie rekapituliert Lania die turbulente Begegnung mit der exzentrischen, früh verstorbenen Tänzerin und steht nicht an, diese als „turning-point in my Berlin-existence“ (Today, 220) anzuerkennen. Sie hat ihm nämlich, inmitten der Inflationszeit, mit einer Fünf-Dollar-Note den Beginn eines neuen Lebensabschnitts ermöglicht und Einblick gewährt in eine Welt und in Verhältnisse, deren glamouröse Oberfläche wohl zum Berlin-Mythos wesentlich beitrug, deren Schattenseiten jedoch erst im Zuge dramatischer Wenden wie z.B. ihres frühen, von Kokain und Tuberkulose herbeigeführten Todes zum Vorschein traten. 

6. NS-Kritik 1933, Russland-Reisen und der Weg ins Exil

1932 besuchte Lania erstmals die Sowjetunion und kehrte daraus, wie die entsprechenden Texte im Tagebuch nahelegen, mit zwiespältigen Eindrücken zurück, die sich 1936 im Zuge einer zweiten Reise bestätigten. Die letzten Monate der Weimarer Republik beobachtete er wieder verstärkt von Wien aus, nicht ohne sich bis zuletzt klar zu positionieren und das hieß in erster Linie: zu exponieren. In der letzten unzensurierten Ausgabe des Tagebuchs, in  Heft 8 vom 25.2.1933, erschien unter dem Titel Wie lange? ein flammender Appell, der Entwicklung in Deutschland nach der NS-Machtübernahme nicht tatenlos zuzusehen, der Faschisierung (wie sie Lania in Italien seit Jahren beobachtet hatte, u.a. rund um den Prozess gegen Antonio Gramsci) aktiv entgegenzutreten, – ein Appell, der am 3.3.1933 in Wien nach einem Brandanschlag auf seine Berliner Wohnung Ende Februar 1933 vor mehreren hundert Personen als Vortrag wiederholt wurde und ihm neben Wertschätzung in der liberalen und linken Presse sowie unter kritischen intellektuellen und literarischen Stimmen (z.B. seitens Theodor Kramer oder Fritz Rosenfeld) auch erste Drohungen und Denunziationen eintrug. Der Völkische Beobachter nahm z.B. beides zum Anlass, am 17.3. 1933 Lania, als Wortführer einer „neuen Verleumdung“ zu brandmarken und dies unter das Motto zu stellen: Der jüdische Krieg beginnt. Grund genug, um das in autoritär-faschistische Verhältnisse abdriftende Österreich Richtung Paris zu verlassen und dort im Umfeld der deutschen und österreichischen Exilanten seine widerständische Arbeit fortzusetzen und dabei auch eine Leserschaft außerhalb des deutschsprachigen Raumes verstärkt anzusprechen.

Bereits 1934 legte er den Roman Land of Promise (Dt. 1949 als Land im Zwielicht) vor, der eine zweifache Emigrationsbewegung der Hauptfiguren, zuerst aus der Ukraine Richtung Deutschland am Ende des Ersten Weltkriegs und dann aus Deutschland Richtung Paris 1933, also mit erkennbaren autobiographischen Erfahrungskontexten, sowie den Versuch einer – scheiternden – Integration in die bewegte, vielversprechend mobile Gesellschaft der Weimarer Republik zum Thema hat. Es ist dies ein Roman, der trotz einzelner ästhetisch-narrativer Schwächen und publizistisch eingefärbter Abschnitte zu den Schlüsselromanen der einsetzenden Exilliteratur zu rechnen ist, – trotz des geringen Echos, das ihm in der deutschen Kritik, auch nach 1945, beschieden war, – ganz im Gegenteil zur Resonanz im englischsprachigen Raum, wo er zu den erfolgreichsten und meist besprochenen Texten des Jahres 1934 zählte. Nico Rost übersetzte ihn 1935/36 ins Holländische, Ausgaben auf Polnisch und Tschechisch folgten ebenfalls bis 1937. Schon 1935 erschien ein weiterer Roman, der das Exil und den drohenden Krieg zum Thema hatte: zuerst als Vorabdruck im Pariser Tageblatt unter seinem deutschen Titel Wanderer ins Nichts, dann in der englischen Buchausgabe als Pilgrims without Shrine, – auch er bald ins Tschechische und Schwedische übersetzt. Somit konnte sich Lania in Paris mit Blick auf den angloamerikanischen Raum rasch eine wichtige Position innerhalb des Exils erschreiben und versuchte zugleich eine Reihe von Filmprojekten in Zusammenarbeit mit Rudolf Bernauer u.a. zu verwirklichen11. Unmittelbar nach dem deutschen Angriff auf Frankreich bemühte sich Lania um amerikanische Visa, die er auch erhielt, wurde aber zunächst interniert und konnte erst über abenteuerliche Umwege und Intervention durch seine amerikanische Freunde, darunter E.A. Mowrer und Dorothy Thomson, im Herbst 1940 über Lissabon das rettende US-Exil erreichen. Sein Fluchtbericht The Darkest Hour, zu dem Mowrer ein Vorwort verfasste, verhalf ihm zu einem unerwarteten Verkaufserfolg und ziemlicher Bekanntheit, die ihm bald die Mitarbeit an Anti-NS-Programmen wie dem American Lecture Bureau – Speakers for Democracy eintrugen sowie die amerikanische Staatsbürgerschaft.


  1. Leo Lania: Today We Are Brothers. The Biography of a Generation. Boston: H. Mifflin 1942.
  2. Letzteres gilt z.B. für den Abschnitt bei Joseph P. Strelka: Des Odysseus Nachfahren: Österreichische Exilliteratur seit 1938. Tübingen: Francke 1999, S. 230-232, wo z.B. die ihm wichtige Zusammenarbeit mit Erwin Piscator zugunsten der eher sporadischen mit Max Reinhardt unterschlagen wird oder Romantitel fehlerhaft angeführt werden (sein größter Erfolg im Exil, The Darkest Hour wird zu The Darkest Man). Der Nachlass befindet sich im Archiv der Historical Society of Wisconsin in Madison/WS, ist gut, auch online, erschlossen und frei zugänglich.
  3. L. Lania: Today We Are Brothers; S. 181
  4. Vgl. K-F. Hackel: Leo Lania, in: Spalek/Strelka, Bd. 2, S. 494 bzw. L. Lania: Today We are Brothers, S. 245.
  5. Walter Benjamin: Dreizehn Thesen des Kritikers.
  6. Prager Tagblatt, Juni 1924
  7. AZ, 20.4.1925, S. 7. Im Jahr 1925 war Lania mit rund 15 Beiträgen in der AZ präsent und damit neben Fritz Rosenfeld und Otto König einer der Literaturkritiker der Zeitung.
  8. AZ, 7.6. 1925, S. 7, auch ersch. in Welt am Abend (lt. Hs. Vermerk Lanias im Nachlass)
  9. Leipziger Tageblatt und Hamburger Fremdenblatt. Juli 1925 (ohne genaue Datumsangabe) Zit. nach Nachlass, box 13, folder 2.
  10. Das Theater als Former der Zeit. In: Programmheft der Volksbühne März 1927. o.S.
  11. Vgl. L. Lania, Nachlass, box 7, folder 1-17; unter den Filmprojekten (tw. deutsche, tw. französische Fassungen, tw. Fassungen in beiden Sprachen) finden sich z.B.: Poet im Exil. Heinrich Heine, Cavalcade d’amour; Frontières, Rhapsodie Hongroise, aber auch: Elisabeth (Sissy) von Österreich.