1928 | Ernst Fischer: Lenin

Im Wiener Carl-Theater fand 1928 die Uraufführung von Ernst Fischers Stück Lenin statt. Nachfolgend finden Sie fünf Besprechungen.

  1. Schiller Marmorek: Die Revolution auf der Bühne. Ernst Fischers „Lenin“. Schauspiele im Carl-Theater
  2. Leopold Jacobson: Das Theater als politische Tribüne. „Lenin“ von Ernst Fischer. Carl-Theater
  3. Felix Salten: Schauspiele im Carl-Theater. „Lenin“, Tragödie einer Revolution von Ernst Fischer
  4. Willi Schlamm: „Lenin“. Eröffnungsvorstellung der „Schauspiele im Carl-Theater“
  5. Julius Bauer: I. Schauspiele im Carl-Theater

Smk [Schiller Marmorek]: Die Revolution auf der Bühne. Ernst Fischers „Lenin“. Schauspiele im Carl-Theater.

Wenn bisher eine revolutionäre Bewegung auf die Bühne gebracht wurde, so war sie immer auf das Schicksal von Einzelpersonen projiziert, von ihm verkörpert. Im „Wilhelm Tell“ sehen wir an der Peinigung des alten Melchthal, am Apfelschutz des Vaters Tell, wie unbarmherzig die habsburgische Fron auf den Schweizern lastete. Büchner hat das Revolutionsdrama „Dantons Tod“ geschrieben, Romain Rolland in einer Folge von drei Dramen die französische Revolution dargestellt – die Massen, die eigentlich treibenden Kräfte jedes derart gewaltigen Ereignisses, sind noch immer Zuseher, die in wilderregten Augenblicken wohl die Szene, aber kaum die Handlung beherrschen.

Ernst Fischer nimmt, ganz gewiß zum erstenmal, als Helden seines Dramas die Revolution selber. „Die Tragödie einer Revolution“ lautet der Untertitel, und die Personen, wer immer sie auch sein mögen, treten mit ihrem privaten Revolutionserlebnis hinter das andere historische Erlebnis eines Volkes, das sich befreit. Im Mittelpunkt des Bühnengeschehens steht nicht Lenin, der größten Menschen einer, die allen Zeiten gegeben waren, nicht die den Durchschnitt weit überragende oder in ihm verharrende Menge seiner Helfer, steht auch nicht das russische Volk, dessen leidensvolle Geschichte sich jäh wendet, sondern der Kern aller der vielen wechselnden Szenen ist das Schicksal einer Idee, der Revolution. Sie wird von der Glut des höchsten Idealismus geboren und emporgehoben, und kann doch nur bestehen, wenn sie sich in nüchternster Alltagsarbeit bewährt. Diese zwingende und schmerzende Notwendigkeit wird an dem Exempel, das Rußland und mit ihm die Welt in unseren Tagen erschütterte, aufgezeigt.

Auf der Bühne ist ein vielräumiges Gerüst aufgerichtet. Links (vom Zuschauer) eine im Dunkel verschwimmende Halle, in der sich hundertköpfig oder noch stärker das Volk, der Sprechchor, zusammendrängt. Daneben, übereinander geordnet, zwei Kammern, in denen bald Bolschewiken, bald Kerenski, bald Lenin und bald die europäischen Diplomaten sprechen. Da ist noch die Straße mit einer weißragenden Mauer, auf der sich die Schatten der vorüberstürmenden Personen und ihre Gebärden gespenstisch spiegeln. Da sind Stiegen und Rednerkanzeln, Balkone und Thronsessel – eine ganze in Leidenschaft kochende Stadt. Das Drama beginnt mit dem Augenblick, da das Zarentum zu Ende ist. Es ist die erste Periode der Revolution, ihre pathetische, und in Rußland beherrschte Kerenski sie mit seiner eigenartigen Persönlichkeit. Kerenski ist der Erbe jenes revolutionären Idealismus, der, unterirdisch wühlend, gegen eine übermächtige Gewalt verzweifelt anstürmend, zu tausend blutigen Opfern stets bereit, ein Jahrhundert lang den Glauben an die Befreiung lebendig erhalten hat. Sein Pathos ist nicht mehr von dieser Welt und von dieser Zeit, er muß weichen.

Nach ihm kommt Lenin. Lenin ist das russische Volk von heute, ist die eherne Zeit von heute. Sein Idealismus, der für die große, die letzte Revolution brennt, genügt sich nicht mehr in revolutionären Worten, Gesten, Symbolen. Er sieht die Tat. Er zwingt seinen stürmenden Geist zur Sachlichkeit. Er vermag es auf sich zu nehmen, sich selbst zu verleugnen, um vom Ziel nicht abgetrieben zu werden.

Und das ist die Tragödie, die in der Duldung von Schiebern und Geschäftemachern ihren widrigsten, in dem Revolverschuß, den gerade einer der treuesten Bekenner des Revolutionsgedankens gegen Lenin abfeuert, ihren bedrückendsten Ausdruck findet. Die Umgebung versteht Lenin nicht, sie ist enttäuscht, sie kann sich von der übernommenen Gedankenart nicht frei machen. Sie folgt Lenin gezwungen aber sie verläßt ihn. Das Volk freilich ahnt seinen mächtigen, in die Zukunft hinübergreifenden Willen, und es ist die in ihrer knappen Linienführung ergreifendste und unter allen Symbolen am höchsten symbolische Szene des Dramas, da Lenin von der Rednertribüne zum Volk steigt, sich unter die Menge mischt, einer in ihr wird und sie selbst ist. Der Schluß ist die Mahnung zur Arbeit – im Theater, nicht im Buch. Im Buch hat die Revolution das letzte Wort, und es klingt in den verheißungsvollen Ruf aus, daß die Revolution auch im Alltag und trotz ihm weitergeht.

Warum ist diese Szene fortgeblieben, wo doch in der Aufführung, im Szenischen und im Darstellerischen, so viel Wagemut bewiesen wurde? Es ist für den Regisseur Herrn Hans Abrell nichts Geringes, fünfzig Personen, vom Chor ganz abgesehen, auf der Bühne bewegen zu lassen und den raschen Wechsel der Szenen durchzuführen, Menschen, die manchen im Zuschauerraum in persönlicher Erinnerung sind und deren Züge durch Bilder aller Art allen lebendig sind, in eigener Person zu zeigen.

