e.f. [Ernst Fischer]: Stadt im Licht
Lichtreklame.
Licht überschäumt die großen
Boulevards mit roten, grünen, gelben und violetten Trunkenheiten, die Fassaden
der Warenhäuser blühn durch die magische Nacht der Stadt wie ungeheure
Orchideen, phantastische Lilien, abenteuerliche Magnolien, springen wie
silberne Brunnen in den Himmel empor, leuchten wie Freudenfeuer über die Plätze
hin. Tausende stehn und staunen, warten entzückt auf jede neue Verwandlung des
riesigen Flammenspiels, genießen die ewige, alle Kreatur erfüllende Lust am
Licht. Wie gern sie sich selber beschwindeln, die klugen, vernünftigen
Menschen, wie gern sie sich selber beweisen wollen, das Zweckhafte, Nützliche,
Rationelle sei es, was ihr Tun und ihr Schicksal bestimme: diese brennenden
Blumen, diese funkelnden Fontänen, diese gigantischen Glanzgirlanden – alles
nur Lichtreklame, alles nur maskiertes Geschäft, alles nur entfesselter
Kommerz. Wirklich nicht mehr, wirklich nur ein wohlüberlegtes Manöver, um
Käufer anzulocken, wirklich nicht das wunderliche Verlangen der Menschheit nach
dem Pathetischen, Lodernden, Ueberflüssigen?
Gewiß:
die Reklamechefs der Warenhäuser werden lang und breit den Beweis erbringen,
daß diese großzügige und kostspielige Propaganda rentabel sei und die Kauflust
steigere, und man wird sich das einreden lassen, man wird argumentieren, daß
jeder Kaufmann sich hüten werde, so viel Geld zu investieren, ohne daß es sich
lohnt. Ich bin kein Kaufmann, ich kann das nicht beurteilen, aber ich bin
überzeugt, daß das eine Selbsttäuschung ist. Romantik, als Geschäftsinteresse
kostümiert. Ich halte die Besitzer der großen Warenhäuser nicht für Romantiker,
aber der Wille zur Prachtentfaltung, zur großen Gebärde, zur majestätischen
Geste wirkt auch in ihnen und treibt sie in Experimente hinein, die
kaufmännisch kaum zu rechtfertigen sind, verwandelt sie, ohne daß sie es
wollen, in Mäzene, die verschwenderische Schauspiele geben, in Zauberer, die
einen nächtlichen Platz mit orientalischen Märchen überschwemmen.
Die
Technik wird zur Legende: man träumt in dieser Stadt, die von Lichtorkanen
durchbraus ist, unter diesem Himmel, durchblutet von rote Reflexen, verwirrende
Träume. Man verleiht sich in solchen Träumen die Macht eines Götersohnes [sic!]
(der Reichtum eines amerikanischen Oelmagnaten genügt), um für eine geliebte
Frau alle Boulevards, Avenuen und Plätze zu illuminieren, alle Türme in
Flammenkonturen aufzulösen, die Stadt in ein Chaos von Sternen und und Rosen zu
verwandeln. Lichtreklame für die Liebe, für die Seele, für jeden Herzschlag und
für jeden Atemzug! Lichtreklame, Lichtreklame…! Wenn der Kapitalismus, die
Konkurrenz der Warenhäuser zu solchem übermenschlichen Schauspiel sich
steigert, in solchen Scheiterhaufen von allem Schmutz sich befreit, wie muß die
Menschenseele lodern und leuchten in diesem wilden und ungestümen Jahrhundert,
um die Menschen in einen heiligen Lichtrausch zu stürzen, emporzureißen!
Lichtreklame
für die Seele…! Mitten unter den grellen Orchideen und riesigen Silberbrunnen
hängt eine zarte und blasse Scheibe wie eine geisterhafte Frucht. Für welche
Ware wirbt sie, für welche Firma schimmert sie so rührend// und schüchtern
unter dem purpurnen Himmel? Die blasse Scheibe, die geisterhafte Frucht ist der
Mond, der wirkliche Mond, der sich zwischen den strahlenden Bogenlampen verirrt
hat.
Stimme der Seele.
Aber die Seele selber, die Seele von
Paris, man sieht, man hört sie täglich in einem kleinen Theater. Sie ist eine
Russin und heißt Madame Pitoëff: die
Seele von Paris war immer eine Fremde, die an der Seine ihre Heimat gefunden
und sich naturalisiert hat. Sie spielt in einem Stück, das, wie man sich am
Theaterzettel überzeugt, nicht von Hans Müller,
sondern von Lenormand ist: eine Mutter, die
für ihr Kind sich prostituiert, einen Mord begeht, an großen Diebstählen
mitwirkt und allerhand Probleme in ihrem Busen birgt. Homosexuelle, Zuhälter,
Verbrecherinnen geben ihre Philosophie zum besten, und die Erkenntnis, daß das
Leben eine Mischung von Gut und Bös, von Seele und Leidenschaft, von Gott und
Teufel ist, pocht auf ihre Originalität: sie gab dem Drama den Namen Mixture. Madame Pitoëff spielt in diesem
effektvollen Stück die Tochter, das junge Mädel, für das die Mutter sich opfert,
und man zittert, wenn sie die Hand bewegt, wenn sie den Mund öffnet, ist von
Schauern, tiefster, körperloser Zärtlichkeit, intensivsten, melodischen Glücks
bedrängt, hat im Hinterkopf ein merkwürdiges Kältegefühl – nur der Dämon der
Musik wühlt so mit saugenden Lippen im Hirn, nur im Konzertsaal erlebt man
manchmal diese beklemmende und beseligende Empfindung des Ausgetrunkenwerdens.
Zart und zerbrechlich wirkt diese Schauspielerin, die ihrem Manne jährlich ein
Kind gebiert, um einst eine Truppe der Familie Pitoëff zusammenstellen zu
können, wie ein unerhört edles und dünnes Gefäß, das von Licht überfüllt ist,
von dem sanften, grauen und starken Licht der Place de la Concorde, der Champs
Elysees, der Boulevards, Licht, das in ihre Stimme quillt, das ihren Körper
durchpulst, das von allen ihren Gebärden verschüttet wird.
Tiefste
Erschütterung, wenn dieses schmale Geschöpf in unerwarteter Leidenschaft
ausbricht, wenn sie mit eckiger und bezwingender Geste den Revolver gegen den
Strolch erhebt, mit dem sie allein im kahlen Zimmer zurück blieb, wenn ihre
Reinheit drohend und unbarmherzig wird und die Kraft eines Erzengels sie
umpanzert, wenn sie, in der großen Szene des Dramas, der Mutter hell und
unantastbar entgegentritt und die Freiheit ihres Lebens verteidigt. Kein
Pathos, kein greller outrierter Ton, nur eine leise und liebenswerte Gewalt,
eine Größe des Gefühls mit weich entbreiteten Schwingen, wenn sie der Mutter
sagt: „Du willst dich an mir für die
Opfer rächen, die du gebracht hast, du willst, daß es mir nicht besser gehe als
es dir gegangen ist – aber ich will nicht, ich gebe mein Leben, mein Schicksal
nicht preis.“ Und dann die Mutter, eine ausgezeichnete Schauspielerin, wie ein
Granitblock der Schmerzen, der Qualen, und an ihren mächtigen mütterlichen
Hüften hinabgleitend, unwirklich zart, unwirklich schmächtig wie ein
versickernder Lichtstrahl, die Pitoëff – niemals vergißt man dieses Bild. Und
niemals die melancholische Anmut der großen Künstlerin, niemals ihre wie aus
wehenden Morgenwolken sickernde Lichtstimme.
Schauspiel im Freien.
Stundenlang schlenderst du über die
abendlichen Boulevards, immer aufs neue verwundert, daß diese tausend und
tausend Autos, diese tausend und tausend Menschen so glatt und geschmeidig aneinander
vorübergleiten, daß dieser ungeheure Verkehr so wenig brutal, so höflich und
liebenswürdig ist. Es hat geschneit, die Temperatur ist unter Null gesunken,
aber auch die Kälte ist höflich und liebenswürdig und meidet barbarische
Übertreibungen. Vor den Kaffeehäusern sitzen die Menschen im Freien, denn
überall hat man große Füllöfen aufgestellt, die in dieser unwinterlichen Stadt
für künstliche Frühlingswärme sorgen. Längs der Boulevards sind unzählige Buden
aufgeschlagen, Buden, in denen man alles zu kaufen bekommt, was man sich
wünschen kann: Strümpfe, Schuhe, Schals, Seidentücher, Manschettenknöpfe,
Uhren, Puppen, Bücher, Majoliken, Zigarettenspitze, Kinderspielzeug, Lampen,
Zuckerwaren, Taschenmesser, Parfümflakons, Teekessel, Landkarten und tausend
närrische und übermütige Dinge. Das ist der große Weihnachts- und
Neujahrsmarkt, der sich bunt und phantastisch entfaltet. Die Verkäufer und
Verkäuferinnen sind Künstler, von denen viele Redner und Schauspieler lernen
können: unermüdlich halten sie an die Vorbeieilenden formvollendete, witzige
und pathetische Ansprachen, dichten sie ganze Romane, ganze Theaterstücke um
die Waren, die sie feilbieten, erfinden sie Anekdoten, Legenden und
Zaubergeschichten, um die fabelhaften und überirdischen Qualitäten des
Gegenstandes, den sie in der Hand hochhalten, ins rechte Licht, in das jubelnde
Licht des Boulevards zu rücken. Jede Bude ist ein kleines Theater, vor dem sich
die Menschen ansammeln und auf die Zehenspitzen stellen, um alles zu sehen,
alles zu hören; für die meisten ist das ein kostenloses Schauspiel, denn
gekauft wird sehr wenig und die Verkäufer nehmen es keinem übel, wenn er sich
hundert Dinge zeigen läßt, um endlich weiterzugehen, ohne einen Sou ausgegeben
zu haben.
Andere fahren in Automobilen, in
denen die Waren verstaut sind, durch die Straßen, lassen den Wagen irgendwo
halten und beginnen in großer und farbiger Rhetorik über die Köpfe der Menge
hin zu sprechen, und die Lust am gerundeten Wort, an der
leidenschaftlichen Gebärde, an der
geformten Sprache reißt sie hin. Wenn man einige Meter entfernt ist, meint man,
ein Volkstribun fordere die Massen auf, Barrikaden zu bauen und für die Freiheit
zu sterben – erst in der Nähe merkt man, daß nur ein armer Händler seine Puppen
oder Krawatten oder Schuhputzmittel anbringen will. Einige Minuten lang hört
man zu, dann wird man wieder fortgeschwemmt von dem weichen und elastischen
Druck der lebendigen Welle; man fügt sich willig in den Rhythmus, fügt sich
willig der Suggestion des Lichtes, steht auf einmal vor einem farbigen
Glücksrad, das sich immerfort dreht, immerfort dreht (zwei Kilogramm
Würfelzucker sind der Gewinn), wird auf einmal zu einem Schießstand hingespült,
starrt auf einmal, eingekeilt in hundert Neugierige, in die glänzende
Spiegelscheibe eines Warenhauses – und schlendert weiter, immer weiter, bis man
fast betäubt ist vor Müdigkeit. Und plötzlich steigt wieder ein Springbrunnen
silbern in den Himmel empor, blüht wieder maßlose Lichtreklame durch die Nacht.
