Robert Neumann: Mädchen wohin? (1933)
Robert Neumann: Mädchen wohin?
Es geht hier um Frauenliteratur – und dieses Thema ist von vornherein einigermaßen heikel. Denn man riskiert, sich die Sympathien breiter Kreise, besonders weiblicher Leserschaft zu verscherzen, wenn man offen bekennt, daß man die gemeinhin von Frauen produzierte Literatur, ein Halbdutzend weltliterarischer Ausnahmen ausgenommen, bei allem Wohlwollen doch nicht als ganz vollwertig anzuerkennen vermag. Gott helfe mir, ich kann nicht anders. (Und er Mann, der mir nicht beistimmt, ist mir verdächtig.)
So hätte man es mit seiner Meinungsbildung leicht – begänne nicht eben hier erst das eigentliche Problem. Denn das negative literarische Urteil hat seine Kehrseite: Sind die Frauenbücher (von jenen sechs oder in Gottesnamen zwölf Ausnahmen immer abgesehen) „literarisch“ unerheblich – sie sind um so erheblicher als Dokument. Ich glaube, die Frau ist in einer tieferen Schicht phantasielos. Auch als Lügnerin phantasiert sie nicht, sondern sie
kombiniert nur reale Gegebenheiten – will sagen: sie ist eine gute Lügnerin, denn sie lügt plausibel. Mit anderen Worten: sie ist nicht produktiv. Zwingt man sie (oder zwingt sie sich), produktiv zu sein, das heißt schreibt sie etwa einen Roman, so surrogiert sie, gute Lügnerin und schlechte Dichterin, die sie ist, „Erphantisiertes“ durch Erlebtes (oder Erträumtes, was auf dasselbe hinausläuft). Und man wird, auch ohne Psychoanalytiker zu sein, jenseits aller literarischen Betrachtung die Existenzberechtigung der Frauenliteratur damit als gegeben erachten. Sie ist d a s document humain, das uns gemeinhin ohne Ohrenbeichte oder psychotherapeutisches Studio zur Verfügung steht.
Habe ich gesagt: Dokument? Dann wollen wir die Sache noch von einer anderen Seite ansehen. Es gibt stofflich und es gibt formal orientierte Epochen, und man muß weder spielerisch veranlagt, noch ein Aesthet, noch auch ein Mystiker sein, um eine gewisse Periodizität dieser Schwankungen zwischen Stoff und Form in der Geistesgeschichte, also auch in der Literaturgeschichte der letzten zwei Jahrtausende herauszuspüren. Jedenfalls: unsere Zeit ist (im Gegensatz zum Beispiel zum Aesthetizismus der Vorkriegsperiode) eine typische „Stoffzeit“. Primitiv gesprochen: sie würgt an ihrem Stofferlebnis (Krieg-Nachkrieg) und kommt damit nicht an den Rand. Nun hat aber jeder Produktive außer seiner „poetischen“, seiner „ewigen“ Aufgabe auch eine zeitliche: Zeugnis abzulegen, Zeuge zu sein. Als jener Poet Plinius Zeuge des Unterganges der Stadt Pompeji wurde, schrieb er zunächst einmal nicht Lyrik, sondern den Untergang der Stadt Pompeji. Aus ganz verwandten Gründen kommt es in unserem Weltuntergang, in unserer Stoffzeit zu einer nie gekannten Blüte der Dokumentenliteratur. (Die, reaktiv, schon wieder eine neue Romantik hervorbringt; worüber einiges zu sagen wäre.)
Jedenfalls also : Dokumentenliteratur als Forderung dieser Zeit. Wie findet sich die zum Schreiben aufgerufene (oder sich aufrufende) Frau mit dieser Forderung ab? Stimmen die früher aufgestellten Formulierungen, so befindet sie sich während solch einer Stoffzeit in ihrer künstlerischen Realsituation. Denn ist ihre Produktion erkannt worden als dokumentarisch in sich – hier begegnet dieses artistische Frauendichtungsdokument ausnahmsweise, legitim und ohne jeden surrogierenden Umweg, der dokumentarischen Forderung der Epoche. Anders ausgedrückt: Wenn Frauenliteratur überhaupt jemals sinnvoll und existenzberechtigt sein kann, so ist sie in solch einer Dokumentenzeit gleich der unseren sinnvoll und existenzberechtigt. (Nicht, wie man auf den ersten Blick meinen sollte, in einer „romantischen“ Periode, die der scheinproduktiven Frau-Dichterin noch immer eine Freistätte bedeutet hat für jenen herzbluthaft nebulosen und zugleich blaustrumpfig aufgeputschten Dilettantismus, für jene zugleich überschwengliche und unpräzise, also unwahrhaftige Poetasterei, die uns nachgerade identisch geworden ist mit unserer Vorstellung von Frauenliteratur. (Die These Robert Neumanns von der Minderwertigkeit der Frauenliteratur wird keineswegs allgemeine Zustimmung finden. Anm. d. Red.)