Lenin ist Herr Rothauser, ein geistig alle überragender, eisenharter und sein Gemüt bezwingender, ein sich selbst bändigender Lenin. In seiner Umgebung: Sinowjew (Herr Wittmann), kokett und geradezu geckenhaft in Einzelheiten der Kleidung, der Haltung und Bewegung. Kamenew (Herr Lorre) von ehrlicher Glut der Revolution erfüllt, Lunartscharski (Herr Tynball), der Schöngeist der Revolution, der über die in ihr gelegenen poetischen Elemente schwer hinaus kann, der Trotzky des Herrn Schulze-Wendel ist vom romantischen Feuer der Revolution durchglüht, Herr Fischer-Strettmann ist als Radek Bohemien, Abenteurer und Hasardeur der Revolution.

Eine besondere Rolle spielt der Sprechchor (den Frau Maria Gutmann aus Arbeitern und Arbeiterinnen zusammengestellt und zu einer Einheit verschmolzen hatte). Er ist Chorus der Ereignisse und wehklagend, fluchend, fordernd, empört, und vor allem Lenin gefügig, eine einzige vielköpfige Person im Drama. Manchmal drängt er sich in das helle Geschehen der Bühne, und dann erkennt man die Typen des russischen Volkes.

Es war ein denkwürdiger Theaterabend Wiens: Bühne und Zuschauerraum in Begeisterung für dieselbe Idee vereinigt und beide dem Versuch eines Dichters hingegeben.

In: Das Kleine Blatt, 28.9.1928, S. 9-10.

Leopold Jacobson: Das Theater als politische Tribüne. „Lenin“ von Ernst Fischer. Carl-Theater.

Der Dichter als Reporter ist der neueste Schrei. In den Literaturzeitschriften und in den Cafés, wo man die Moden macht, ist die Forderung des Tages formuliert: laßt uns Dokumente sehen, führt Tatsachen vor, pfeift auf Verklärung und Idealisierung, reißt nicht die eigene Brust auf, daß das Herzblut tropfe und stöhnt nicht weiter: o Mensch! Die Tatsachen allein dichten schon zur Genüge, eigene Gedanken sind zurückzustellen und den Rest reimt sich ohnedies jeder selbst zusammen. Auf den einen Schrei folgt prompt der Gegenschrei: Falsch, das Umgekehrte ist richtig, Kunst ohne Einfälle ist keine Kunst, laßt uns Dichter und keine Reporter sein! Schon ist die Mode von heute eine Mode von gestern.

Ernst Fischer, Verfasser von „Lenin“, hält noch beim Dokument. Er betont direkt seine Sachlichkeit und daß er um Gotteswillen nichts dazudichten, kein Politikum machen, keine Propaganda treiben und nur aufzeigen will, wie, was und wo. Das ist aus der historischen Perspektive heraus sehr löblich, aber so lange die Historie noch Gegenwart ist, wächst sich das Politikum von selbst heraus, wird Parteisache, Propaganda, und läßt die rote Fahne als Symbol über die Menschheit wehen. Bei diesem Stück ist allerdings ein Trost dabei. Beaumarchais hat mit der Hochzeit des Figaro die Zuhörer so sehr gepackt, daß sie aus dem Theater stürzten, um Revolution zu machen. Nach Ernst Fischers „Lenin“ zieht man es vor, schlafen zu gehen.

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            Das Bilderbuch der russischen Revolution, das Fischer aufschlägt, ist nach jenem Schema illustriert, das in der Theaterprovinz Wien, wo man noch dem Piscator nachhinkt, neuartig wirkt. Schon bei Toller, dem andern Ernst, wird ein Filmausschnitt mit Zwischentexten gezeigt, wie wir hoppla leben. Wir: das bedeutete das Volk, die Masse, die Romantiker, die Unentwegten, die Schwindler, die Schieber, die Militaristen, die Femeleute, die Gegenkräfte. (Auch das war nur eine historische Neutralität, aber mit der deutlichen Spitze gegen die Sozialdemokratie.) Fischer macht es nicht anders. Das Volk schreit nach Frieden und Brot, die Bürgerlichen sind schwächliche Tröpfe, die Rhetoriker pfuschen in die Revolution hinein, die Romantiker haben seelische Blähungen, die Abenteurer machen sich wichtig, der Militarismus dräut und blamiert sich, Idealismen, Philosophien, Verbrüderungen, Neigungen und Abneigungen, Schmutz und Reinheit, Gewalt und Milde, Ueberzeugung und Ueberredung wirken und quirlen durcheinander. Es ist die ebenso gerühmte wie vielbewährte und oft erprobte Blitztechnik, die aber nur Filmtechnik ist: Kurbeldrehung genügt, anderes Bild. Für die Großaufnahmen ist der Star Lenin reserviert, der aber gar nicht der Star sein will, nur ein bloßer Handwerker der Revolution, der die anderen aufgeregt reden läßt, während er selbst den Blick auf die Notwendigkeiten richtet. Die anderen, die sollen den revolutionären Gedanken nur weiter schüren, er, Lenin, weiß, daß die Revolution hauptsächlich durch den Magen geht und denkt daher praktisch auf Sättigung, Beschäftigung und Bekleidung. Er beginnt Aufbauarbeit. Zwischendurch läßt er auch ein bißchen Erschießen, weil man auch schließlich zeigen muß, wo die Macht ist.

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            Merkwürdig, wie man plötzlich zwischen dem Geschrei der Masse, den entflammendsten Reden, dem Durcheinander von Meinungen und Taktiken nach allen Hysterien der revolutionären Idee und der vermeintlichen Tat zum Bewußtsein der ganzen Ohnmacht und Verwerflichkeit solchen Umsturzes kommt. Die Revolution, im proletarischen Denken gespiegelt, setzt sich als Ziel, daß es allen Menschen gleich gut gehen soll, während sie in Wirklichkeit nur herbeiführt, daß es allen gleich schlecht geht. Wenn Lenin so und nicht anders gewesen ist, wie ihn Fischer dokumentarisch festlegt, dann war der Bankrott seiner politischen Lebenslehre vollendet. Was zerstört wurde, kann nicht so furchtbar schlecht gewesen sein, weil dort, just dort, wo es aufgehört hat, wieder neu aufgebaut werden muß. Aber wiederum nur durch dieselben Mittel, die man vorher verachtet hat, wiederum durch die verfemte Privatwirtschaft und durch die Duldung der Einzelinitiative. Es ist die Wiederkehr des ewig Gleichen, nur in der Wolle gefärbt. Warum Revolution, Umsturz des Bestehenden und Chaos, statt Evolution, wenn der Weg immer neu dorthin zurückführt, von wo man ausging, warum dieses Auflehnen gegen Gewalt, Bureaukratie, Militär und Diktatur, wenn nur die Personen wechseln, der Sinn und das System schließlich gleich bleibt, naturnotwendig gleich bleibt? Lenin fordert: Arbeit! Darin liegt der Sinn des Ganzen. Aber der Mensch ist bekanntlich nur im Revolutionsdenken seiner Führer und ihrer Maulstützen eine Kollektivfirma; der Einzeltrieb bleibt am Ende dich der ausschlaggebende Faktor. Die Revolution stellt sich als eine Lohn- und Gewerkschaftsangelegenheit heraus und die Fratze wird zum Gesicht.