Rote, grüne, gelbe, violette Sterne
schmelzen über die Seine, tausend und tausend Glühwürmchen wirbeln über die
Champs Elysees, über die Plâce de la Concorde, die Lichter der Automobile,
summender, glitzernder Strom gewaltiger Lebensfülle, elektrische Flammen bäumen
sich über die Dächer, der Himmel ist übersättigt von roten Reflexen. Stadt im
Licht! Stadt im Licht!
Aber
dort bei den Hallen, die wie eine gespenstische Drohung sind, liegt ein alter
Mann, liegt eine Frau mit Kindern, liegen Menschen in Lampen auf Bänken und
Pflastersteinen, um unter dem Winterhimmel zu schlafen.
In: Arbeiter-Zeitung, 8.1.1928, S. 7.
Erhard Breitner: Die Br-Generation. Bronnen und Bruckner in Berlin. (1928)
Erhard Breitner: Die Br-Generation. Bronnen und Bruckner in Berlin.
KATALAUNISCHE SCHLACHT.
Vier Jahre lang hat Arnolt Bronnen darauf warten müssen, daß Jessner sein für das Staatstheater erworbenes Stück auch aufführe. Wenn das einem Akkreditierten zustößt, mit welchen Fristen haben dann Außenseiter zu rechnen? Oder mißtraute Jessner der Erfolgmöglichkeit? Niemand wird je dieses Geheimnis lüften, man muß sich begnügen, bedauernd festzustellen, daß Bronnens Werk während der Lagerung Schimmel angesetzt hat – kein gutes Zeichen für die Dauerhaftigkeit dramatischer Erzeugnisse. Zum Welken verurteilt, ehe man blühen durfte, ein hartes Los!
Der Krieg, hier Gevatter des Handlungsymbols, ist inzwischen selbst zum Symbol geworden, sein Schatten hat sich verkürzt, man empfindet ihn – wie ehedem – schon wieder fast wie eine Begriffshülse. Daran ist Bronnen schuldlos. Auch konnte er nicht wissen, daß eine Serie amerikanischer Filme das immerhin vorhanden gewesene Bedürfnis nach kriegsuntermalten Themen bis zum Überdruß decken werde.
Dennoch ist zu sagen, auch heute noch, daß des Verfassers Grundidee, stark, rein, tragend und voll Schwungkraft ist, und ihm ein erster Akt gelingt, der sich einhämmert, der die Schauer des Gepacktwerdens, der Anteilnahme, der heftigsten Bejahung hervorruft.
In der Hölle eines Unterstandes – Jahr 1928 – Giftgas, Granaten, Tod. Der Leutnant hat seine als Burschen verkleidete Frau bei sich. Trifft auf seinen Bruder, den Hauptmann, der ihn, um ihm das Weib abzujagen, hinausschickt zum Beobachtungsposten, von wo es keine Wiederkehr gibt. Sie fliegt dem Überlebenden an den Hals, indessen noch drei andere sie umlauern. Zweiter Akt in der Loge eines Pariser Kinos: Dieselben drei jagen der Frau nach, die, verfolgt vom Gespenst des toten, in seiner letzten Stunde betrogenen Gatten, den Hauptmann niederschießt. Dann zuletzt: am Bord eines Atlantikdampfers. Die Frau, von drei Lebenden und zwei Toten verfolgt, nimmt Gift. Materialisiert ist das Gespenst in einer Grammophonplatte, die die Stimme der Sterbenden aufzeichnete.
Seelische und leibliche Wirrnis, gewachsen aus dem großen Morden und die Zeit nach ihr zeichnend, ist der Akkord, auf den die Geschehnisse gestimmt sind. Diese, in ihrer Atemlosigkeit und grellen Färbung, tragen geflissentliches Gepräge der Kriegstage. Aber das sollte bloß Gerüst sein, Stützbalken der Bühnenwirksamkeit. In der Aufführung jedoch treten nur die Knallszenen hervor, man sieht sich einem zügellosen Sketch gegenüber, die Idee verschwindet. Denn man hat Bronnen zwiefaches Unrecht getan: nicht nur, daß man ihn allzulange warten ließ, sein Drama wurde auch durch brutale Kürzungen verstümmelt, was übrig blieb, war eine Andeutung dessen, was er sagen wollte, und allenfalls blieb das Tempo. Wer das Buch gelesen hat, weiß, daß hier ein zweifellos wertvolles Werk, das besseres Los verdient hätte, zugrunde gerichtet worden ist. Schließlich wird der Fall durch das Malheur erschwert, daß Heinz Hilpert, der Regisseur, unter seinem sonstigen Niveau blieb: ihm gelingt straffe Zusammenfassung des ersten Aktes; Walter Frank und Lothar Müthel – die beiden Brüder – und Maria Bard vereinigen sich zu geradezu beklemmend wuchtiger Wirkung. Hernach aber flattert das Spiel auseinander, verblaßt und man wird Zeuge des Verlustes dieser Katalaunischen Schlacht.
„KRANKHEIT DER JUGEND.“
Der Verfasser spielt ein neckisches Versteckspiel: sein Name – Ferdinand Bruckner – soll ein Pseudonym sein. Auch wird geflissentlich Dunkel darüber gebreitet, wo er lebt. In Wien als Arzt? In Reims bei einem Patienten? Jedenfalls, als er zum Schluß gerufen wurde, zeigte er sich nicht, und das ist immer ein Mittel, sich interessant zu machen, wenn auch kein neues.
Das Werk (das in Wien, Breslau, Hamburg bereits gespielt wurde) soll etliche Jahre alt sein, aber man wäre nicht überrascht, zu erfahren, es sei um die Jahrhundertwende geschrieben. Denn diese „Krankheit der Jugend“, ihre erotische Not, besteht heute kaum mehr oder doch nur in solchen Einzelfällen, daß sie den typisierenden Titel nicht rechtfertigt. Die sportentflammte Jugend unserer Zeit ist von einer verblüffend glatt funktionierenden, fast maschinell funktionierenden Sexualität, bei der Eros eine überflüssige Figur geworden ist und längst entlassen wurde. Was sich hier in der Studentenpension von Frau Schimmelbrodt vollzieht, sind verklungene Katastrophen, und wenn auch in ihrer tragischen Abwandlung modernste wissenschaftliche Nomenklatur auftaucht, so muten sie dennoch an wie Historik.
Gustav Hartung als Regisseur des Abends machte in seiner Renaissance-Bühne dort, wo es darauf ankam, aus dem Drama handfestes Theater, erreichte aber zugleich vollendete Abtönungen und per saldo eine ausgezeichnete Aufführung, die wiederholt Beifall auf offener Szene hervorrief, besonders bei der Darstellerin des Dienstmädchens, Fräulein Hilde Körber, die, bisher kaum bekannt, trotz ihrer kleinen Rolle eine starke Begabungsprobe ablegte. Auch Fräulein Lennartz, Frau Mewes und Erika Meingast fanden, jede für sich, überzeugende Ausdrucksmöglichkeiten. Einige Grade darunter die Herren: Adalbert v. Schlettow gibt breite Brutalität, Herr v. Rappard schlichtes Sentiment.
Der Erfolg des Abends war wohl zum großen Teil, dank der Darstellung, überaus lebhaft.
In: Die Bühne (1928), Nr. 183, S. 10.
Ea von Allesch: Tanz und Mode (1920)
Ganz genau läßt es sich kaum feststellen, ob die Mode den Tanz oder dieser die Mode beeinflußt. Wahrscheinlich unterstützen sie sich gegenseitig und stammen beide aus engverwandten seelischen Gebieten, welche besser nicht näher untersucht werden sollen. Jedenfalls, ob du nun tanzt oder ob du nicht tanzt, verehrte Leserin, du mußt ein Tänzerinnengewand anlegen, wenn du dich dem herrschenden Modeprinzip unterwerfen willst. Sich der Mode anzupassen war aber von jede rigueur und sozusagen mitnichten abenteuerlich. Heute aber wirst du einfach durch die Mode umqualifiziert; du bist angezogen wie eine „Tänzerin“, die mit ihren Prächten bestechen will, nicht wie eine Dame, die tanzt. Tänzerinnenkleider können sehr schön sein, und sie sind es auch jetzt, darüber ist gar kein Wort zu verlieren; früher aber mußten die Tänzerinnen schön sein.
Die Mode, die fast nur ein Stückchen Rumpf verhüllt, Arme, Beine, Brust und Rücken frieren in ihrer Blöße, rechnet eigentlich sehr mit „Reizen“, doch es bleibt zumeist bei der idealen Forderung. Es steht zu erwarten, daß wir einer sehr unerotischen Ära entgegengehen, so abgestumpft werden die betreffenden Männeraugen durch die allzu große Freigebigkeiten im Zurschaustellen von holder und unholder Weiblichkeit. Doch wird ein zukünftiges Nonnenkleid das wieder gutmachen.
Dieses Tänzerinkostüm also ist ohne Ärmel und fast ohne Taille, eigentlich nur kärgliche Erinnerung an eine Corsage. Der Rock soll länger und weiter werden, doch merkt man noch wenig; wir tanzen noch kniefrei. Die Farben dagegen sind betörend sozusagen. Der Expressionismus hat da seine Hand im Spiel, wenn er überhaupt Hand und Fuß hat. Ein eigener Farbentiteldichter wäre nötig, um den verschiedensten Nuancen zwischen den uns gewohnten Farben gerecht zu werden. Silber mit Blau wie seligen Rokoko ist Trumpf.
So ein Tanzkleid, und jedes Abendkleid ist ein Tanzkleid, ist wirklich verführerisch. Zumeist hat es noch seitliche Drapierung, die aber nur aus Silberspitze, Tüll oder Pannestreifen besteht und sehr zart und zufällig wirkt. Auch das Stückchen Corsage ist aus Silberspitze, Tüll oder Brokat, und die Verbindung wird durch eine Perlenkette oder einen Pelzstreifen hergestellt, der über die Achsel führt. Volantkleider aus Tüll mit Silberstrickerei oder Mousseline de soie mit einem Panne- oder Satinleibchen sind wieder ganz modern.