Damit ist die grundsätzliche Lokalisierung für das Folgende vollzogen, die Beschäftigung des Kritikers mit Frauenliteratur in dieser Zeit ist legitimiert. Bleibt, den Anlaß solcher Beschäftigung aufzuzeigen. Es handelt sich da also um drei Bücher, die im Laufe des letzten Monats vom Paul – Zsolnay – Verlag in Wien herausgebracht worden sind: „Mädchen wohin?“ von Viktoria Wolf, „Herz über Bord“ von Lili Grüngeb. am 3.2.1904 (1907?) in Wien - gest. 1.6.1942 in Maly Trostinez, Weißrussland; Erzählerin, Lyrikerin, Schauspiele..., „Kati auf der Brücke“ von Hilde Spiel. Gemeinsamkeit: drei neue Autorinnen, überaus jung an Jahren – der Roman der jüngsten der drei ist von einer Neunzehnjährigen geschrieben. Wovon schreiben diese drei Frauen? Der Roman der Wolf : ein junges Mädchen, nach dem Abitur zu Hochschulstudienzwecken allein in München einquartiert, findet an zwei Männern vorüber zu einem dritten in dem Augenblick, da es zu spät ist – und lebt weiter. Die Grün : Ein junges Mädchen, kleine Schauspielerin, nach schwerem Erlebnis mit einem Mann in großer Armut nach Berlin verschlagen, kämpft gegen Not, Ungemach im Beruf und Liebe zu einem, der nicht zu ihr paßt – und lebt weiter. Und die Spiel: Ein junges Mädchen, überaus zart, wird vom Leben, von ersten Erkenntnissen, von einer ersten Liebe und Enttäuschung hart angefaßt – und lebt weiter. Nicht mehr? Selbstverständlich viel mehr. Es wäre herbe Unbilligkeit, den Gehalt der drei auf eine zarte Weise bunten Romane auf diese dürren Formeln des Berichtes zu reduzieren – geschähe das nicht, um jene weitere Gemeinsamkeit aufzuzeigen, auf die es hier ankommt : Bei der Wolf wie bei der Grün, bei der Grün wie bei der Spiel handelt es sich um die Konfrontation der Jung-Frau mit der Realität. Mit einer sehr typischen, sehr heutigen, sehr sachlichen Form der Realität – mit dem etwa, was man noch vor kurzem unter dem inzwischen ein wenig fadenscheinig gewordenen Begriff der „Neuen Sachlichkeit“ zu subsumieren gewohnt war. Dieser Realität begegnen die hier vorgestellten Frauen gewissermaßen mit der Stärke ihrer Schwäche.
Darüber hinaus gibt es natürlich Unterscheidendes in Menge. Vergnüglich und lehrreich, wie da das Buch der Wolf von jenem alten Frauenromantypus einer artistischen und ein wenig blaustrumpfhaften Wunschtraumrealisation die Brücke schlägt zu der neugefundenen Form. Kein Zufall ist es, daß gerade dieses am wenigsten bedeutende der drei Bücher ohne Schwierigkeit für alle drei gemeinsam und damit auch gleich für diese Betrachtung über alle drei den Titel zu liefern vermag. „Mädchen, wohin ?“ – das ist so etwa die innere Situation der neuen Gattung. Und wie hierin, so ist dieses Buch der Wolf auch in jeder anderen Beziehung unter den dreien das komfortabelste. Es ist leicht zugänglich, es ist süffig – es kann seines Erfolges in breiten Schichten besonders weiblicher Leserschaft sicher sein.