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            So dokumentarisch getreu Ernst Fischer in seiner historischen Szenenreihe auch vorzugehen scheint, wird ihm unter der Hand aber manches Gesicht zur Fratze. Er nennt die Personen gleich beim richtigen Namen, und Trotzki, Sinowjew, Radek, Kamenew und wie sie alle heißen, sind nur als Halbheiten, kleine Handlanger und Dienstmänner menschennah gemacht. Unter anderer Etikette wären sie ganz nichtssagend. Die bürgerliche Revolution, repräsentiert durch Kerenski, kommt natürlich, objektiv wie man schon ist, nur als Possenepisode weg. Dieser Kerenski kann einem in der sogenannten historischen Perspektive geradezu leid tun. Bloß das Volk hat als Massengesicht so etwas wie einen Charakterzug. Aber Gesicht ist auch hier noch nicht Gedicht.

Ernst Fischer, der als Dramatiker schon einmal im Burgtheater ein unverstandenes, noch ganz verschwommenes Drama spielen ließ, hat zweifellos seine schriftstellerische und dramatische Legitimation. Was er sagt, liegt auf der Straße oder ist auf dem Papier zu finden; was er aus sich herausholt und verdichtet, ist aber am stärksten nur im Klanglichen. Darum glückt ihm die gebundene Rede am besten, Form und Ausdruck bekommen dann auch etwas Persönliches, und er gibt einen vernehmbaren Vorsänger im chorus extaticus ab.

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            Der dramatische Atem wird in das Stück, das nur eine Biographie ist, von außen hineingeblasen, Tumult, Aufruhr, Reden an das Volk und Kontrastierungen von Böse und Gut müssen den szenischen Mechanismus hier unbedingt als Helfer haben. Sonst wirkt das Wort nicht (oder nicht mehr, weil die Tendenz schon abgebraucht ist). Darum bleibt eigentlich auch das Echo aus und die Herzen klopfen nicht heiß, sondern bleiben im ruhigen Gleichmaß. Die Politik ist auf die Dauer ein langweiliges Metier und für die Bühne nur vergeistigt zu gebrauchen.

Was bei Piscators Parteitheater gereizt hat und solange interessiert hat, bis das Klischee auch den Gläubigen, Gläubigern, Mitläufern und Snobs zum Ueberdruß wurde, das war die unleugbare künstlerische Initiative des revolutionären Regisseurs, seine Einfälle, sein Antrieb und Auftrieb. Die neueröffneten Schauspiele im Carl-Theater möchten es ihm gleichtun, aber vorläufig ist bloß der Geist willig und das Fleisch schwach. Das ist auch umgekehrt zu lesen. Die Inszenierung ist Kopie: eine mehrfach geteilte Bühne, Ausschnitte aus der Kreisler-Zeit, bald rechts, bald links, bald oben, bald unten leuchtet ein Bild auf. Man kennt das mindestens genau so lang, wie es der Regisseur Abrell zu kennen scheint. Aber es muß trotzdem Arbeit und Schweiß gekostet haben, diese Ueberzahl von Darstellern, deren manche sich auch gewiß für Schauspieler halten, zum Theaterspielen und Sprechen abzurichten. Es kommt ein braver Provinzialismus heraus, der noch lange brauchen wird, um die Lustbarkeits- und Freikartensteuer zu rechtfertigen. Was über das Niveau hinausreicht, ist der Träger der Hauptrolle, Herr Rothauser, dem es durch Einfachheit im Sprechen und Gehaben, durch eine fast betonte Lautlosigkeit gelingt, den Lenin zu vermenschlichen, besser: hinzuzeichnen. Die Begabung ist auch bei Herrn Berisch, der den Kerenski spielt, anzumerken, ebenso beim Darsteller des Trotzki, Herrn Schultze-Wendel. Im übrigen hapert es arg, nicht zuletzt mit dem Sprechen, vom Spiel nicht zu reden.

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            Aber es war Premiere. Bei Premieren gibt es Beifall, teils dieserhalb, teils jenerhalb, teils von den Gesinnungsfesten und teils von den Claqueuren ohne Gesinnung gegen Dreistundenlohn. Und wenn man fragt: Sind die Leute im Publikum nicht mitgegangen, dann könnte man mit dem gewissen Theaterwitz antworten: Aber ja! Als der Erste sich zur Garderobe begab, gingen gleich so und so viele mit.

In: Neues Wiener Journal, 28.9.1928, S. 3-4.

Felix Salten: Schauspiele im Carl-Theater. „Lenin“, Tragödie einer Revolution von Ernst Fischer.

Gleich zu Beginn wird man aufgewühlt und angeglüht. Aber nur von den ersten Szenen. Da rauscht die Feuerwelle der großen russischen Revolution wieder heran und man wird wieder von ihr versengt.

Wieder . . . denn wir haben sie ja in Wirklichkeit miterlebt, diese Elementarkatastrophe Rußlands, haben das Erdbeben gespürt, das von dort her bis zu uns drang, das ganz Europa erschüttert hat. Ueberall schien der Boden vulkanisch geworden und überall drohte dieser Boden unter unseren Füßen zu bersten.

Was haben wir seit fünfzehn Jahren nicht alles erlebt!

Heute scheint der Beweis für die so manchesmal vorher schon ausgesprochene Anschauung beinahe erbracht: das Russische läßt sich nicht ins Europäische übersetzen; Rußland gehört weder seiner seelischen noch seiner geistigen Struktur nach eigentlich zu Europa. Zwischen den Völkern des Westens und des Ostens wohnt das Russenvolk für sich, wie kein anderes Volk der Erde, in einem merkwürdig wunderbaren Urstand, Gott und zugleich dem Tier am nächsten verwandt. Nur durch den tragischen Irrtum eines genialen Despoten sind die Russen mit europäischen Angelegenheiten bemengt worden.