Sehr phantastisch und dekorativ sind die Hüte. Neu die Verbindung von Silber- und Goldbrokat auf feurigem Farbengrund in Seide mit Pelz. Der ist immer weich und kappenartig, auch wenn der Hut breit ist, und wird dann mit Reiher oder Straußfeder geputzt. Originell sind die zahllosen weichen Kappen aus Brokat mit Pelz, mit Lack, mit Musselin oder aus grellfarbigem Panne, und die vielen legeren Wollkappen in den freudigsten Farben. Es wird gestickt und appliziert und gehäkelt, kurz, es tut sich sehr viel in der Hutbranche, und es ist kein Wunder, wenn die Moral von der angestachelten Sehnsucht nach diesen schönen Dingen etwas beiseitegedrängt wird.
Nie sah man so schöne und originelle Kostüme aus Stoffen, deren Oberfläche einen Hauch von in die Luft aufgelöster Farbe haben, mit minderwertigem, aber im Ton des Stoffes glänzend gefärbtem Pelz. Zumeist lang, weit, paletotartig mit Stehkragen, der oft mit einer Krawatte aus demselben Stoff gehalten wird, und Applizierungen aus Stoff- und Pelzstreifen zeigen sie viele neue und originelle Nuancen.
Ein Kapitel für sich wäre ein Bericht über die Wolljacken und -westen mit Schals und Mützen, die eine große Industrie geworden sind. Die Wolljacken sind Mäntel geworden, immer zweifarbig und sehr zärtlich bedacht von der Mode. Überhaupt es ist alles wieder da – ein Fläschchen Parfüm Houbigant kostet jedoch 2500 Kronen.
In: Moderne Welt, Unsere Pariser Modebeilage, Heft 9, 1920, S. 41f.
Ernst Fischer: Stadt im Licht (1928)
Lichtreklame.
Licht überschäumt die großen Boulevards mit roten, grünen, gelben und violetten Trunkenheiten, die Fassaden der Warenhäuser blühn durch die magische Nacht der Stadt wie ungeheure Orchideen, phantastische Lilien, abenteuerliche Magnolien, springen wie silberne Brunnen in den Himmel empor, leuchten wie Freudenfeuer über die Plätze hin. Tausende stehn und staunen, warten entzückt auf jede neue Verwandlung des riesigen Flammenspiels, genießen die ewige, alle Kreatur erfüllende Lust am Licht. Wie gern sie sich selber beschwindeln, die klugen, vernünftigen Menschen, wie gern sie sich selber beweisen wollen, das Zweckhafte, Nützliche, Rationelle sei es, was ihr Tun und ihr Schicksal bestimme: diese brennenden Blumen, diese funkelnden Fontänen, diese gigantischen Glanzgirlanden – alles nur Lichtreklame, alles nur maskiertes Geschäft, alles nur entfesselter Kommerz. Wirklich nicht mehr, wirklich nur ein wohlüberlegtes Manöver, um Käufer anzulocken, wirklich nicht das wunderliche Verlangen der Menschheit nach dem Pathetischen, Lodernden, Ueberflüssigen?
Gewiß: die Reklamechefs der Warenhäuser werden lang und breit den Beweis erbringen, daß diese großzügige und kostspielige Propaganda rentabel sei und die Kauflust steigere, und man wird sich das einreden lassen, man wird argumentieren, daß jeder Kaufmann sich hüten werde, so viel Geld zu investieren, ohne daß es sich lohnt. Ich bin kein Kaufmann, ich kann das nicht beurteilen, aber ich bin überzeugt, daß das eine Selbsttäuschung ist. Romantik, als Geschäftsinteresse kostümiert. Ich halte die Besitzer der großen Warenhäuser nicht für Romantiker, aber der Wille zur Prachtentfaltung, zur großen Gebärde, zur majestätischen Geste wirkt auch in ihnen und treibt sie in Experimente hinein, die kaufmännisch kaum zu rechtfertigen sind, verwandelt sie, ohne daß sie es wollen, in Mäzene, die verschwenderische Schauspiele geben, in Zauberer, die einen nächtlichen Platz mit orientalischen Märchen überschwemmen.
Die Technik wird zur Legende: man träumt in dieser Stadt, die von Lichtorkanen durchbraus ist, unter diesem Himmel, durchblutet von rote Reflexen, verwirrende Träume. Man verleiht sich in solchen Träumen die Macht eines Götersohnes [sic!] (der Reichtum eines amerikanischen Oelmagnaten genügt), um für eine geliebte Frau alle Boulevards, Avenuen und Plätze zu illuminieren, alle Türme in Flammenkonturen aufzulösen, die Stadt in ein Chaos von Sternen und und Rosen zu verwandeln. Lichtreklame für die Liebe, für die Seele, für jeden Herzschlag und für jeden Atemzug! Lichtreklame, Lichtreklame…! Wenn der Kapitalismus, die Konkurrenz der Warenhäuser zu solchem übermenschlichen Schauspiel sich steigert, in solchen Scheiterhaufen von allem Schmutz sich befreit, wie muß die Menschenseele lodern und leuchten in diesem wilden und ungestümen Jahrhundert, um die Menschen in einen heiligen Lichtrausch zu stürzen, emporzureißen!
Lichtreklame für die Seele…! Mitten unter den grellen Orchideen und riesigen Silberbrunnen hängt eine zarte und blasse Scheibe wie eine geisterhafte Frucht. Für welche Ware wirbt sie, für welche Firma schimmert sie so rührend// und schüchtern unter dem purpurnen Himmel? Die blasse Scheibe, die geisterhafte Frucht ist der Mond, der wirkliche Mond, der sich zwischen den strahlenden Bogenlampen verirrt hat.
Stimme der Seele.
Aber die Seele selber, die Seele von Paris, man sieht, man hört sie täglich in einem kleinen Theater. Sie ist eine Russin und heißt Madame Pitoëff: die Seele von Paris war immer eine Fremde, die an der Seine ihre Heimat gefunden und sich naturalisiert hat. Sie spielt in einem Stück, das, wie man sich am Theaterzettel überzeugt, nicht von Hans Müller, sondern von Lenormand ist1: eine Mutter, die für ihr Kind sich prostituiert, einen Mord begeht, an großen Diebstählen mitwirkt und allerhand Probleme in ihrem Busen birgt. Homosexuelle, Zuhälter, Verbrecherinnen geben ihre Philosophie zum besten, und die Erkenntnis, daß das Leben eine Mischung von Gut und Bös, von Seele und Leidenschaft, von Gott und Teufel ist, pocht auf ihre Originalität: sie gab dem Drama den Namen Mixture. Madame Pitoëff spielt in diesem effektvollen Stück die Tochter, das junge Mädel, für das die Mutter sich opfert, und man zittert, wenn sie die Hand bewegt, wenn sie den Mund öffnet, ist von Schauern, tiefster, körperloser Zärtlichkeit, intensivsten, melodischen Glücks bedrängt, hat im Hinterkopf ein merkwürdiges Kältegefühl – nur der Dämon der Musik wühlt so mit saugenden Lippen im Hirn, nur im Konzertsaal erlebt man manchmal diese beklemmende und beseligende Empfindung des Ausgetrunkenwerdens. Zart und zerbrechlich wirkt diese Schauspielerin, die ihrem Manne jährlich ein Kind gebiert, um einst eine Truppe der Familie Pitoëff zusammenstellen zu können, wie ein unerhört edles und dünnes Gefäß, das von Licht überfüllt ist, von dem sanften, grauen und starken Licht der Place de la Concorde, der Champs Elysees, der Boulevards, Licht, das in ihre Stimme quillt, das ihren Körper durchpulst, das von allen ihren Gebärden verschüttet wird.
Tiefste Erschütterung, wenn dieses schmale Geschöpf in unerwarteter Leidenschaft ausbricht, wenn sie mit eckiger und bezwingender Geste den Revolver gegen den Strolch erhebt, mit dem sie allein im kahlen Zimmer zurück blieb, wenn ihre Reinheit drohend und unbarmherzig wird und die Kraft eines Erzengels sie umpanzert, wenn sie, in der großen Szene des Dramas, der Mutter hell und unantastbar entgegentritt und die Freiheit ihres Lebens verteidigt. Kein Pathos, kein greller outrierter Ton, nur eine leise und liebenswerte Gewalt, eine Größe des Gefühls mit weich entbreiteten Schwingen, wenn sie der Mutter sagt: „Du willst dich an mir für die Opfer rächen, die du gebracht hast, du willst, daß es mir nicht besser gehe als es dir gegangen ist – aber ich will nicht, ich gebe mein Leben, mein Schicksal nicht preis.“ Und dann die Mutter, eine ausgezeichnete Schauspielerin, wie ein Granitblock der Schmerzen, der Qualen, und an ihren mächtigen mütterlichen Hüften hinabgleitend, unwirklich zart, unwirklich schmächtig wie ein versickernder Lichtstrahl, die Pitoëff – niemals vergißt man dieses Bild. Und niemals die melancholische Anmut der großen Künstlerin, niemals ihre wie aus wehenden Morgenwolken sickernde Lichtstimme.
Schauspiel im Freien.
Stundenlang schlenderst du über die abendlichen Boulevards, immer aufs neue verwundert, daß diese tausend und tausend Autos, diese tausend und tausend Menschen so glatt und geschmeidig aneinander vorübergleiten, daß dieser ungeheure Verkehr so wenig brutal, so höflich und liebenswürdig ist. Es hat geschneit, die Temperatur ist unter Null gesunken, aber auch die Kälte ist höflich und liebenswürdig und meidet barbarische Übertreibungen. Vor den Kaffeehäusern sitzen die Menschen im Freien, denn überall hat man große Füllöfen aufgestellt, die in dieser unwinterlichen Stadt für künstliche Frühlingswärme sorgen. Längs der Boulevards sind unzählige Buden aufgeschlagen, Buden, in denen man alles zu kaufen bekommt, was man sich wünschen kann: Strümpfe, Schuhe, Schals, Seidentücher, Manschettenknöpfe, Uhren, Puppen, Bücher, Majoliken, Zigarettenspitze, Kinderspielzeug, Lampen, Zuckerwaren, Taschenmesser, Parfümflakons, Teekessel, Landkarten und tausend närrische und übermütige Dinge. Das ist der große Weihnachts- und Neujahrsmarkt, der sich bunt und phantastisch entfaltet. Die Verkäufer und Verkäuferinnen sind Künstler, von denen viele Redner und Schauspieler lernen können: unermüdlich halten sie an die Vorbeieilenden formvollendete, witzige und pathetische Ansprachen, dichten sie ganze Romane, ganze Theaterstücke um die Waren, die sie feilbieten, erfinden sie Anekdoten, Legenden und Zaubergeschichten, um die fabelhaften und überirdischen Qualitäten des Gegenstandes, den sie in der Hand hochhalten, ins rechte Licht, in das jubelnde Licht des Boulevards zu rücken. Jede Bude ist ein kleines Theater, vor dem sich die Menschen ansammeln und auf die Zehenspitzen stellen, um alles zu sehen, alles zu hören; für die meisten ist das ein kostenloses Schauspiel, denn gekauft wird sehr wenig und die Verkäufer nehmen es keinem übel, wenn er sich hundert Dinge zeigen läßt, um endlich weiterzugehen, ohne einen Sou ausgegeben zu haben.
