Dolfi spielt auf… (1927)

N.N.: Dolfi spielt auf…

Jazz-Symphonie am Sonntag vormittag

Dolfi Dauber, der Kammervirtuose, das Entzücken aller, denen sein Tanzorchester in die Beine fährt, ist ein Sonntagsphilharmoniker. Am Sonntag strebt er nach den höheren Zwecken, mit denen der Mensch wächst. Er verwandelt sich in einen Furtwängler und stellt sein berühmtes Jazz-Ensemble auf Ernst ein; nur zum Schein natürlich, denn ganz ernst, wie die echten Philharmoniker, darf er nicht kommen, ohne das Vertrauen, das alle Tänzerinnen und Tänzer in ihn setzen, ins Wanken zu bringen. Mit anderen Worten: er gibt Symphonie-Matineen im großen eleganten Tanzraum des Café Sacher, wo sich jetzt alle vornehmen  Leute, die nichts Besseres zu tun haben, als nicht zu tun zu haben, pünktlich einfinden, um teils Symphonie in Jazzgestalt einzunehmen, teil Charleston zu tanzen.

Dolfi Dauber hat zu diesem Zweck, seinem Orchester gegenüber, nichts als seine Geige, die ihren süßen Ton unter allen Umständen durchsetzt, selbst wenn die drei Saxophone, drei Trompeten, zwei Klaviere und je eine Posaune, ein Saxophon und ein Banjo mit dem Schlagwerk gemeinsame Sachen machen, um Dolfis Kantilene zu töten. Niemand kann sie umbringen, denn sie vertritt neben den Funktionären des Rhythmus die unsterbliche Idee der Melodie.

Ich hörte ein Programm, das aus lauter Leckerbissen zusammengesetzt war. „Josefine“ (Egon Neumann) und „Margarete“ (Maurice Roget) werden „für eine Nacht“ (Walter Kollo) gesucht, Richard Fall warnt Sie im Einverständnis mit Fritz Grünbaum („nimm dir nur ja keine Frau vom Mississippi“) und verweist Sie lieber auf die „Hochzeit im Ghetto“, die Dolfi Dauber und Beda miteinander arrangiert haben. Solches und ähnliches fand im ersten Teil des Programms statt. Im zweiten Teil, nach der Pause, fragt die Schöne, „was hast du für Gefühle, Moritz“ (Richard Fall); José Padilla empfahl „nur ein Rendezvous“, und Franz Lehár schlug das „alte Lied“ (Henry Loewe) von der „ersten Liebe“ an.

Bei einzelnen dieser Nummern steht ein Sternchen: „Auf vielseitigen Wunsch.“ Es wird aber fast alles wiederholt, denn Dolfi Dauber kann machen, was er will: man wünscht sich immer noch eins! Ich habe aber auch alte Opern von ihm gehört. Vom Tanzen versteh ich nichts, denn es genügt mir, wenn alle Tanzenden behaupten, daß niemand ihnen besser in die Füsse greift als dieser Herr Kammervirtuose. Neu aber ist für mich, daß die alten vertrauten Opern hier in einer ganz neuen Klangfarbe aufleuchten. Keine von diesen unsterblichen Opernmelodien (aus „Carmen“, „Margarethe“, *Bohème“ usw.) hat jemals ahnen können, daß es dereinst Susaphone und Banjos geben würde, und von Rechts wegen hätte man vielleicht den seligen Bizet oder Gounod fragen müssen, ob es erlaubt ist, ihre schönsten Melodien mit den Jazzgewässern zu taufen. Sie würden allerdings, wenn sie noch lebten, und Dolfi Dauber hören könnten, sicherlich nicht „nein“ sagen, denn diese Klangmischung ist etwas ganz Merkwürdiges; sie klingt fremd und doch vertraut, und die Jazzpolyphonie kann ihnen nichts anhaben. Manchmal ist es, als säße man im großen Opernhaus und hörte „Aida“, „Carmen“ und „Margarethe“; jeden Augenblick könnte Amonasro auftreten oder Carmen von Don José getötet werden.

Die Jazzsymphonie ist eine neue Sachlichkeit, aber, ganz wie die alten Sachlichkeiten, doch nichts anderes, als eine große Illusion auf romantischer Grundlage, ein Fest für das Ohr und eine Labe fürs Herz. Unsere moderne Musik ist auf alles Melodiöse, Sentimentale und Romantische schlecht zu sprechen, um so treuer halten sich die Musiker vom alten Schlage an die unveränderlichen Grundsätze der Tonkunst. Sie hüten den Schatz der Melodie indem sie dem neuen Gott mit Schlagwerk huldigen.

Darum ist Dolfi Dauber nicht nur ein ausgezeichneter Musiker und brillanter Geiger, sondern auch ein sehr wichtiger Mann. Er hat eine Mission in dieser Zeit der Auflösung aller Musiken…

In: Die Bühne (1927), H. 163, S. 72.