Heute sitzen wir also im Theater und sehen auf der Bühne unser eigenes Erlebnis. Zu einer Tragödie gefaßt von einem jungen Dramatiker. Stehen Menschen, die heute noch in der Wirklichkeit ihre Rolle nicht ganz ausgespielt haben, auf den Brettern, von Schauspielern dargestellt. Mag unser Erlebnis der russischen Revolution auch nur ein mittelbares gewesen sein, es bleibt doch stärkstes Erleben; wir sind heute noch in seine Folgen verstrickt. Auch Ernst Fischer hat das größte Ereignis des an großen Ereignissen so reichen Jahrhunderts ebenso mittelbar erlebt wie wir. Auch er, der kaum älter ist als dieses Jahrhundert. Und durch wie viele Filter gepreßt, trifft uns nun der Eindruck, den sein Stück jetzt übt?

Diese „Tragödie einer Revolution“ schwankt außerordentlich in ihren Wirkungen. Von den ersten Szenen wird man fast bis zum Hingerissensein ergriffen. Man fühlt die schicksalhafte Notwendigkeit, mit der das Zarentum gestürzt ist, fühlt die schicksalhafte Notwendigkeit, mit der ein bedeutender Mensch wie Lenin aus dem Chaos der Tiefe zum Gipfel der Macht emporstieg. Dann dämmert, unter Lärm, Musik und Paukendonner, Monotonie, zur Schablone gewordene Umsturzphrase und Langweile heran. Die unsicher tastende Hand des juvenilen Dramatikers, die schon an seinem ersten Werk „Das Schwert des Attila“ kenntlich war, wird an vielen Unbeholfenheiten, an Wiederholungen, am Schleppen und Stocken der Szenen merkbar. Aber in manchen anderen Momenten, besonders zu Anfang, wird doch wieder der echte Dramatiker und sein richtiger Griff ins Aufregende, Aufrüttelnde deutlich.

Allerdings, das ist in diesem Fall nur zu oft ein Griff ins brennend Aktuelle. Viel, sehr viel von den Problemen, die da angerührt werden, stehen noch in Flammen oder sind noch glühend heiß, dagegen sind viele andere Dinge schon Asche, scheinen überwunden, erledigt, veraltet. Lenin freilich, ist tot. Doch viele Menschen, die da auftreten, Lunatscharsky, Trotzki usw. leben, und ihr Schicksal hat sich noch nicht erfüllt. Die Nähe der Ereignisse, ihre fortwirkenden Folgen stützen dieses Stück. Aber das Unentschiedene, das noch nicht zu Ende Gekommene franst und fetzt aus dem Stück hervor und bereitet ihm jene künstlerischen Hindernisse, die immer eine Begleiterscheinung der Distanzlosigkeit bleiben.

Immerhin, die „Schauspiele im Carl-Theater“, mit denen die von Stephan Großmann und Artur Rundt einst gegründete Volksbühne fortgesetzt werden soll, haben einen begabten jungen Oesterreicher gebracht und haben interessant eingesetzt. Auch die Spielleitung von Hans Abrell interessiert durch die Modernität ihrer Einfälle wie durch die geistige Energie, mit der sie die Darsteller und die Sprechchöre führt. Diese Sprechchöre sind eine Schwierigkeit, sowohl in der Tragödie selbst, wo sie durch ihre allzuofte Wiederholung monoton wirken, wie in der technischen Bewältigung ihrer Wiedergabe. Sie streben, nach antikem Vorbild, das Volk, die Größe des Volkes vorstellbar zu machen. Das wäre vielleicht gut gelungen, wenn der Chor des Volkes nur in ganz wenigen, ganz starken Momenten hervorgetreten wäre, statt immerfort seine Kehrreime anzubieten. Das hätte vielleicht gelingen können, wenn man den Chor nicht so oft im Halbdunkel oder ganz im Finstern gehalten, sondern hell beleuchtet und derart seinem Verstandenwerden geholfen hätte. Die jungen Arbeiter und Arbeiterinnen waren trefflich einstudiert und gaben sich jede Mühe, trotzdem blieb ein Teil dessen, was sie sprachen, unverständlich. Noch eine Lösung gäbe es: in der Menge von etwa fünfzig bis sechzig Menschen nicht alle fünfzig oder sechzig reden zu lassen. Nur acht, höchstens zehn, die es zu einer exakten Deutlichkeit viel leichter bringen. Dann, die letzten zwei Zeilen, die wichtigsten Worte in dynamischer Steigerung von allen wiederholt. Man muß ferner bedenken, das Publikum, auch das jetzige des Carl-Theaters, will das „Volk“ gar nicht hören. Es hängt mit seiner ganzen empfänglichen Teilnahme nur an der Leistung starker Persönlichkeiten.

So viele Personen dieses Stück enthält, so wenig gibt es einzelnen Schauspielern Anlaß, besonders hervorzutreten. Deshalb und weil es zumeist lauter neue Leute sind, die man in Wien noch nicht gesehen hat, mag es hier einstweilen unterbleiben, sie einzeln zu messen und zu werten. Doch muß gesagt werden, daß sie es erstaunlich trafen, den Eindruck eines wirklichen Ensembles zu wecken.

Der schauspielerische Gewinn des Abends bleibt Eduard Rothauser als Lenin. Er spielt die Rolle nicht; er lebt sie. Man glaubt absolut daran, Lenin vor sich zu haben, jedenfalls einen echten, einen bedeutenden Menschen, mit explosiver Willenskraft geladen und von Tragik umhaucht. Rothauser wirkt mit seiner starken Individualität, mit seinen gelegentlichen schauspielerischen Unbeholfenheiten wie eine private Existenz, die zufällig ins Scheinwerferlicht geraten ist. Eine seltene Wirkung, nur großen Künstlern, etwa vom Range eines Werner Kraus, und auch diesen nur selten beschieden. Man soll Eduard Rothauser als Lenin sehen. Und man wird auf seine nächste Rolle sehr gespannt sein.

In: Neue Freie Presse, 28.9.1928, S. 12.

Willi Schlamm: „Lenin“. Eröffnungsvorstellung der „Schauspiele im Carl-Theater“.

