Ludwig Hirschfeld: 10 Uhr vorbei. Zwei Kapitel aus einem Haustorschlüsselroman (1921)

Ludwig Hirschfeld: 10 Uhr vorbei. Zwei Kapitel aus einem Haustorschlüsselroman

Erstes Kapitel.

            Es war im Jahre 1911, an einem jener milden Wiener Herbstabende, die meistens so unangenehm naßkalt sind. […]

Vorletztes Kapitel.

            Seitdem waren zehn Jahre vergangen. Eine neue Zeitrechnung hatte begonnen, bei der niemand auf seine Rechnung kam. Auch das große Zinshaus in der kleinen Seitengasse hatte daran glauben müssen. Es sah jetzt verwahrlost aus, wie jemand, der einst bessere Tage und reinere Wäsche gesehen hat. Aber noch immer war Herr Dolleisch „Portiehr“ und Hausbesorger, freilich nicht mehr so mächtig und gefürchtet, weil ja dieser Zeit gar nichts mehr heilig war, nicht einmal der Hausmeister. Heute, am 1. November, stand ihm ein besonders demütigender Gang bevor. Er mußte die Parteien befragen, ob und in welchem Ausmaße sie von der Beteilung mit Haustorschlüsseln Gebrauch machen wollten. Herrn Dolleisch war dabei zumute, wie einem depossedierten Tyrannen, der zum Hohne selbst seinen Untergebenen die Mitteilung von seiner Entthronung machen muß. Er begann seinen Rundgang im ersten Stock bei den angesehensten Parteien des Hauses – also beim Herrn Hofrat und beim Privatier Obermayer? Nein, lieber Leser, was fällt dir ein. In diesem Kapitel schreiben wir ja schon 1921 und folglich wohnte in der Hofratswohnung seit Jahr und Tag Herr Powondra, der den Greisler längst überwunden hatte, nicht mehr mit Eßwaren, sondern mit Lebensmitteln handelte, natürlich waggonweise, loko, noch lieber transit. Mit einem tiefempfundenen „Küss’ die Hand“, brachte Herr Dolleisch seine Anfrage vor, worauf die gnädige Frau sofort fünf Haustorschlüssel bestellte, davon einen für Fräulein Fanny, die ehemalige Hofratsköchin, die sich mittlerweile zu einer selbstbewußten, großartig frisierten und heftig umworbenen Hausgehilfin entwickelt hatte. Den gleich großen Haustorschlüsselbedarf hatte die gegenüber wohnende Familie des Tailors Aujeszky, denn beide Familien kommen von Drahrereien oft spät nach Hause, natürlich im Auto. Und wie stand es mit Alfred, dem leichtsinnigen jungen Privatbeamten? „Mein lieber Herr Dolleisch,“ achselzuckte er trübe, „die Rendezvous haben sich längst aufgehört, das kann sich ein Privatangestellter nicht leisten. Die Anny hat jetzt einen Generaldirektor und die heutigen Mädeln gehen überhaupt nur mit Schiebern. Ich bin froh, wenn ich mir selber hie und da ein warmes Nachtmahl zahlen kann.“ Schließlich stieg Herr Dolleisch noch zum Hofrat Danzinger und zum Privatier Obermayer hinauf. Die Beiden waren in den letzten Jahren um die Werte heruntergekommen, bis in den vierten Stock hinauf. Bei beiden roch es im Vorzimmer minderbemittelt nach Kohl und Kraut, hingen schäbige Röcke und Hüte an der Wand, beide entschuldigten sich höflich bei Herrn Dolleisch, daß sie keinerlei Verwendung für eigene Haustorschlüssel hätten: „150 Kronen, das kann ich mir nicht leisten. Wir gehen ohnehin nach zehn nicht mehr aus. Zu Hause bleiben ist noch das billigste.“ Was Dolleisch später zu folgender Bemerkung seiner Gattin gegenüber veranlaßte: „Wann mir nur dö zwa Hungerleider schon draußd hätt’n. Der ausg’franzte Hofrat und der Obermayer, der nix hat wie seine paar Netsch, dö san direkt a Schand für a besseres Haus . . . .“ Den ersten Schlüssel erhielt Fräulein Fanny ausgefolgt, die sich in der nächsten Sonntagnacht von einem sehr feinen jungen Mann begleiten und von ihm das Haustor aufsperren ließ. Am anderen Tag konnte man in der Zeitung lesen: „Gestern haben sich wieder 45 Wohnungseinbrüche ereignet.“ (Fortsetzung folgt.)

*          *

*

            Was zwischen diesen beiden Kapiteln geschieht und wie der Roman ausgeht, davon hat der Verfasser keine Ahnung. Das Manuskript ist ihm nämlich glücklicherweise irgendwie abhanden gekommen, vielleicht auch gestohlen worden, denn er hat schon während des Schreibens den Eindruck gehabt: der Roman kann mir gestohlen werden. Der redliche Dieb wird dringen gebeten, das Manuskript, eine große Menge von gutem Papier, in der Banknotenpresse abzuliefern, denn mehr ist der Roman ohnehin nicht wert.

In: Neue Freie Presse, 06.11.1921, S. 10-11.