Andere fahren in Automobilen, in denen die Waren verstaut sind, durch die Straßen, lassen den Wagen irgendwo halten und beginnen in großer und farbiger Rhetorik über die Köpfe der Menge hin zu sprechen, und die Lust am gerundeten Wort, an der leidenschaftlichen Gebärde, an der geformten Sprache reißt sie hin. Wenn man einige Meter entfernt ist, meint man, ein Volkstribun fordere die Massen auf, Barrikaden zu bauen und für die Freiheit zu sterben – erst in der Nähe merkt man, daß nur ein armer Händler seine Puppen oder Krawatten oder Schuhputzmittel anbringen will. Einige Minuten lang hört man zu, dann wird man wieder fortgeschwemmt von dem weichen und elastischen Druck der lebendigen Welle; man fügt sich willig in den Rhythmus, fügt sich willig der Suggestion des Lichtes, steht auf einmal vor einem farbigen Glücksrad, das sich immerfort dreht, immerfort dreht (zwei Kilogramm Würfelzucker sind der Gewinn), wird auf einmal zu einem Schießstand hingespült, starrt auf einmal, eingekeilt in hundert Neugierige, in die glänzende Spiegelscheibe eines Warenhauses – und schlendert weiter, immer weiter, bis man fast betäubt ist vor Müdigkeit. Und plötzlich steigt wieder ein Springbrunnen silbern in den Himmel empor, blüht wieder maßlose Lichtreklame durch die Nacht.
Rote, grüne, gelbe, violette Sterne schmelzen über die Seine, tausend und tausend Glühwürmchen wirbeln über die Champs Elysees, über die Plâce de la Concorde, die Lichter der Automobile, summender, glitzernder Strom gewaltiger Lebensfülle, elektrische Flammen bäumen sich über die Dächer, der Himmel ist übersättigt von roten Reflexen. Stadt im Licht! Stadt im Licht!
Aber dort bei den Hallen, die wie eine gespenstische Drohung sind, liegt ein alter Mann, liegt eine Frau mit Kindern, liegen Menschen in Lampen auf Bänken und Pflastersteinen, um unter dem Winterhimmel zu schlafen.
In: Arbeiter-Zeitung, 8.1.1928, S. 7.
Moriz Scheyer: „Es.“ Drama in fünf Akten von Karl Schönherr (1922)
Zur Uraufführung im Deutschen Volkstheater.
Mit „Es“ hat Schönherrs Einsilbigkeit ihren Höhepunkt erreicht; zwei Personen: „er“ und „sie“ durch fünf Akte in einem und demselben Zimmer. Und dieses Zimmer – das Studierzimmer eines Arztes – entspricht ebenfalls dem einsilbigen Titel: in seiner kalten und unwohnlichen, nur auf das allernotwendigste konzentrierten Sachlichkeit, in seinem geflissentlichen Abbau jeder, auch der geringsten Behaglichkeit wirkt dieser Zweckraum durchaus wie ein geschlechtsloses Neutrum. Eine Sehenswürdigkeit ersten Ranges.
Und eine dramatische Kraftprobe ersten Ranges. Es gehört schon eine eiserne Hand und eine unglaubliche Oekonomie dazu, mit zwei Protagonisten und einer einzigen Dekoration, die obendrein seine ist, das Theater zu zwingen: während der drei ersten Akte wenigstens. In den beiden letzten freilich stemmt der herkulische Schönherr zuweilen die kolossalen Schwergewichte eines Pathos, das innerlich hohl klingt, und zum Schlusse zwingt das Theater seinen Bezwinger: da nimmt sich einer auf der Bühne das Leben, stirbt mit allen klinischen Symptomen einer Vergiftung, und im effektvollsten Augenblick erscheint noch die Frühlingssonne und tut ihre verklärende Schuldigkeit; nachdem drei Akte lang ein qualvolles und unversöhnliches Halbdunkel geherrscht hat. Aber die endlich hervorbrechende Sonne ist hier nicht wärmendes, leuchtendes Symbol einer Seele voll heimlichen, inneren Glanzes: sie wirkt lediglich als melodramatisches Rührungsrequisit.
Schönherrs Kraft ist zugleich auch seine Schwäche; mit derselben Wucht, mit der diese geniale, vor nichts zurückschreckende Gewaltnatur ihre zyklopischen Blöcke formt und schleudert, mit demselben Griff packt Schönherr oft ganz zarte und feine Dinge, und dann zerbrechen sie ihm hilflos zwischen den Fingern. Vorgefühle, dunkle und traumhafte Schwingungen löst er aus ihrer wunderlichen, lautlos horchenden Bezauberung und hebt sie unbarmherzig ans nüchterne Tageslicht. Es ist nicht immer gut, das Kind beim Namen zu nennen.
Vor uns auf der Bühne stehen und sprechen „er“ und „sie“; aber der eigentliche Held des Dramas ist das, was sich als Drittes unsichtbar zwischen die beiden stellt und hinter der Szene seine stumme Hauptrolle spielt: es, das Kind, das noch ungeborene, erst im Mutterleib keimende Kind.
„Er“, der Vater, ist ein junger und bereits sehr angesehener Arzt; in Wort und Schrift vertritt er leidenschaftlich die Theorie von der erblichen Belastung: daß kranke Menschen nur kranke Kinder in die Welt setzen können, kaum geboren und schon umwittert vom faulen Hauche der Verwerfung, und so weit soll es unter seiner Bedingung kommen dürfen. „Was krank ist, möge lieber nicht geboren werden.“ „Sie“, die blonde und tüchtige Frau, die früher Pflegerin auf des Gatten „Abteilung“ gewesen und dort die traurigsten Erfahrungen gesammelt hat, stimmt ihm rückhaltlos zu. Denn einmal sind die Frauen namhafter Gelehrter immer von deren Ueberzeugung durchdrungen, anderseits ist nichts leichter, als einer Theorie zu huldigen, solange sie in der Praxis au die anderen beschränkt bleibt. Auch der Kommunismus zum Beispiel ist eine Lieblingsidee begüterter Herrschaften geblieben, und von den sogenannten „Edelkommunisten“ verfügt fast ausnahmslos jeder neben seiner Gesinnung noch über ein entsprechendes Guthaben in Edelvaluta.
Kehren wir zu unserm Fall zurück. Dort werden „er“ und „sie“ eines Tages vor die praktische Probe auf ihre theoretischen Exempel gestellt: der junge Doktor konstatiert aus einer mikroskopischen Untersuchung, daß er von der Mutter her erblich mit hochgradiger Tuberkulose belastet ist, und die Frau wiederum entdeckt, daß sie Mutterfreuden entgegensieht. Daraus der Konflikt: „er“ will unter seinen Umständen an sich selbst zum Verräter werden; sein ganzes Lebenswerk, seine eigenen Tabellen und Statistiken und vor allem seine eigene Krankheit müßten wider ihn zeugen: das Kind darf nicht zur Welt kommen. „Sie“ wirft alle diese Argumente mit einer einzigen Handbewegung unter den Tisch. . . . Sie will ihr Kind, ganz einfach. Mag es krank sein, verkrüppelt, ja, mag es selbst frühzeitig sterben müssen.
Es ist etwas unsagbar Feierliches und Erhabenes um das ewige Urmysterium der Mütter; aber hier, wo es um ein Kind geht, das noch gar nicht da ist, wo ferner ein vom Tode gezeichneter Mensch sich nur der furchtbaren Verantwortung seiner eventuellen Nachkommenschaft gegenüber voll bewußt ist, hier ist der Mütterlichkeitsfanatismus dieser Frau von skrupelloser Selbstsucht nur schwer zu unterscheiden. Man möchte ihr zurufen: „Ja, siehst du denn nicht, das kranke, der zärtlich helfenden Mutterhände bedürftige Kind, das ist hier nicht „es“, ein Unbestimmtes, Ungeborenes, sondern „er“, dein Mann mit seinem armen, mitten entzweigebrochenen Leben.“
Durch einen chirurgischen Eingriff an der unfreiwillig narkotisierten Frau wird „es“ noch rechtzeitig von den gefährlichen Küsten des Daseins abgetrieben. Aber das Kind spielt selbst noch als Schatten unsichtbar weiter mit: es hat zwei Menschen einsam gemacht. Feindlich und lauernd stehen sich die beiden gegenüber.
Man kann sich des Gefühls nicht erwehren: diese Frau hat ihren Mann nie geliebt. Es ist besser so, daß er zugrunde gehen muß. Und es fällt einem das qualvolle Wort Strindbergs ein: „Das Schrecklichste ist, die Wertlosigkeit höchsten Glücks zu erkennen.“
Einmal glauben die beiden wieder einander gefunden zu haben. Aber es war nur der Trieb, der erbärmliche und verbissene Trieb, was ihre Körper in einer schwülen, selbstvergessenen Minute zusammenkuppelte, ohne Glanz und ohne Gnade. „Er“: verbrannt vom Sinnenhunger des Schwindflüchtigen, der sich noch mit letzter Gier an das entweichende Leben festsaugen möchte, „sie“: gepeinigt von dem gärenden Kräfteüberschuß des jungen, gesunden Weibes. Dann ist es zu Ende, für immer.
Dieses Ende wäre an sich schon tragisch genug; doch greift Schönherr zum Schlusse noch zu den krassesten Mitteln. Er läßt „ihn“ Gift schlucken; und nicht genug an dem: während der Unselige auf den Tod wartet, während er sich in Krämpfen windet, singt draußen eine frische, grausam unbekümmerte Stimme ein Kinderlied. Da weiß der Sterbende plötzlich, daß „sie“ nun zum zweitenmal Mutter werden soll, zum zweitenmal eine wurmstichige, lebensunfähige Frucht im Schoße trägt. Er ruft nach ihr, nach seiner Frau, verlangt Gegengift, noch wäre es Zeit, noch könnte er gerettet werden. Aber sie steht daneben, deklamiert ihm nochmals ihren ganzen Haß ins Gesicht und – läßt ihn ruhig sterben; weil sie Angst hat, er könnte zum zweitenmal seiner Pflicht als Vater und als Arzt nachkommen.
Heroismus? Mutterliebe? Nein; zum zweitenmal empfindet man: Rohheit, Unmenschlichkeit.
Obzwar die Höflich als „sie“ auf der Bühne steht; obzwar die prachtvolle Schauspielerin selbst im quälenden Dunkel noch ihr eigenes Licht auszustrahlen scheint, obzwar ihre Stimme selbst das härteste Wort noch zu der Milde und der Süßigkeit einer höheren Musik emporträgt. Wie einen kostbaren Mantel wirft die Höflich ihre Seele über die Blößen der Dichtung.