Ein Theater, das trotz allen Verstellungskniffen ein sozialdemokratisches Parteitheater ist, wird eröffnet? Mit einem Drama, das vom Feuilletonredakteur der „Arbeiter-Zeitung“ geschrieben wurde? Mit einem Drama, das „Lenin“ heißt und die „Tragödie“ der russischen Revolution schildern will, wie der Theaterzettel bescheiden verheißt? Es hätte keinen Sinn, zu leugnen: Ich bin voller Mißtrauen hingegangen, befangen und unobjektiv, wie ein Kommunist Ereignissen solchen Wesens gegenüber nun schon einmal befangen und unobjektiv zu sein pflegt. Aber es stellte sich heraus, daß jedes Vorurteil überflüssig war; selbst mit der Objektivität eines Marsmenschen hätte man beim Verlassen des Theaters kein anderes Urteil fällen können, als: Was hier geschah, war ein grober Unfug. Und der unobjektive Kommunist muß das Urteil noch erweitern: Es handelt sich um eine kecke Verunglimpfung Lenins und der russischen Revolution, verschärft durch Geschmacklosigkeit und künstlerisches Unvermögen.

Das Drama.

            Vorläufig können wir noch nicht endgültig feststellen, wieviel von all dem der Autor zu verantworten hat; das Drama ist noch nicht in Druck gelegt (und wenn sein Autor etwas Vernünftiges tun will, dann möge er es auch bleiben lassen). Wir können also das Werk nur nach dem Bühneneindruck beurteilen.

Seltsam, könnte man denken, daß das erste „Lenin-Drama“ nicht etwa in Rußland, nicht etwa von einem kommunistischen Dichter geschrieben wurde, sondern ausgerechnet von einem Redakteur der Wiener „Arbeiter-Zeitung“. Ein Trugschluß! In Wirklichkeit wird der Fall ganz selbstverständlich. Ein solches Drama konnte nur ein Kiebitz der Revolution schreiben. Wer ihr mit dem ganzen Einsatz seiner Persönlichkeit dient, wer vorbehaltlos in ihren Reihen steht, den würde das Bewußtsein der Uebermenschlichkeit einer solchen künstlerischen Aufgabe (Ernst Fischer würde in mystischem Schmocktum von „Ehrfurcht“ sprechen) vor der Unverfrorenheit bewahren. Wir besitzen das unsterbliche, das geniale Buch von John Reed „Zehn Tage, die die Welt erschüttern“; es ist nicht zufällige Laune des Genossen Reed gewesen, daß er sein Werk in der Form einer Reportage schrieb, ohne philosophische Flunkereien, ohne verkrampfte Lyrik, ohne Schmus über Gott und die Welt.  Der geniale Schreiber war ein ergebener Revolutionär und erkannte die völlige Unbeträchtlichkeit etwaiger persönlicher Randbemerkungen, geschrieben an den Rand des gewaltigsten Ereignisses der Weltgeschichte. In den nächsten Monaten werden wir Eisensteins „Oktober“- Film zu sehen bekommen. Wiederum eine geniale Reportage, frei von Lyrismen und Philosophien. Und sieht man von diesen beiden Leistungen ab – die eine ein geschriebener, die andere ein gefilmter, aber keine ein „gedichteter“ Bericht! -, dann gibt es in der gesamten künstlerischen Produktion, die sich mit der russischen Revolution beschäftigt, keinen einzigen Versuch, sich mit ihrem Gesamtproblem auseinanderzusetzen. Die begabtesten unter den revolutionären Künstlern waren bescheiden genug (d.h. sie waren genug Künstler und genug Revolutionäre), ihre Aufmerksamkeit „nur“ dem einen oder dem anderen der tausendfachen Einzelprobleme zuzuwenden, aus denen sich das gigantische Mosaik der Revolution zusammensetzt. (Uebrigens begnügten sich ja auch sowohl Reed wie Eisenstein mit der Reportage über die kritischen zehn Tage, ohne die Vermessenheit aufzubringen, die Revolution in ihrer Gesamtheit „durch ihr persönliches Temperament“ zu begucken.)

Aber dann kam eben Ernst Fischer! Und siehe da, er schmiß die Kiste, wie man in Deutschland zur Kennzeichnung eines forschen Kerls zu sagen pflegt. Vielleicht um später tätige Reue geltend machen zu können, vielleicht aus einem anderen Grund, – jedenfalls entschuldigte er vor einigen Tagen in der „Arbeiter-Zeitung“ sein kühnes Beginnen: „Man wählt sich seine Stoffe nicht, man wird von ihnen überfallen und muß versuchen, so gut es geht, mit ihnen fertig zu werden.“ (Daß es nicht gut ging, hat Fischer hoffentlich seit dem Ueberfall schon selbst eingesehen. Von der russischen Revolution war es entschieden unvorsichtig, ausgerechnet den Ernst Fischer zu überfallen; den Schaden hat sie jetzt selbst zu tragen und wenn sie es auch wahrscheinlich überwinden dürfte, so wird sie ihn Hinkunft gut daran tun, das Objekt solcher Ueberfälle sorgfältiger auszusuchen.) Dem armen Ernst Fischer nützte es nichts, er mußte einfach. Als die russische Revolution gewöhnliche Sterbliche „überfiel“, gingen sie hin und traten in die Kommunistische Partei ein, um dort – jeder auf seinem Platz – ihrem endgültigen Sieg und ihrer bedingungslosen Verteidigung zu dienen. Fischer aber trat in die Redaktion der berühmt rußlandfreundlichen „Arbeiter-Zeitung“ ein und gebar der Welt dafür eine „Tragödie in zwei Teilen“. Bisher bangte man nach einer Beantwortung der brennenden Frage: Wie stellt sich Ernst Fischer zur russischen Revolution? – Jetzt weiß man es.

Was ist also los? Ernst Fischer ist der russischen Revolution dahintergekommen: Erstens ist sie nicht etwa das Werk des russischen Proletariats, sondern einer dumpfen Bauernmasse einerseits, einer – zufällig von einem Genie wie Lenin geführten – Abenteurergruppe andererseits. Zweitens hat Fischer die erstaunliche Wahrheit entdeckt, daß der Geist willig, aber das Fleisch schwach ist, daß also Lenin – siehst du wohl – sozusagen in den russischen Wein österreichisches Wasser gießen mußte. Drittens wirft sich infolgedessen am Ende die Frage auf (ob der Autor darauf hinauswollte, ist unwichtig), warum die Russen die Krot geschluckt haben, wenn dann doch die „Rep“ gekommen ist und nicht einmal ein Amalienbad.

