Richard von Schaukal: Zuchtlose Jugend und ihre Schriftstellerei (1926)

Richard von Schaukal: Zuchtlose Jugend und ihre Schriftstellerei

Man liest immer wieder in jüdischen Blättern, daß eine neue Jugend entstanden sei, die sich insbesondere mit dem überkommenen Verhältnis der Kinder zu den Eltern auf ihre zeitgemäße Weise auseinandersetze. Selbstbewusst, um nicht zu sagen aufdringlich, verkündigt denn auch, von den Schriftleitungen dazu aufgefordert, der und jener Vertreter dieser ›neuen Jugend‹, meist irgendein achtzehnjähriger Verfasser eines der trotz Misserfolgen im einzelnen stets als Gattung beliebten brünstigen ›Entwicklungstheaterstücke‹, seine höchst unliebsamen Anschauungen über die Ansprüche seiner Altersgenossen auf unbedingte Freiheit usw. Es melden sich dann auch unterweilen die nichts weniger als ehrwürdigen Erzeuger jener wortreichen Verfechter des Umsturzes ihrerseits in denselben Blättern zu Wort – in den illustrierten erotischen Magazinen1 fügt der rührige Verlag die willkommenen Bildnisse von Vater und Sohn  bei – und orakeln resigniert über den Umschwung der Zeiten und die auf dem Gebiete des sogenannten Familienlebens bevorstehenden sensationellen Ereignisse. 

Ob derlei Ergüsse ihren Lesern ebenso ekelhaft sind, wie dem, der wider Willen darauf stößt und nicht umhin kann, einen angewiderten Blick in diese ›Dokumente der Zeit‹ zu tun, ist zweifelhaft, vielmehr kaum anzunehmen, jedenfalls, wenn nicht gleichgültig, doch insofern nicht eben belangvoll als ›Leser‹ solcher ›Literatur‹ ihren Geschmack mit sich selbst abmachen mögen; aber was einmal mit aller Entschiedenheit gesagt werden muß, ist, daß in dieser ganzen Diskussion zwischen ›neuer Jugend‹ und zurechtgewiesener, aber einsichtig-verzichtender Elternschaft sich nur ein Kapitel von privater Armseligkeit [gesperrt gedr. im Orig.] zu maßgebender Bedeutung aufspielt. Mögen die Familien, um die es sich hier handelt – sie sind alle irgendwie mit der herrschenden jüdischen Literatur unauflöslich verwoben – ihre Erfahrungen als Heilsbotschaft oder unentrinnbares Gesetz des Fortschrittes verkünden: es gibt anderswo immer noch wohlgeborene und wohlerzogene Kinder bis fünfundzwanzig und mehr Jahren, die nicht im entferntesten jenen Radaumachern gleichen, sondern bei aller Begabung, allem Scharfsinn, aller Urteilsfähigkeit im Verhältnis zu ihren achtbaren Eltern die uralte kindermäßige Zucht und Sitte als ein selbstverständliches Gut schöner und reiner Seelen in Liebe und Selbstachtung hegen und pflegen und hüten werden, solange es die Klasse – nicht Generation – der unmündigen Kinoschauspieler und Nackttänzerinnen, die freilich eine schmachvolle Last für die mühsam um ihr Dasein kämpfende ›alte‹ Gesellschaft bedeuten, nicht dazu gebracht haben wird, daß die Venus vulgoviva als Staatsgöttin verehrt werden muß.

In: Schönere Zukunft, Nr. 50, 19.9.1926, S. 1230.


  1. Vermutlich eine Anspielung auf Hugo Bettauers Wochenschrift Er und Sie. Wochenschrift für Lebenskultur und Erotik.