Herr Edthofer ist ihr Partner: ergreifend in Haltung, Geberde und Ton, von größter Einfachheit und Wahrheit in dem komplizierten Zerfetzungsprozeß eines immer rasender dem Tode entgegengaloppierenden Schicksals.
Nach jedem Akt – besonders nach dem dritten – rief starker Beifall die Darsteller und den Dichter; aber erst zum Schlusse erschien Schönherr, um den lauten Dank persönlich zu empfangen.
Schönherr hat uns da zu den Feiertagen einen mächtigen, imposanten Weihnachtsbaum beschert, mit vielen bewunderungswürdigen Ueberraschungen. Nur eines hat er vergessen: die Lichter. Die Lichter, diese kleinen, bescheidenen Dinger, und doch ist ihr frommer, demütiger Glanz Symbol für das reichste, beseligendste Geschenk, das von eines Menschen Herz zum Herz der Menschen kommen kann: die Liebe.
In: Neues Wiener Tagblatt, 27.12.1922, S. 2-3.
Fred Heller: Die Straße der Räusche. Ein Wiener Bild (1921)
Ein sagenhafter Weinkenner soll einmal behauptet haben, der richtige Weintrinker müsse die Sorte nicht nur im Glase und auf der Zunge erkennen, sondern auch an dem Rausch, den sie ihren Verehrern beigebracht hat. Leider ist uns kein Handlexikon der Räusche übermittelt, die interessante Systematik der Schwipse, Spitze und Affen muß jeder Interessent durch eigene Forschungen aufzustellen suchen, mit viel Fleiß und werktätigen Proben, und obzwar es an sehr eifrigen Kandidaten dieser Wissenschaft nie gefehlt hat, gelangt doch keiner zu den reinen Höhen ihrer Theorien, weil der beste Wein gerade an Hänge wächst und die Beine bergan stets schwerer wurden, je leichter es dem Forscher im Kopfe werden wollte. Der Wein läßt sich am wenigsten von seinen ergebensten Jüngern der Wahrheit ablauschen, die in ihm bekanntlich liegt. Mangels der unerläßlichen Weihe, die man nun einmal empfangen haben muß, um überhaupt in die Mysterien der Kräfte und Gewalten des heutigen Bacchuskultus tiefer einzudringen, scheinen aber die Nüchternen wieder selbst durch schärfste Beobachtungen auf die feineren Differenzierungen zwischen Rausch und Rausch niemals daraufzukommen, sonst könnte ich doch wenigstens schon einen Grinzinger oder einen Sieveringer Rausch von einem Nußdorfer unterscheiden.
Diese drei Gattungen treffen sich nämlich allabendlich auf dem Gürtel zwischen Heiligenstädterstraße und Nußdorferstraße, aus nächster Nähe beobachtet vom Auge Gottes, das dreieckige Strahlen aussendend, von den Schildern des bekannten Etablissements halb neidvoll, halb langmütig und allbarmherzig nach der Kreuzung hinübrsieht. Neidvoll, weil sich die Heurigen- und Biergäste aus Grinzing, Sievering und Nußdorf bereits so schwer beladen dem „Auge Gottes“ nahen, daß sie sich selbst von einem strahlenden Augenblinzeln nicht mehr von der Straßenbahnlinie weglocken lassen, die die gesammelte Bettschwere auf kürzestem Wege ins Bett bringen soll.
Um 9 Uhr abends beginnt da lebhafte Leben und Treiben auf der sonst so nüchternen Straße, die beinahe noch zur inneren Stadt und doch schon auch zu der minder gemäßigten Zone des Gürtels gehört, obwohl seit Menschengedenken an dieser Stelle noch niemand totgestochen oder nur auch ausgeraubt worden wäre. Es ist die sicherste Gürtelgegend, trotzdem oder weil sich hier so viele Räusche kreuzen, die sich, eben aus der Beengtheit der Straßenbahnwagen befreit, zum erstenmal und heftig Luft machen, ehe sie wiederum in einem Straßenbahnwagen verstaut werden sollen. Sobald sich, pünktlich zur Stunde des (seligen) Zapfenstreiches, die ersten schwankenden Gestalten nahen, nimmt an der Ecke der „Würstelmann“ Aufstellung, das heißt, er fährt auf wie eine Batterie. Der Würstelmann und die ersten Räusche vom Tage lassen einander nie im Stich, kein Rendezvous wurde je so pünktlich eingehalten. Bei ihm und im Straßenbahnwartehäuschen sammeln sich die Vorhuten aus Grinzing und Sievering, um dann in der Elektrischen auf die Nußdorfer zu stoßen, harmlose, heitere Geplänkel um ein paar Sitzplätze, von dem Gefühl enger Zusammengehörigkeit Wiener Landsleute mit Liebenswürdigkeit und Witz geschlagen. Die Leutchen, die schon so verhältnismäßig früh am Tag ihren Rausch abhaben, das sind die soliden Liebhaber eines guten Tropfens, treu, ehrlich und fleißig im täglichen Dienst ihrer Labung, die seit jeher so ganz zu ihrer Lebenseinteilung gehört, daß ein völliges Nüchternsein zu dieser Abendstunde geradezu eine Konfusion in ihrem Leben hervorrufen würde, daß sie sich vorkämen, als hätten sie einen Tag ein unerhörte Ausschweifung begangen, die ihr Wohlbefinden schwer stören müßte. Man sieht sie gern mit einem Lächeln an, hört sie erheitert räsonieren und ist ihnen gut wie Kindern, für deren Gesundheit es ein gutes Zeichen ist, wenn sie mäßig schlimm sind. Die Räusche zwischen 9 und 10 Uhr abends sind mäßige, bodenständige, echte Wiener Räusche. „Schweigl“ nennt man sie, glaube ich, und das klingt ebenso gemütlich wie die Weltanschauungsvorträge der ersten Heimkehrer aus Grinzing und Nußdorf, die den Optimismus predigen und selber Pessimisten nur dann sind, wenn das Bier schal, der Wein gewässert und der Heurige sauer ist.
Ich mag sie sehr gut leiden, sie sind mir sympathisch, die „Ang’stochenen“ zwischen neun und zehn, die das Maul, aber auch das Herz auf dem rechten Fleck haben. Was sich von Torschluß ab in der Straße der Räusche aus überfüllten Straßenbahnwagen herauskollert, hinausstößt und was hier abgeladen wird, das ist ein gar nicht so heiteres Nachtbild Wiens, so übermütig-lustig es sich auch gibt. Es sind die „feineren Leute“, auch „bessere“ genannt, Herren und Damen, Jünglinge und Mädchen, die abends nach Geschäftschluß und nach der Kenntnisnahme der Börsenkurse in die Heurigenschenken hinausgefahren sind, nicht um Wein zu trinken, sondern um sich mit Wein zu betrinken. Sie „mußten wieder einmal in Grinzing sein“, weil das jetzt so Sitte, mit seinem Mädel „auf einem Heurigen zu gehen“ oder draußen sein Mädel zu suchen und irgendeines zu finden. Aber auch junge Ehepaare, ältere und jüngere junge Ehepaare, machen gern so einen Ausreißer, hinaus zu zweien, herein oft zu dreien oder gar zu vieren, je nach der Höhe der „Gemütlichkeit“, die sich beim Wein entwickelt hat. Der Grad der Gemütlichkeit ist jedem Unbeteiligten auf der Straße bald klar, wenn nicht, wird sie ihm noch rasch vor dem Einsteigen klar gemacht. Eine Fülle von „humoristischen“ Einfällen tobt sich da an der Kreuzung der Räusche aus, die breite Straße bietet für die „weitausladenden“ Schritte wie für jederlei Ulk Raum und man tut gut daran, in weitem Bogen auszuweichen, wenn man „keinen Spaß versteht“. Diese Lärmmacher um des Lärmes wegen, das sind dieselben, deren Krawall schon so oft den Döblinger Spitälern Anlaß zu öffentlicher Klage gegeben hat, diese von ihrem Rausch berauschten, die sich in der Freude, einmal „ganz verfluchte Kerle“ zu sein, an Flegelhaftigkeiten nicht genug tun können – das sind die unsympathischen, ja widerlichen Betrunkenen, ihr Rausch ist bloß für Geld gekauft und ohne Genuß am Wein erworben, ihre Betrunkenheit ist sozusagen absichtlich und vorsätzlich erzeugtes Mittel zum Zweck. Grinzing und Sievering liefern das Hauptkontingent dieser Räusche, von Nußdorf kommen auch spät abends noch die biederden, rechtmäßigen, ehrlichen Räusche. Doch wenn die beiden aufeinanderstoßen! Aus dieser Kreuzung entwickeln sich keine gutlaunigen Geplänkel, das sind schon kleine Skandale, was sich in den überfüllten Straßenbahnwagen an wörtlichen, nicht selten auch tätlichen Beleidigungen abspielt, und man muß wirklich an den Schutzengel glauben, der angeblich jedem Betrunkenen beigegeben ist, anders hätte es schon zu den folgenschwersten Exzessen kommen müssen.
Allabendlich und allnächtlich rollt dieser Film in der Straße der Räusche ab, hier ist reichliche Gelegenheit, neuere Zeit und neuere Sitte zu studieren, die von 10 Uhr ab überhaupt [neu]ere Großstadtsitte ist. Da aber die „Heurigen“ eine Wiener Spezialität sind, werden die oft auch von Fremden beobachteten Bilder dieser Straße gern in das Wiener Album eingezeichnet, das die Ausländer dann nach Hause mitnehmen. Sie machen ebensowenig Unterschied zwischen Grinzinger, Sieveringer und Nußdorfer Räuschen wie zwischen einem Original Wiener Rausch und der arg verfälschten Nachahmung des Kost-er-was-er-kost-Rausches, dem die Weinsorte gleichgültig ist, wenn sie nur möglichst rasch in „Stimmung“ bringt.
In: Neues Wiener Journal, 7.8.1921, S. 9.
Fred Heller: Jazz-Dämmerung (1921)
Was „Jazz“ und was Shimmy ist, braucht man keinen Tänzer mehr zu sagen. Und Nichttänzer sind, seit der Foxtrott mit zu einem Souper gehört, keine voll zu nehmenden Menschen. Wie können sie sich beispielsweise jetzt in einem Kurort, draußen in der Sommerfrische erholen, wenn sie nicht allabendlich oder doch ein-, zweimal in der Woche ein bißchen trotten und steppen! Die Beherrschung der modernen amerikanischen Tänze ist längst ein Teil der allgemeinen Bildung. Ein allgemein gebildeter Mensch hat sich also natürlich auch bereits den „Jazz“ und den „Shimmy“ zu eigen gemacht, diese beiden letzten Importe aus Amerika, oder er ist zumindest fest entschlossen, spätestens im Herbst seine bislang noch theoretischen Kenntnisse, sein Wissen um die Geheimnisse menschlicher Gelenke, in praktisches Können umzusetzen. Aber ob es dann nicht schon zu spät sein wird? Zuverlässige amerikanische Berichterstatter malen einen Tanzteufel an die Wand, der nicht mehr nach vorgeschriebenen Rhythmen die Schultern verstauchen, den Leib verkrümmen und die Gliedmaßen aus ihren Scharnieren heben will. In Amerika bereitet sich nichts geringeres als eine Reaktion vor! Eine Reaktion im amerikanischen Tanz ist aber eine europäische Angelegenheit. Deshalb kann nichts früh genug die Aufmerksamkeit der Alten Welt auf die drohenden Anzeichen jenseits des großen Teiches hingelenkt werden.