Nimmt alles man in allem, so ist das nämlich ganz genau der Gehalt dieses „Lenin“-Dramas. Der Zuschauer darf sich durch verschiedene Details, die anders gemeint scheinen, nicht täuschen lassen. Wenn Fischer etwa zu Beginn der „Tragödie“ die Menschewiken – noch knapp bevor sie die Macht an Lenin, d.h. an die Arbeiterklasse abtreten müssen – genau so geschwollen über die eigene Größe und genau so verächtlich über die Einflußlosigkeit der Bolschewiki reden läßt, wie es uns heute aus der Argumentation der österreichischen Sozialdemokratie mehr als vertraut ist, so ist das ganz anders gemeint: Am Schluß des Dramas behalten dann die Menschewiken faktisch so absolut recht, daß man das russische Volk für eine Herde neurasthenischer Dummköpfe halten müßte, weil es den hellsehenden Menschwiken nicht gefolgt hat. Das hält ja Ernst Fischer scheinbar für die Tragödie der russischen Revolution; daß man zuerst einen gewaltigen Ballawatsch angerichtet hat, um dann „genau so realistisch“ handeln zu müssen, wie es etwa die vorsichtigen Oesterreicher gleich vom Anfang an getan haben. Es ist auch keineswegs bedeutungslos, wie da in Fischers „Tragödie der Revolution“ ununterbrochen geweint wird; das Große, Stürmende, die – wenn man so sagen darf – freudige Kühnheit der russischen Revolution, die ja keine „Tragödie“, sondern eben eine Revolution war, – das alles wird von austromarxistischer Melancholie in einem Meer von Seufzern ertränkt.

Tuts dem armen Fischer nicht unrecht, könnte da jemand sagen, er hat doch unverkennbar Sympathien für Lenin, den er ja während des ganzen Dramas mit freundlichem Wohlwollen behandelt. Freilich, man geht aus dem Theater mit dem Eindruck weg, daß Lenin ein anständiger Mensch war, sozusagen trotz offenkundigem Gelegenheitsverhältnis keine silbernen Löffel gestohlen hat. Aber gerade dieses Wohlwollen, diese Art, in der Ernst Fischer dem Wladimir Iljitsch Lenin einen Einser gibt, ist kein Milderungsgrund für den Autor, sondern gerade das Gegenteil.

Umsomehr, als Lenin im Fischerschen Drama eine eigentümliche Wandlung mitmacht; vor unseren Augen wandelt er sich unmerklich und leise, aber am Schluß – wer steht denn da auf der Bühne? Das ist doch allmählich der richtige Stadtvater geworden, der leutselige, abgeklärte Volksmann, kurz – der gute, alte Papa Seitz. Meiner Treu, so hat der Lenin gestern in den Schlußbildern ausgesehen, wofür nicht bloß die merkwürdig unglückliche Maske des Schauspielers verantwortlich ist: Hier hat der Schminkmeister die Konsequenz besessen, die der Autor nicht gewagt hat.

Noch ein paar Worte über die Geschichtstreue des Verfassers. Er hat in seinem vor der Aufführung geschriebenen Verteidigungsartikel beteuert, daß er nur in einem Falle – über den sprechen wir noch – Wahrheit mit Dichtung verwob. Er hält also seine Darstellung der bolschewistischen Führer neben Lenin für ein historisches Porträt. Das schaut so aus: Radek ist ein gemeingefährlicher Abenteurer, der einfach prickelnde Sensationen sucht und – „in Deutschland oder in China“ – aus Geilheit nach Nervenreiz Revolutionen „macht“, wie ein anderer Karten spielt. Sinowjew ist in dem Fischerschen Drama ein Kalb, das in frommer Demut Lenin nachplappert. In Trotzki lernen wir einen verkrachten Cäsar kennen, in Kamenew einen feigen Juden, in Lunatscharski einen entgleisten Gymnasialprofessor. So ungefähr sehen bei Fischer die historischen Porträts aus. Nun, wir hätten gar nichts dagegen, wenn irgendwer die Führer der Revolution ebenso karikiert und verzerrt, wie dies in mancher politischen Gelegenheitsrevue der Kommunisten mit den Vertretern der kapitalistischen Klasse und mit ihren sozialdemokratischen Freunden geschieht; wir würden das bekämpfen, ebenso wie wir einer politischen Rede des Gegners Pfui zurufen. Wenn aber ein Objektivling daherkommt und solche Zerrbilder als Träger der russischen Revolution ernsthaft präsentiert, dann hört die Gemütlichkeit auf.

Und nun zu der vom Autor eingestandenen Geschichtsfälschung. Das Attentat, das die Konterrevolutionärin Dora Kaplan auf Lenin verübte, teilt Ernst Fischer einem meschuggenen Studenten zu, der – wie in der „Tragödie“ wiederholt beteuert wird – noch reinere Hände hat als Lenin. (Weil er nämlich ebenso verwirrt von „Geist“ stammelt wie gewisse Feuilletonredakteure.) Also nicht die Konterrevolution wendet sich gegen Lenin, sondern der Vertreter des absoluten Prinzips der Revolution. Ein artiger Kniff. Dem ahnungslosen Arbeiter, der sich eine Karte für das Carl-Theater kauft, soll an den kommenden Abenden vorgeführt werden, daß der „Realpolitiker“ Lenin nicht etwa von der am Leben bedrohten Bourgeoisie beinahe ermordet worden wäre, sondern von ebendemselben revolutionären Unverstand, der auch westeuropäischen „Realpolitikern“ der Arbeiterklasse das Leben sauer macht. (Und um die offenkundige Absicht, die Fischer bei dieser Fälschung geleitet hat, völlig nachzuweisen: Das Attentat auf Lenin wurde bekanntlich nicht erst in der „Rep“-Periode begangen, die in Fischers Stück dem meschuggenen Studenten der Revolution den Revolver in die Hand zwingt, sondern in der Zeit des hundertprozentigen Kriegskommunismus.)

Ja, es ließe sich noch allerhand über das Drama sagen; vielleicht werden wir das nachholen, bis es uns in Buchform zugänglich ist. Für heute wollen wirs genug sein lassen und nur noch eine gute Qualität des Stückes hervorheben: Es enthält eine Anzahl wirklich kluger Sätze; die sind allerdings von Lenin, seinen Reden und Aufsätzen wörtlich entnommen. Daneben gibt es Sätze von der gedanklichen Tiefe des folgenden: „Das Leben aber geht weiter.“ Diese Sätze sind von Ernst Fischer.