Da hat es eine wie die Lili Grün mit ihrem Buche „Herz über Bord“ zugleich leichter und schwerer. Schwerer: denn an Süffigkeit, will sagen: an Erfolgsgewissheit nimmt sie es mit der Wolf nicht auf. Und leichter: denn die dokumentarische, literarische Qualität dieses Erstlingsbuches eines vom Leben verprügelten kleinen Mädels ist über jeden Zweifel erhaben. Habe ich gegen das Buch der Wolf eingewendet, es walte in ihm keine „Not“ – hier herrscht Not im Ueberfluß. Und das schon in rein materieller Beziehung. Ist die Heldin der Wolf materiell gesichert, ist die Heldin der Spiel, wie wir noch sehen werden, gefährdet nur in metaphorischem Sinn – hier bei der Grün geht es in jedem Betracht auf Sichdurchbeißen oder Verrecken. Und ich stehe, da es sich nun einmal um „Dokumentarliteratur“ handelt, nicht an, zu verraten, dass das Schicksal der Heldin da durchaus dem der Autorin nachgebildet ist. Als ich diese und ihr Manuskript vor wenigen Monaten aufspürte, wog sie neununddreißig Kilogramm und lebte von – aber das würde man mir nicht glauben. Ist das ein literarisches Argument, höre ich mich gefragt. Es ist ein Argument, wenn man es mit dieser Leistung zusammenhält. Denn Not und Leistung wollen hier auseinander verstanden sein – sie werden gewissermaßen erst durch einander transparent. Es herrscht in diesem Erziehungsroman eine ganz besondere Form von Ueberwindertum, der „Protest der Jung-Frau gegen die Sachlichkeit“ vollzieht sich auf eine erschütternde und sehr zarte Manier, und zwar derart, daß die Heldin sich geheime seelische Reservationen, geheimste Traumwinkel aufspart, in denen sie jene halbe Stunde, die ihr von vierundzwanzig für ihr privates, eigenes, inneres Leben übrigbleibt, in einer seltsam versponnenen und den eigenen Wirklichkeiten abholden Weise reich macht und leuchten läßt. Um diese Lili Grün ist mir nicht bange. Sie wird ihren Weg machen.
Sie wird ihn sicherer machen als die dritte im Bunde. Denn so wahr der Roman „Kathi auf der Brücke“ der Hilde Spiel poetisch-substantiell inter den dreien der gewichtigste und darum auch der interessanteste ist, so wahr ist er der am schwersten zugängliche. Einfach deshalb, weil jenes Aussparen von Reservationen, jenes Anlegen geheimer seelischer Naturschutzparks hier so weit getrieben ist, dass die Aufspaltung zwischen Traum und Tat, also ein schizzoides Element, geradezu zum Hauptproblem des Buches und des zentralen Charakters wird. Ein Traummensch, von den Wirklichkeiten fast bezwungen. Dem entspricht die außerordentlich weit gediehene Brechung der epischen Linie. Diese Spiel „treibt Nebendinge“, um es mit Professor Unrat zu sagen, die treibt sie sehr zum Frommen der poetischen Substanz, sehr zum Nachteil der epischen Geschlossenheit. Sie sagt einfach alles, was sie zu Gott, der Welt und dem Zwiespalt in der eigenen Brust zu sagen hat. So ist der Roman auf eine rührende Weise ungelenk, langweilig und spannend zugleich, und unfaßbar bleibt, daß dieses scheue, kindliche und zum Heulen lebensreife, ja weise Buch von einer Neunzehnjährigen geschrieben worden ist. Dabei ist all das von größter innerer Sauberkeit ; von jener neidenswerten und in dieser Form nie wiederkehrenden Unbeirrbarkeit der ethischen Haltung, wie sie nur sehr junge Menschen ihr eigen nennen ; mit einem dünnen, doch präzisen Stift gezeichnet und mit zarten Tinten illuminiert. Das ist viel und dennoch: die Prognose ist in dem Falle Spiel am schwierigsten. Ich glaube nicht, daß dieses junge Mädchen nach solchem „kosmischen“ Buche in naher Zeit etwas Neues zu sagen haben wird. Daß sie sich zu einer kessen und abschriftlichen Begabung nach Art der ihr sonst in mancher Beziehung verwandten Irmgard Keun verflache – dafür besteht keine Gefahr. Aber sie bleibe getrost, auch wenn ihre Gabe für eine Weile verstummen sollte. Man wird inzwischen nicht vergessen, daß sie zu den starken Hoffnungen einer neuen literarischen Gattung zu zählen ist.
Mädchen, wohin? Ach, es sind hier trotz allem nur drei Bücher besprochen worden. Die Frage ist ohne Antwort geblieben. Weil sie kraft einem weiseren und tiefergründigen Weltgesetz ohne Antwort zu bleiben hat?