Miß Albertina Rasch, eine junge Wienerin, die sich als erste Tänzerin drüben am Century Opera House, der Jahrhundertoper in New-York, ihren Namen gemacht hat, ist kürzlich in Wien zum Besuch ihrer Angehörigen eingetroffen und hat ganz besorgniserregende Nachrichten mitgebracht. Worüber spräche man denn auch in Wien zuerst mit einer amerikanischen Tanzkünstlerin? Vielleicht erfährt man gar als erster von einem ganz neuen Tanz und hat dann das Glück, ihn sich gleich zeigen lassen zu können.
„Ich komme über Paris, ich weiß alles“, lächelt Miß Rasch. „Europa, du hast es nicht besser! mußte ich denken, als ich den begeisterten Tanzkult sah, und wie ich höre, steht Wien durchaus nicht zurück. Nein, es gibt keine neueren Tänze als den Jazz und den Shimmy. Kann es denn überhaupt in dieser Beziehung noch „Moderneres“ geben? Man hat sich drüben den ersten Niggertanz, den Cake Walk, von idyllischen Festlichkeiten der Neger in die Ballsäle geholt. Das war noch ein wirklicher Tanz, ganz neuartig für unsere Begriffe und trotz oder wegen seiner exotischen Reize auch nach ästhetischen Begriffen eine Bereicherung der Gesellschaftstänze. Aber dann hat man angefangen, die Niggertänze aus den Nachtlokalen von San Francisco und New-Orleans zu beziehen, südamerikanischer Einfluß machte sich bemerkbar, und so ist der Nachfolger des argentinisches Tango und der brasilianischen Matchiche der Foxtrott geworden, eine Kreuzung etwa von One Step und Matchiche. Der Foxtrott kam dem amerikanischen Tänzer sehr entgegen, der ein ungemein ausgeprägtes rhythmisches Gefühl, aber gar kein melodisches Empfinden hat, daher auch eine Art Walzer mit synkopischer Taktform statt des echten Walzers tanzt. Es gibt kaum einen Amerikaner, der nicht Foxtrott tanzt und man tanzt ihn von früh bis nachts, in den Vergnügungslokalen genau so wie mittags in den Restaurants. Und es wird heute noch genau so gern Foxtrott getanzt wie vor einem Jahr, obwohl inzwischen der Jazz und der Shimmy modern geworden sind. Mit dem Jazz, der aus New-Orleans und Chicago eingeschleppt wurde, mit diesen, schon durch die dazugehörige Musik der Jazz-Banden unerträglichen gymnastischen Uebungen zum Lärm und Geräusch der unglaublichsten Instrumente ist man bereits von dem, was man noch Tanz nennen kann, abgekommen; der Gipfel der Geschmacksverrohung war dann gleich die nächste Novität, der Shimmy, ein Tanz, der nur aus der allgemeinen Verrohung durch den Krieg zu erklären ist. Wie hätten auch Kulturmenschen sonst an etwas Gefallen finden können, das die Roheit des rohesten Afrika ausdrückt. Und auch dieser Tanz ist von Europa übernommen worden!“
„Es ist unser letzter Schrei!“ bemerkte ich.
„Daß das sogar in Wien möglich ist!“ staunte die Amerikanerin aus Wien. „Die überschlanke Amerikanerin darf sich vielleicht noch solche Körperbewegungen erlauben. Aber schon die Pariserin fand ich im Jazz unmöglich. Doch selbst in Amerika beginnt man bereits von den allerneuesten Tanzschöpfungen abzuschwenken, man tanzt Shimmy und Jazz immer seltener, der Geschmack fängt sich an, umzubilden. Das Naserümpfen und die abfälligen Bemerkungen werden drüben in letzter Zeit häufiger. Die Verrohung, die auch drüben der Krieg mit sich gebracht hat, geht sichtlich auch im allgemeinen zurück, und so wird man auch von den wilden modernen Tänzen allmählich wieder zu sanfteren, legereren Linien zurückkehren!“
„Und der uns allen heilige Foxtrott?“
„Keine Sorge, der wird sicherlich noch lange herrschen, wenn er nicht überhaupt schon zum sogenannten „ewigen“ Bestand der Tanzkarte zu zählen ist, wie der Two Step und die nur augenblicklich in Vergessenheit geratene „Washington Post“. Es existiert ja in Amerika eine veritable Foxtrottindustrie. Fast täglich kommt ein neuer Foxtrott heraus. Eigene Musikverleger befassen sich mit dem Vertrieb, die Noten werden weithin gratis verteilt und in zwei Wochen kann das ganze Land jeden neuen Foxtrott. Die erfolgreichsten Komponisten sind dabei fast durchweg russische Juden, so zum Beispiel der populärste, der sich Irving Berlin nennt. Edison und ihn kennt jeder Mensch.
In allem Unglück also doch ein Trost: wir haben den Foxtrott zumindest nicht umsonst gelernt, wenn wir im heurigen Winter vielleicht schon den Jazz und den Shimmy wieder vergessen müssen. Daß es um diese beiden Negerstämmlinge besonders schade sein würde, wird wohl am wenigsten in Wien behauptet werden, wo wir als „Ersatz“ immerhin und schlimmstenfalls noch den Walzer haben.“
In: Neues Wiener Journal, 21.7.1921, S. 5.
Hugo von Hofmannsthal: Die Idee der Festspiele und das heurige Programm (1926)
Das Programm der der Salzburger Festspiele ist von Jahr zu Jahr immer bunter geworden, und es könnte die Frage entstehen, welche künstlerische Idee eine so bunte Darbietung zusammenhält. Wenn man auf unserem Programm eine Oper, die Hauptwerke Mozarts, ein Ballett von Gluck, die „Serva padrona“, Goldoni, Mysterienspiele, den Faust, Schillers Jugenddramen sieht, so könnte man fragen: Wo ist denn da noch das geistige Band? Und hier scheinen wir in bezug auf Formulierbarkeit sehr in der Hinterhand zu sein im Vergleich zu deutschen Festspielen auf der Wartburg, in Weimar, in Köln, in Düsseldorf, in München, wo überall nach einem Gesichtspunkte gespielt wird. Wenn ein Festspiel, wie Bayreuth, sich um das Lebenswerk eines Genius gruppiert, so hat es ein natürliches Programm und eine natürliche Zuhörerschaft, man könnte sie als Gemeinde bezeichnen. Was wir anstreben, ist durchaus nicht eine Gemeinde, sondern ein Publikum im weitesten und breitesten Sinne. Daraus ergibt sich deutlich, daß wir ein vielfältiges Programm machen müssen. Von Jahr zu Jahr wurden die Darbietungen immer reicher und bunter. Wo liegen nun die Grenzen? Die Grenzen scheinen mir weitergezogen als die des Repertoirs der höheren deutschen Bühne im allgemeinen, die ja eigentlich auf das Repertoire, auf die Nationalbühne als Schöpfung unserer Klassiker zurückgeht. Demgegenüber gab es aber doch in Wien etwas Aelteres, Weiteres und „Wirklicheres“. Das Wiener Theaterspiel, jene Buntheit der Wiener theatralischen Darbietung zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts: Burg, Vorstadttheater, Raimund, Nestroy, Kärntnerthortheater, dieses Wiener Theaterleben, das das unbeschreibliche Entzücken aller nach Wien kommenden höheren Bildungsmenschen hervorrief, und das eine vollkommene, naturgewachsene Einheit war mit tragischen und komischen Elementen in allen Mozart-Werken, mit volkstümlichen, dialektischen Elementen und hohen Stilelementen. Von diesem bayerisch-österreichischen, diesem süddeutschen Theatergeiste, dem einzigen, dem es innerhalb der deutschen Kultur überhaupt gibt, haben wir uns leiten lassen, und er bildet das unsichtbare geistige Haus, innerhalb dessen wir uns bewegen. […] Auch die „Fledermaus“ wird heuer nicht fehlen. Betrachten Sie, was wir Ihnen bieten, immer als ein Lebendiges, als Hindeutung auf jenen unerschöpflichen Theaterboden Salzburgs und nehmen Sie an, daß wir dort immer in einem gewissen Salzburg-Wiener Geiste zu spielen vorhaben und daß wir glauben, innerhalb der deutschen Gesamtkultur nichts Reineres geben zu können, als wenn wir unser Eigenstes geben. Wir wollen jenes Element deutschen Theaterwesens hervorkehren, ohne welches, ich getraue mich dies zu sagen, überhaupt nichts auf die Dauer Lebendiges auf deutschen Bühnen geschaffen worden ist.
In: Neue Freie Presse, 5.6.1926, S. 9f.
Fred Heller: Girl-Mast (1929)
Fred Heller: Girl-Mast.
Mit Zeichnungen von Alice Reischer
In London ist man draufgekommen, daß die Revuen auf zu dünnen Beinen stehen. Warum nimmt das Interesse ab?, fragte sich der Direktor. Weil die Girls abnehmen, gab er sich selbst zur Antwort. Und von dem Tag an nehmen seine Girls zu.
Das geht nicht bloß London an. Das ist ein Weltsymptom. Das geht an den Typ. Schlank soll nicht mehr mager, Girl soll nicht mehr verpatzter Jüngling heißen. Zuerst werden die Girls gemästet und dann – wo sind die Grenzen für das Schönheitsideal von morgen? Werden wir Orientalen? Wird Liebe nach Pfunden gemessen? Werden, je schmächtiger unser Budget, die Frauen um so üppiger werden?
Die Girlmast hat begonnen, die Manager stehen an der WageEine Wiener Wochenschrift. (1898-1925), Begr. u. Hg. von Rudolf Lothar (1898-1902, urspr. R. Spitzer), ferner von Ernst ... und kontrollieren die Gewichtszunahme. Es läppern sich Rundungen zusammen. Aus den weiblichen Boys werden richtige Frauen mit all den Reizen, die bisher wegmassiert werden mußten, abtrainiert, fortgehungert. Girls dürfen wieder Appetit haben und das Wort appetitlich gewinnt neue Bedeutung.