Von Ernst Fischer sind übrigens auch einige wirklich begabte Verse, wie dem Autor überhaupt ein gewisses poetisches Talent nicht abgesprochen werden soll. Vielleicht entschließt er sich doch noch, ein stiller Lyriker zu werden?

Die Aufführung

stand auf dem Niveau einer braven Dilettantenbühne. Das richtet sich nicht gegen die Schauspieler, die unzweifelhaft viel gearbeitet haben. Aber wie soll denn zum Kuckuck ein Schauspieler – und mag er auch noch so arbeitsam sein – Personen vom historischen Format der dargestellten so auf die Beine stellen, uns so lebendig gestalten, daß wir nicht den Eindruck einer schwachen, dilettantenhaften Leistung gewinnen? Der Darsteller des Lenin (Rothauser) konnte sich nicht anders helfen, als daß er Lenin, wenn er gerade argumentierte, im Format eines Volksschullehrers, und wenn er gerade erregt war, im Format eines Schutzbundkommandanten mimte. Die anderen bolschewistischen Führer wurden so gespielt, daß z.B. Radek in dem Augenblick, wo er die Pfeife – um zu sprechen – aus dem Mund nahm, nicht mehr agnosziert werden konnte, weil mit der Pfeife das in der Darstellung des Carl-Theaters einzig erkennbare Charakteristikum Radeks verloren gegangen war. Es gab auch wirklich gute schauspielerische Leistungen; so die Kerenskis (Berisch), des jungen Ukrainers (Kayer), des Matrosen (Sternberg).

Der Sprechchor – weil er ihn in einer „Hauptrolle“ verwendet, glaubt Fischer auch in der Form ein revolutionärer Dramatiker zu sein – mußte unausgesetzt weinen und jammern, weil es nämlich eine Tragödie war. Das ist vielleicht der Grund, warum der Sprechchor, in dem unverkennbar viel fleißige Arbeit drinnensteckte, nicht gerade eine dramatische Offenbarung war.

Die Regie (Hans Abrell) war keineswegs allzu einfallreich. Die fünfteilige Bühne wurde gewiß in vielen ihrer Möglichkeiten genützt; aber in keinem einzigen Bild war wirklich mitreißendes Leben, leidenschaftlicher Schwung, der auch nur eine ganz schwache Ahnung von der Intensität des Revolutionserlebnisses vermittelt hätte.

(Daß auf dem Theaterzettel Swerdloff als „Sozialrevolutionär“ und Sawinkow als „Vorsitzender der Kommission zur Bekämpfung der Konterrevolution“ angegeben waren, wollen wir auch der Aufführungsschlamperei anrechnen, um den Autor nicht noch mehr belasten zu müssen.)

Das Theater selbst

fordert endlich einige Bemerkungen. Es heißt unschuldig „Schauspiele im Carl-Theater“, ist aber in Wirklichkeit ein Theater der Sozialdemokratischen Partei. Also wohl kein revolutionäres, aber doch ein politisches Theater. Sein Direktor, er heißt Emil Berisch und kommt von einem Berliner Geschäftstheater, hat zwar mit der Arbeiterbewegung bisher ebenso viel gemein gehabt, wie Fischers Drama mit der russischen Revolution; nämlich nichts. Aber die sozialdemokratische „Kunststelle“ ist ja der eigentliche Direktor, und so wird in Hinkunft in Wien die Ideologie des „Kleinen Blattes“ allabendlich in dramatischer Form wirksam werden. Das heißt, daß das Repertoire dieses Theaters beileibe nicht immer so offen politisch sein wird, wie sein Beginn (der eine ungeschickt verhüllte Politik gegen die russische Revolution war), sondern auch durch eventuelle Raubmordgeschichten schmackhaft gemacht werden dürfte. Aber es wird eben immer sozialdemokratische Verkrümmung der proletarischen Ideologie sein. Die Gefahr ist nicht gering! Zehntausende Arbeiter werden durch die „Kunststelle“ dem Theater zugeführt werden, wo eine bedeutend schädlichere Verbildungsarbeit an ihnen geleistet werden wird, als sie bisher etwa beim „Garten Eden“ von der „Kunststelle“ besorgt wurde. Diese Verbildungsarbeit wird nämlich in Hinkunft hemmungsloser. Und darum wird die revolutionäre proletarische Oeffentlichkeit gut daran tun, die sozialdemokratische Theaterpolitik aufmerksam und abwehrbereit zu beobachten.

In Berlin entstand im Vorjahre die berühmt gewordene Piscator-Bühne; sie war ein außerordentlich bemerkenswerter Versuch eines revolutionären Theaters. Und ist dennoch gescheitert, weil sie sich noch zu wenig bedingungslos dem proletarischen Klassenkampf einfügte. – Die neue Direktion des Carl-Theaters hat vor der Aufnahme ihrer Tätigkeit in der bürgerlichen Presse beteuert, daß sie mit dem Piscatorversuch nicht das geringste zu tun habe. (Wovon sich die bürgerlichen Zeitungen bei der Premiere wohl endgültig überzeugen konnten, schon deswegen, weil auch nicht ein Quentchen von Piscators Talent am Werke war.) Das war überflüssig. Kein vernünftiger Mensch konnte auch nur einen Augenblick daran zweifeln, daß ein Theater der „Kunststelle“ keine Erschütterung des Wiener Theaterniveaus und am wenigsten ein revolutionierendes Element in das bürgerliche Theaterelend bringen wird. Das revolutionäre Theater wird auch in Wien niemand anderer schaffen als das revolutionäre Proletariat.

Bis dahin aber empfehlen wir den „Schauspielern im Carl-Theater“, da es nun schon einmal kein revolutionäres Theater sein will und sein kann, größere Vorsicht bei der Auswahl des Repertoires. Wenn es schon unbedingt Redakteure der „Arbeiter-Zeitung“ berücksichtigen muß, – da gibt es dort einen, der unter der Marke „Li“ oft ganz ausgezeichnete und wirklich lustige G’stanzln schreibt. Wie wäre es, wenn man bei dem eine dreiaktige Posse mit Gesang und Tanz bestellt?

In: Die Rote Fahne, 28.9.1928, S. 3-4.

Julius Bauer: [Theatralische Neuheiten] I. Schauspiele im Carl-Theater.

