Otto Koenig: Annette. Oder alles verkehrt (1920)

Otto Koenig: Annette. Oder alles verkehrt

Theodor Tagger gehört zur Gilde derer, die mit brennender Sehnsucht das geistig Gute suchen, auf die Art, wie das zur Flagellantenzeit im Mittelalter Mode war. Er und seine Genossen, Wolfenstein, Sternheim, Kornfeld sind besessen davon, besessene Menschen zu schildern. Tagger tut dieses etwas weniger tragisch und etwas mehr konventionell als jene. Die äußerlichen Zeichen der inneren glühenden Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen sind bei Tagger ebenso konsequent ausgedrückt wie bei seinen expressionistischen Brüdern in Apell. Aber sie bleiben in einfacher Veränderung der Wortfolge (Inversion) etwas gar zu äußerlich. – Und dann, daß Tagger sein Problem niemals rein tragisch, sondern grimmig ironisch fasst.  Der Zyklus seiner Komödien, vom Untergang der Welt „1920“ umfasst bisher zwei Komödien, welche beide im innersten Kern tragisch sind: „Harry“ und „Annette“. In beiden Komödien will der Autor, dessen Losungswort mit Leonhard Frank ja doch ist: „Der Mensch ist gut!“, seine ungeheure Empörung über die im Spekulations- und Geldschwindel aufgehende Ethik des „bürgerlich gesinnten“ Weltpöbels dartun. Wenn nun auch das Volkstheater in den Kammerspielen uns einstweilen nur die zweite, leichter spielbare Komödie dieses Zyklus, nämlich „Annette“, bietet, so ist es bei dem Ruf dieses Ensembles eine selbstverständliche Forderung, daß diese Komödie, welche die in Erotik schwindelhaft arbeitende Weibsfigur der Annette vom Dienstmädchen bis zur Gönnerin und Geberin eines Künstlers „hebt“, auch mit jener grimmigen Satire, mit jenem Sarkasmus gespielt wird, welcher einen unentbehrlichen Bestandteil der Kunst bildet, die Tagger und seine Genossen verteidigen. Das war nun nicht der Fall. Das wurde in den Kammerspielen, weil die Rechnung auf eine Vorstellungsreihe vor Schiebern geht, nicht berücksichtigt. So wurde der Dichter ad absurdum geführt. Nur im letzten Akt merkte man Spuren der Absicht. Wir haben eine Posse gesehen, die allerdings verschiedene Längen des Stückes wohltätig deckt, aber die auch Taggers Werk innewohnende Tendenz „Mensch sei gut“ ins Komische verzerrt. Es handelt sich darum, dass Annette durch rein körperliche Liebe und durch eine dem gegenwärtigen Schwindelgeist angemessene couragierte Pfiffigkeit zur Siegerin wird über alle, die ebenso denken, aber auch über einen, der anders dachte und fühlte. Das ist bitter höhnisch gemeint, aber kompromißlerisch süß gebracht. Denn die Regie scheint vorgezogen zu haben, den etwas überstiegen ideologischen Künstler mit sämtlichen Personen des Werkes in eine Sphäre zu ziehen mit dem Publikum, das sie aus Kassegründen erwartet. Aus Gründen der dramatischen Technik ist es nicht möglich, daß dieser Musiker Messerschmied von vornherein als ein „Schwindler“ gezeigt wird, sondern es ist notwendig, zu zeigen, daß auch er durch seine materielle Schwäche dem Schwindelgeist erliegen muß, der augenblicklich erfolgreich ist. Ein Schein dieser ernsten Tendenz ergab sich, wie gesagt, erst im letzten Akt, der auch darum in der Erstaufführung nur spärlich beklatscht wurde. Es ist nicht angenehm, im wohlbezahlten Parkett zu sitzen und über sich eine brennende Strafpredigt ergehen zu lassen. Das mag sein. Es ist aber auch nicht fein, ein Stück zu verzerren ausschließlich zum Genuss eines Publikums, das kaum noch eines Genusses fähig und lange nicht mehr eines Genusses wert ist. Nach „Wetterstein“ haben wir die praktische Umwertung aller literarischen Werte in den Kammerspielen nun zum zweitenmal erlebt.  „Annette“ ist ein Stück, das sich in geeigneter Darstellung sehr wohl eignet, unseren Arbeitern gezeigt zu werden als ein Dokument sozialen Gewissens inmitten universaler Gewissenlosigkeit. In geeigneter Darstellung! – In der gebotenen Aufführung hat sich Traute Carlsen mit einem ungeheuren Aufwand von Raffinement in jeder der von der Rolle diktierten raffinierten Szenen verdient gemacht. Hans Ziegler wird mit einer unübertrefflichen Wahrscheinlichkeit in der Darstellung von unbesinnten Geschäftsjuden noch ein eigenes Rollenfach begründen. Karl Göß leistete sich im expressionistischen Drama, bewusst Komödie genannt, eine höchst naturalistische Darstellung. Das Anlügen des zermürbten Greises war veristisch unübertrefflich. Der Darsteller ist aber damit jenem Stil nicht näher gekommen, den der Autor für sein Werk wünschen muß. Ja, man kann ja auch jenseits des Autors spielen! Und so machten es alle anderen auch. Alle anderen, die possenhaft ganz famos spielen! Am erfolgreichsten Herr Aurel Nowotny, der die Kernrolle mit Geschick ins Gegenteil verkehrte. Der Beifall war, nachdem das Publikum mit Ausnahme der zu Kompromissen geneigten Literaten mit gutem Grunde davon überzeugt sein konnte, daß man nicht Ernst macht, imposant.

In: Arbeiter-Zeitung, 19.12.1920, S. 7.