Ernst angesehen, bedeutet die Aufpäppelung der Girls einen Beginn der Wiedergesundung unter einem großen Teil der Frauen. Die „Linie“, also der Entfettung, der raschen Abmagerung und der ständigen Drosselung des Appetits haben viele ihre Gesundheit geopfert. Kein Fett, keine Ruhe, keine Kinder, hieß das drakonische Gesetz, das zu übertreten gerade die hübschen Frauen nicht zu verführen waren. Die schönen wurden nervös, sie hatten keine Zeit für Träume, sie legten gereizt jedes Wort auf die Wagschale, wie sie sich ängstlich wogen, so oft sie sich vergessen hatten. Jede Großmama wollte ein Girl sein, also aussehen wie ihr siebzehnjähriger Enkel. In den besseren Häusern wurde eine zweifache Diät gekocht, die Gnädige saß entweder im Entfettungsbad oder lag bei der Masseurin, stand irgendwo am Kopf oder rannte ihr Drei-Kilometer-Pensum ab – alles andere verlernte sie. Ich meine, das gemütliche Plaudern, die trauliche Pflege einer netten Freundschaft, das unbedenkliche Zeitverschwenden bei einer Tasse mit Bäckereien oder einem endlosen Souper. Die Frau war nicht für den Mann da, nicht einmal für sich, bloß für die Erhaltung ihres Untergewichtes. Kein Wunder, daß es in so vielen Ehen und in der Liebe so viele Unterbilanzen gab.
Darf man schon „gab“ sagen? Revuetheaterdirektoren haben ein empfindliches Gefühl für weibliche Angelegenheiten, die auch Männer interessieren. Wenn die Girls zunehmen, müssen alle jungen Frauen dem Beispiel folgen. Die Girls der Revuebühnen sind ja die jeweiligen Musterkollektionen der Modeneuheiten für den Männergeschmack. Sogar die Provinzler, die gelegentlich in die Großstadt kommen, vergleichen dann ihren Eigenbesitz mit den Revuegirls. Und natürlich werden die gemästeten Girls sehr auffällig ihre frischgezogenen Reize vorführen und besondere Kostüme werden die Gegenden, auf die es ankommt, heftig betonen. Vielleicht ist die neue üppigere Linie überhaupt nur eine Folge des neuen Zuges nach Bekleidung der Girls. Als nackt die große Mode war, kam es darauf an, bloß andeutungsweise zu erkennen zu geben, daß die lebenden Säulen und Kandelaber Frauen sind. Mit der zunehmenden Bekleidung der Girls mußte man auf die Idee kommen, daß man eigentlich erst mehr Bekleidungswertes schaffen mußte, denn die Kostümierung sollte doch eine Verhüllung darstellen. Was gab es zu verhüllen? So wenig, daß das Publikum im Parkett gar nicht auf seine Kosten kommen konnte. Aus dieser Untugend wurde die Not, und um dieser Not zu steuern, machte man die Revolution der Linie.
Wer will nicht mit in das revolutionäre Lager? Wer zögert? In wenigen Monaten kann es zu spät sein. Denn wer weiß, wie schwer es sein wird, die gewisse Mindestgrenze zu erreichen, nachdem man sich schon so an die zwei, drei mageren Jahre gewöhnt hatte und den Gürtel so eng geschnallt trug. Es muß sich eine neue Kunst herausbilden, die „Zunehmen“ heißt, damit nicht plötzlich ein allgemeines Wettmästen losgehe. Des Guten zuviel!, haben die Lateiner gesagt und die haben davon etwas verstanden.
In: Die Bühne (1929), H. 232, S. 29.
Jacques Hannak: „Mutterschaftszwang.“ (1919)
Jacques Hannak: „Mutterschaftszwang.“
In die von Parteileidenschaften, Hunger und Bitternis geschwängerte Atmosphäre unseres Gesellschaftslebens ist ein neues Schlagwort geschleudert worden, das an sich allein schon den Ton der Gehässigkeit zu charakterisieren vermag, mit dem ein jedenfalls sehr ernstes Problem von allgemeiner Kulturbedeutung behandelt wird. Hieß es vordem „Gebärstreik“ und bezeichnete damit immerhin die mehr subjektive, aktive Seite der Frage, so gibt uns das Wort „Mutterschaftszwang“ von vornherein den Begriff passiver, objektiver Einreihung in ein hoffnungsloses System mechanischer Notwendigkeiten.
So tritt man an ein Problem nicht heran, welches wie nur irgendein ganz großes Problem geeignet sein soll, uns den Sinn alles Lebens zu erschließen. Leidenschaftslose Beharrlichkeit allein kann erwarten, die spröde Materie zu meistern.
Die Schwierigkeit, vor der wir stehen, ergibt sich daraus, daß sich die Grundtatsachen des volkswirtschaftlichen Lebens mit Grundtatsachen des Seelenlebens kreuzen; der ökonomische Mensch gerät in Widerspruch mit dem psychischen Menschen, das Sein widerstreitet dem Bewußtsein, das Reich der Notwendigkeit fesselt das Reich der Frauen. Es sind zwei Sphären, die sich gegenseitig ausschließen, [der] Fehler der ganzen Betrachtungsweise bestand bisher darin, [von] der einen Schnittfläche auf die andere Sprünge zu machen, um je nach Bedarf, Idee und Erscheinung ineinander krempelnd, eines mit dem anderen „widerlegen“ zu können.
Der Tatbestand ist: dem Naturgesetz der Fortpflanzung und Vermehrung wird durch nationalökonomische Gesetze Einhalt getan. Da die Natur uns nicht auf die Lust zu verzichten gestattet, so richtet sich die Reagenz des nationalökonomischen Gesetzes nur auf die Folgen der Lust und schränkt nicht die Geschlechtlichkeit, sondern nur die Geburtenziffer ein. Der Klassenstaat aber, der nicht nur seine unterdrückten Klassen wirtschaftlich ausbeutet, sondern sie auch dazu verhalten will, ihm immer neue Generationen für neue Ausbeutung aus ihrer ausgemergelten Kraft heraus zu schaffen, also obendrein noch selber für die Verewigung ihrer Ausbeutung und Knechtschaft zu sorgen, der Klassenstaat, aus dessen Wesen das nationalökonomische Gesetz der Geburtenabnahme erfließt, erzwingt zugleich dem Widersinn eines papiernen Machtgesetzes von gegenteiliger Bedeutung Geltung, wonach die Unvermeidlichkeit des ökonomischen Gesetzes durch Strafsanktionen aufgehoben und beseitigt, das Gesetz mechanischer Kräfte also durch das bloße Menschenwort: „Ich will“ und just nur dadurch und schon dadurch in das Gegenteil gewendet werden soll. Wahrlich, der KampfGegründet im Okt. 1907, Wien bis H. 12/1933; ab H. 1/1934 vereinigt mit der Zs. Tribüne bis Mai 1938, Brünn/Brno; dan... Don Quichottes mit den Windmühlen. Aber noch mehr: hier erhält sich uns das absolut Unethische dieses Kampfes, dieses vermessenen Endgegenstemmens individuellen Wollens einer einzelnen herrschenden Menschenklasse gegen die Windmühlen des sozialen Naturgesetzes. Der Klassenstaat ist notwendig als eine Erscheinungsform der Geschichte der Gesellschaft, eine Erscheinungsform, ohne welche sich der Entwicklungsgedanke der menschlichen Kultur historisch gar nicht denken ließe. Der Klassenstaat ist auch nicht eine Erscheinungsform, die sich durch Utopien, Idealisten, Prediger und Menschheitsapostel einfach sofort in die klassenlose Gesellschaft des Sozialismus wegbekehren ließe, sondern er ist auch in dem Sinne eine notwendige Erscheinungsform, als er erst aus sich selbst heraus jene Elemente voll ausreifen lassen muß, die ihn schließlich überwinden und kraft der Entwicklung wie von selber in die erlösende Gesellschaftsordnung der Zukunft hinüberleiten. Nicht also die Existenz des Klassenstaates ist das Unethische, sondern erst jeder Versuch der Verewigung dieser Existenz, jeder Versuch, dem ewigen Werden das absolute Sein des gerade Bestehenden abtrotzen zu wollen. Das Trägheitsgesetz ist das Substantielle des Klassenstaates, und das ist das Unmoralische an ihm, weil es ihn notwendig in Widerspruch und Widersinn treibt und also auch alsbald logisch ins Unrecht setzt.
Solchen Widerspruch und Widersinn entdecken wir an der Struktur des kapitalistischen Klassenstaates auch in seiner Stellung zum Mutterschaftsproblem. Und zwar noch in einem viel tieferen Sinn als im eben angeführten. Das Problem der Mutterschaft aufstellen, heißt ein anderes Problem, das dem der Mutterschaft zugrunde liegt, vorwegnehmen, und dies andere Problem ist das Problem des Weibes, das Problem der Geschlechter. Das ist so selbstverständlich wie nur irgend etwas. Nicht so selbstverständlich aber ist es der kapitalistischen Produktionsära. Denn diese denkt an die Produktion, nicht an den Produzenten, an die Maschine, nicht an den Menschen, an die Geburt, nicht an die Gebärende, an das Objekt, nicht an das Subjekt. So wird ihr denn auch das Mutterschaftsproblem nur eine quantitative, mechanisch-ökonomische Sorge, nur ein Rechenexempel, nur ein Mittel zum Zweck, und sie hat nur Zeit, sich um [?] umzuschauen, aber nicht um die – Mutter. Daher erfließt ihr die [Qual/Radikal]ität des Mutterschaftsproblems nicht aus dem Verhältnis der Geschlechter, sondern aus dem Verhältnis von Lohn[arbeit] und Kapital. Freilich, die Frage: Mann-Weib ruht mit [Ueber]ewicht nicht auf dem juristischen Boden etwa der Frage, ob [Gleich]stellung oder Ueber- und Unterordnung von Mann und Weib, was schließlich auch noch die kapitalistische Gesellschaftsordnung irgendwie lösen könnte, sondern auf dem ethisch-sozialen Boden der Möglichkeit, Mann und Weib als Mann und Weib, ungetrübt durch wirtschaftliche und soziale Nöten, voll ausleben zu lassen. Das freilich kann uns nur der Sozialismus bringen. Weil aber diese Voraussetzung in der heutigen Gesellschaftsform fehlt und die Frau in gleicher Weise als Weib wie als Mutter nur im Dienste einer bloßen Warefunktion steht, kann die heutige Gesellschaftsform gar nicht grundsätzlich ethisch-kritisch zur Frage der Mutterschaft Stellung nehmen und begnügt sich denn auch mit der konstruktiven Dogmatik einer konventionellen Moral, eines Systems von Pflichten, die dem Beharrungsvermögen der herrschenden Klassen in der heutigen Gesellschaft Rechnung tragen sollen, aber, wie wir ausführten, eben dadurch mit dem Weltgesetz des Werdens in Konflikt geraten und an diesem Widerspruch zerschellen müssen.