Ich bin ein Opfer der russischen Revolution. Ich wurde in der Eröffnungsvorstellung des Carl-Theaters an die Wand gelehnt! An die Wand unterhalb einer Loge, in der Bürgermeister Seitz der Aufführung beiwohnte. Ich fühlte mich sehr geehrt, daß unser Oberhaupt ober meinem Haupte thronte, aber ich sah von dem sonst angesehenen Logenbesitzer ebenso wenig, wie von dem Chor auf der linken Seite der Bühne.

Ich mache dem verantwortlichen Sitzredakteur des Hauses keinen Vorwurf, ich bedauere nur, daß mir manches entging, das vielleicht des Lobes gleichermaßen würdig war, wie manches andere an diesem ersten Abend einer neuen Direktion, einer neuen Schauspielgesellschaft und einer neuen Dichtung.  Die Dichtung „Lenin“ wird von ihrem Verfasser Ernst Fischer als „die Tragödie einer Revolution“ bezeichnet. Schon dieser Untertitel bezeugt das objektive Verfahren, das hier trotz Tod und Teufel vorwaltet. Nicht ruhmredig wird der Sieg der russischen Revolution gefeiert, nicht einseitig politisch verwertet, sondern als historische Begebenheit gewissermaßen abgeknipst und zu einer Bildserie entwickelt. Leider wurde das Schlußwort der Tragödie, das dieses Verfahren verdeutlicht, durch einen schmerzhaften Strich verstümmelt. Im Buche sagt Lenin: „Führt diese Arbeit weiter, wenn mein Hirn eines Tages versagt und die Revolution das Werkzeug verbraucht hat. Etwas wird schon herauskommen!“

Ernst Fischer, der schon mit seinem im Burgtheater aufgeführten Drama „Das Schwert des Attila“ eine Talentprobe fast gut bestand, legt in seinem neuen Werke so wenig Gewicht auf das Hochdramatische, daß er bereits die Marke „Reporter der Revolution“ sichtbar zu tragen bekam. Ich aber sage: ein Reporter und ein Poet zugleich. Von dichterischem Wert sind die tiefen und formvollendeten Verse des Chores, der das Volk bedeutet. Es ist das Volk in Not, das hungernde, tränende, hilfeschreiende Russenvolk. So exakt auch die Chöre von Maria Gutmann einstudiert waren und so wirksam sie von sonst bühnenfremden Arbeitern und Arbeiterinnen gesprochen wurden, so spurlos ging doch manche sinnreiche Strophe im Unisono vorüber. Für die eine und die andere bedeutungsvolle Stelle wären Chorführer, wie in der „Braut von Messina“, von erheblichem Nutzen.

Sämtliche Szenen der Revolutionstragödie spielen abwechselnd auf einer in fünf Räume geteilten Bühne. Von einigen kleinen Schwankungen abgesehen, ging alles trefflich vonstatten. Hans Abrell, der Regisseur, hat da fieberhaft gearbeitet. Wie viel Fleiß und Schweiß mag das gekostet haben. Und wie viel Inspizienten mögen abendlich am Werke sein, um die zahlreichen Spielleute auf die verschiedenen Schauplätze zu dirigieren? Ach, die Armen!

Zu meinem Freudwesen fehlt mir der Raum, die bunten und figurenreichen Vorgänge nachzuerzählen. Denn ich wär es gar nicht imstande. Als der Dichter sich an den ungeheuren Stoff der noch in unsere Gegenwart hineindampfenden Revolution heranwagte, mochte er mit Lenin gedacht haben: „Etwas wird schon herauskommen.“ Aber dieses Etwas wuchs ihm über den Kopf. Sein Lenin ist ein zuwartender Held, kein Handlungsbeflissener. Er gefällt sich in der Kunst, den Leuten das Richtige ein- und das Unrichtige auszureden. So kommt es vor lauter Gesprächen zu keiner Handlung. Und es reißt, wie nach dem Triumph der Revolution, auch nach dem ersten Teil des Stückes das Chaos ein.

Mit Genialität, Überlegenheit, Menschenkenntnis und Opportunitätsgründen ausgestattet, beherrscht der Held seine Mitarbeiter und bändigt die Fanatiker der Weltrevolution, den einen ausgenommen, der aus reiner Torheit ein Attentat auf ihn verübt und an die Wand gestellt wird. Eduard Rothauser, ein Schauspieler von hoher Intelligenz und rätselhafter Unbekanntheit, spielt Lenin mit überzeugender Gescheitheit, bezwingender Einfachheit und mit nicht unterstrichener Würde, volkstümlich bis in die Fingerspitzen. Er wird vermutlich das von Direktor Emil Berisch grundsätzlich angekündigte Nur-Ensembletheater empfindlich, aber angenehm stören.

Antiker Form sich nähernd, führte Ernst Fischer nicht nur den Chor ein, er dramatisierte nach dem Vorbild des Aristophanes bekannte Zeitgenossen bei lebendigem Leibe. Was jedoch im attischen Lustspiel erlaubt war, ist in einer modernen Tragödie von zweifelhaftem Werte. So lebendig können Trotzky, Lunatscharsky und andere Sowjetkommissäre auf dem Theater nicht sein, wie sie es in der Wirklichkeit noch immer sind. Als Trotzky war der Schauspieler Schultze-Wendel nicht uninteressant, aber ich glaube nicht, daß der leibhaftige Trotzky, der „neurasthenische Komödiant der Weltgeschichte“, als Schultze-Wendel interessieren würde. Der arme Trotzky sitzt jetzt als Verbannter in Sibirien und schreibt dort ein – Theaterstück! „Etwas wird schon herauskommen“, sagte Lenin.

Auf der Bühne alle Mann mit Feuereifer bei der Sache. Aus der Fülle der Namen seien herausgegriffen: Franz Berisch als eitelkeitstriefender Kerenski, Josef Schaper als junger, noch flackriger Leonid, Franz Kayer als Sprecher der Ukrainer und Eddie Peppler als herabgekommene Tänzerin. Die übrigen wag ich nicht nennen, nicht, weil sie mir zu wenig, nein, weil sie mir zu viel sind. Das Publikum war dem neuen Unternehmen hold. Jubel über Jubel. Etwas wird schon herauskommen. Und es kamen heraus der Direktor, der Dichter, die Schauspieler, der Regisseur und der Chor. In der Mitte der Bühne wurde der Dichter von einem begeisterten Schauspieler auf die Schultern gehoben. Fest und sicher hielt der Enthusiast ihn oben, denn Fischer ist ein Mann, den man nicht fallen lassen darf.

In: Der Morgen, 1.10.1928, S. 4.