Eine Moral, die für alle Menschen Geltung haben soll, muß einer solchen Gesellschaftsordnung entspringen, die vom Werkzeug wieder auf den Menschen zurückgeht, die nicht mehr den Menschen als Mittel betrachtet, sondern als alleinigen Zweck, die nicht mehr Menschen in den Dienst von anderen Menschen und alle zusammen in den Dienst ihrer eigenen Einrichtungen und Maschinen stellt, sondern die ganze Menschheit zur Herrin ihrer selbst, zur Herrin ihres freien Willens und zum höchsten Selbstzweck erhebt. Erst eine Zeit, in der alle Menschen leben können, wird Zeit haben, sich um das Tiefste des Menschen zu kümmern, um – ihn selbst! Das sind keine Neuigkeiten, sondern alte Erkenntnisse, aber sie erhalten eine neue Beleuchtung unter dem Gesichtspunkt des Geschlechtsproblems.
Wir können heute nur durch die Empirie und die induktive Methode Kenntnisse über das „Ursein“ des Verhältnisses Mann-Weib zu gewinnen trachten, ohne daß uns der Gegenbeweis der Deduktion zustatten käme. Denn die Geschlechtsbeziehungen werden heute nicht nur von innen heraus durch metaphysische Substanzen geregelt und gelenkt, sondern von außen her durch die Dynamik der sozialen Ordnung entscheidend umgebogen. Das Reich der Notwendigkeit springt ins Reich der Freiheit, und so wird denn Sozialismus schließlich der religiöse Kampf des Metaphysischen im Menschen, zu sich selbst zu gelangen durch die Ueberwindung der sozialen Fesseln. Die Befriedigung der sozialen, ökonomischen Lebensbedürfnisse muß aufhören, Problem zu sein und muß Selbstverständlichkeit werden, damit endlich der Mensch an sich ausschließliches Problem werde.
Auch die Idee des Erotischen kann erst zu voller Klarheit in einem Zeitalter gelangen, das die materielle Lebenswohlfahrt des Individuums als naturgegeben voraussetzt und nur die kulturelle Wohlfahrt der Menschheit als Aufgabe weist. Heute können wir uns auch hier nur an die Trübungen der Empirie der Klassengesellschaft halten.
Was scheidet, unabhängig von jeder sozialen Ordnung, Mann und Weib? Wedekind hat das einmal aphoristisch nicht übel ausgedrückt; der ungeheure Vorteil, den das Weib vor dem Manne voraus habe, sei daß es seinen Körper als Tauschobjekt zu Markte tragen könne, sein ungeheurer Nachteil gegenüber dem Manne, daß es gebären müsse. Schärfer und [konziser] noch hat Otto Weininger den Gedanken gefaßt und als das Essentielle und Funktionale des Weiblichen schlechthin Mutterschaft und Dirnentum bezeichnet. Ob das Wesen des Weibes darin erschöpft ist oder ihm noch andere Funktionen zugehören als die der reinen Geschlechtlichkeit, gehört hier nicht zur Debatte. Soviel ist jedenfalls sicher, daß die Mutter und die Dirne zwei ragende Pole weiblichen Seins bedeuten.
Wenn wir nun das Mütterliche als das Substantielle des Weiblichen erkannt haben, so gelangen wir erst vollends zu der Würdigung des Sprachungeheuers: „Mutterschaftszwang“. Das Weib wird also zu etwas gezwungen, was es, wenn und weil es Weib ist, ohnedies schon sein soll. Das Weib wird „gezwungen“, es selbst zu sein! Wenn es dazu gezwungen werden muß, so müsse offenbar Hindernisse da sein, die ihm die funktionelle Erfüllung seines ureigentlichen Wesens verwehren. Wir haben diese verwehrenden Hindernisse als das nationalökonomische Gesetz der Ausbeutung kennen gelernt. Der Mechanismus eherner Wirtschaftsgesetze, der zwangsläufige Gang der sozialen Entwicklung, die historischen Kategorien der verschiedenen Formen von Klassenherrschaften gebären aus sich heraus die Widerstände gegen die apriorischen Naturbedingungen der menschlichen Existenz, und da auf diese Naturbedingungen doch nicht einfach verzichtet werden kann, müssen sie auf irgendeinem Wege wieder künstlich „eingeführt“ werden. Die organische Geltung der Natur wird durch den Tort einer überlebten ökonomischen Epoche vergewaltigt und darnach durch einen trägen Mechanismus menschlicher, allzu menschlicher Einrichtungen wieder notdürftig zusammengeflickt. Das Funktionale des Weibes, seine Mutterschaft, wird durch den Prozeß des ökonomischen Ausbeuterverhältnisses beeinträchtigt und durch eben denselben Prozeß der Ausbeutung hernach mechanisch mit „Strafgesetzen“ einfach wieder „angeordnet“. Hier ist der Punkt, wo der Sprung aus der einen Schnittfläche in die andere erfolgt, hier entspringt die Verwirrung, die ratlos vor der „Unmoral“ des sich selbst nicht mehr getreuen Weibes und der ewigen Naturgesetzlichkeit mit armseligen papierenen Normen zu Hilfe zu eilen sich vermißt. Die gemarterte Natur aber läßt sich ihren Weg nicht durch Bürokratien und Strafgesetze weisen, sie sammelt sich in den unterirdischen Kanälen der bedrückten, ausgebeuteten, um ihr Naturrecht betrogenen Massen und vollzieht in den sozialen Revolutionen den Prozeß ihrer Selbstbefreiung.
Daß es ein Wort wie „Mutterschaftszwang“ gibt, spricht schon das Urteil über die Wirtschaftsepoche, in der wir leben. Ein Weib zwingen, Weib zu sein, das hat der Teufel dem Kapitalismus eingegeben. Was aber für die Arbeiterschaft das Entscheidende ist, ist nicht so sehr die Geltung oder Aufhebung eines Gesetzesparagraphen, als vielmehr die Erkenntnis der Unnatur des ganzen geltenden Gesellschaftssystems, in dem jener Paragraph nur eine symptomatische Erscheinung ist. Im einzelnen Paragraphen die Kulturwidrigkeit des Ganzen der bürgerlichen Ordnung erkenne, im täglichen Kampf ums Einzelne sich nicht bloß als Reformer und Verbesserer des Seienden fühlen, sondern darüber hinaus den revolutionären Enthusiasmus empfangen, daß wir berufen sind, der Menschheit den Weg aus dem Naturwidrigen zum Naturgemäßen zu weisen, dazu ist auch die Erörterung der Frage des „Mutterschaftszwanges“ ein willkommener Anlaß. Das Schicksal dieser einen Strafgesetznorm wird nicht viel an dem allgemeinen Schicksal der Arbeiterklasse ändern, aber die Aufhellung des Klassencharakters dieser Norm die Beleuchtung ihrer Kulturwidrigkeit ist von der belehrendsten Wirksamkeit und verdient daher eine nach allen Seiten hin gründliche Betrachtung.
In: Der Kampf (1919), H. 39, S. 843-846.
Fritz Karpfen: Die Österreichische Kunstaustellung in Rom (1925)
Fritz Karpfen: Die Österreichische Kunstaustellung in Rom
Max Oppenheimers „Orchester“ – Der Wiener Faistauner-Gobelin
Die diesjährige „Biennale romana“, besonders feierlich eröffnet und veranstaltet, da das Heilige Jahr in Rom gefeiert wird, umfaßt die Kunstwerke von sieben Nationen. Im grandiosen Ausstellungspalaste in der Via nationale[recte: nazionale] sind alle Räume bis an die Decke hinauf mit Kunstwerken angefüllt, und zum ersten Male nach dem Kriege stellt auch Österreich in dieser größten aller modernen internationalen Kunstaustellungen aus. Der Wiener Bildhauer Gustinus Ambrosi wurde zum Kommissär für Österreich ernannt, er lud die prominentesten österreichischen Künstler ein – die Folge war ein beispielloses Quertreiben von seiten der verzopften Herrn, die es nicht verwinden konnten, daß das Ausland tatsächlich die modernen österreichischen Kunstwerke zur Ansicht bekommen sollte. Schließlich aber siegte doch die eiserne Zähigkeit Ambrosis, die österreichische Abteilung zählt zu den sehenswertesten der ganzen Ausstellung, und Ambrosi erhielt als Ausdruck der Anerkennung für seine Arbeit das Komturkreuz am rot-weiß-roten Bande, mit dem Titel eines Commendatore della corona d’italia ….
In drei Sälen sind die österreichischen Kunstwerke zur Schau gestellt. Das große Freskobild Max Oppenheimers (Mopp) „Orchester“dominiert und kommt zu einer ungeahnten Wirkung. Es ist vielleicht das auffallendste Werk der ganzen Ausstellung, sicherlich aber das interessanteste. Anton Faistauer stellt zwei Entwürfe zur Morzger Kirche aus und die Wiener Gobelin-Manufaktur hat seinen Gobelin dazu gehängt. Faistauer und Mopp, zwei Gegensätze, wie man sie sich nicht krasser vorstellen kann, sind heute wohl, trotzdem, die beiden hervorragendsten österreichischen Maler…
Egge Sturm-Skrla hat eine Reihe von Porträts ausgestellt, einige Landschaftsbilder und graphische Arbeiten. Alfons Walde ist mit schönen Winterbildern und einem guten Porträt Alfons Petzolds vertreten, F. A. Harta sandte eines seiner besten Bilder, Paris Gütersloh, Robert Philippi, Kitt und Dobrowsky, Böhler, Schütt, Kubin, Zülow, Lang hängen in guter Beleuchtung mit hier schon bekannten Arbeiten. Eine Sonderschau der beiden toten Meister Klimt und Schiele rundet das Gesamtbild der österreichischen Malerei harmonisch ab. Der Opfernde Abel, eine monumentale Bronzestatue Gustinus Ambrosis sieht im optischen Mittelpunkt der Ausstellung, seine fabelhafte Büste Mussolinis erregt das Aufsehen aller Besucher, und seine Arbeit Der Mann mit dem gebrochenen Genick gehört heute schon zum europäischen Kunstbesitz. Auch Wilhelm Frass ist mit einer ganz ausgezeichneten lebensgroßen Bildhauerarbeit vertreten: Der sterbende Krieger. Prof. Barwig hat einige kleinere meisterhafte Skulpturen ausgestellt und Bildhauer Josephu einige Akte.
Schließlich muß noch die Wiener-Gobelin-Manufaktur erwähnt werden, die den Ruf Österreichs im Auslande um vieles besser hebt, wie die fragwürdigen regierungsamtlichen Versicherungen. Und das ist ja auch der Weg ins Freie, der einzige, der für uns gangbar ist: Durch unsere Kunst die verloren gegangenen Pfade wieder aufzusuchen, durch die Werke unserer lebenden Künstler der Welt zuzurufen: Wir sind!“
In: Die Bühne (1925), H. 25, S. 29.
Schlagworte: Kunstausstellung, Gustinus Ambrosi, Max Oppenheimer, Anton Faistauer