Therese Schlesinger: Die Frauen in der Republik (1923)

Nationalrätin Therese Schlesinger: Die Frauen in der Republik

Wer seit Jahrzehnten Arbeiterinnenversammlungen zu besuchen pflegt, dem muß es auffallen, wie verschieden die heutigen Arbeiterfrauen von denen sind, die wir vor zwanzig und dreißig Jahren in den Versammlungen zusehen bekamen. Bleiche, abgeplagte und vergrämte Frauen gab es ehemals und gibt es heute vielleicht sogar in noch größerer Zahl. Nicht umsonst hat der Krieg Hundertrausenden die Männer und Söhne geraubt und ebenso vielen den Boden ihrer früheren Existenz entzogen. Trotz alledem aber bemerkt man jetzt kaum jemals mehr, an den Frauen das furchtsame und demütige Gehaben, den dumpfen und stumpfen Gesichtsausdruck und den fast erloschenen, hoffnungslosen Blick, die ehemals für die Arbeiterfrauen so charakteristisch waren.

Das Frauengeschlecht von heute ist ein anderes geworden, ein mutigeres, selbstbewußteres und zuversichtlicheres. Dazu hat vieles beigetragen, das sich in den letzten Jahrzehnten ereignet hat. Die sozialdemokratische Aufklärungsarbeit ist bis in die entferntesten Gegenden gedrungen und hat das Denken und Fühlen der proletarischen Männer und Frauen mächtig beeinflußt. Wenn einerseits die Frau gelernt hat, ihre dreifache Belastung als Haushälterin, Mutter, und Arbeiterin nicht mehr als etwas von Gott Gewolltes und Unabänderliches demütig hinzunehmen, sondern als ein Unrecht zu begreifen, gegen das anzukämpfen heilige Pflicht ist, so hat anderseits auch der Arbeiter nach und nach begriffen, daß die Versklavung der Proletarierfrau ein Hemmnis für seine eigene Befreiung bedeutet und daß er gegen sein eigenes Klasseninteresse handelt, wenn er, statt sein Weib zu ermutigen und zu unterstützen, sie als seine Untergebene ansieht und zu der Knechtung, der sie im Betrieb unterworfen ist, auch noch die Knechtung im eigenen Heim hinzufügt.

Die furchtbaren Kriegsjahre, besonders furchtbar für die Frauen und Mütter, haben ohne Zweifel auch sehr viel dazu beigetragen, um die Proletarierinnen der Bevormundung durch ihre Männer und der Unselbstständigkeit den Unternehmern und den Behörden gegenüber zu entziehen. Hunderttausende von Mädchen, Frauen und Mütter mußten damals lernen, eigene Entschlüsse zu fassen und selbstständig zu handeln, mußten ihre eigenen Interessen und die ihrer Kinder wahrnehmen, ohne sich dabei durch Ratschläge oder Gebote ihrer Väter, Männer und Brüder leiten zu lassen. Und dabei hat es sich gezeigt, daß die Frauen nicht nur sehr wohl imstande sind, ihre eigenen Angelegenheiten zu ordnen, sondern daß sie auch im Wirtschaftsleben die Männer bis zu einem hohen Grade ersetzen, daß sie verantwortungsvolle Posten bekleiden und Aufgaben erfüllen können, zu deren Lösung man sie vorher niemals als befähigt angesehen hat – und wenn das Eindringen der Frauen in alle Berufe, in denen es während des Krieges an Männern gefehlt hat, für die Arbeiterinnen und weiblichen Angestellten auch nicht gerade Segen bedeutete, sondern die Gesundheit vieler Frauen empfindlich schädigte, so haben doch die Erfahrungen jener harten Zeit mit dem Vorurteil von der Minderwertigkeit der Frauenleistungen wesentlich aufgeräumt.

Daß die Frauen imstande waren, auf wichtigen Arbeitsgebieten die Männer zu ersetzen und zugleich Hausfrauen- und Mutterpflichten zu erfüllen, die ihnen durch die Kriegsnot auch noch sehr erschwert waren, das mußte auch den verstocktesten Frauenverächter bekehren und was noch viel, viel wichtiger ist, es mußte auch die allerbescheidenste Frau endlich zu dem Bewußtsein bringen, daß sie es nicht nötig habe, fürderhin sich bevormunden und geringschätzen zu lassen.

Die lange Dauer und das schmähliche Ende des Krieges haben die Unvernunft der alten Herrschaftsordnung nur allzu klar erwiesen, einer Ordnung, in der die bürgerlichen Klassen und innerhalb dieser wieder nur die Männer ausschlaggebend waren. Darum verlieh der Umsturz den Proletariat und den Frauen einen gewaltigen Machtzuwachs. Diese beiden Faktoren hatten sich als Kriegsgegner bewährt und hatten als Kriegsopfer gelitten. Die Bedeutung, die sie dadurch errangen, kommt in der Verfassung unserer Republik zum Ausdruck und ganz besonders in dem uneingeschränkten Wahlrecht für beide Geschlechter und der Aufhebung aller Gesetze, durch welche die Frauen wirtschaftlich und rechtlich benachteiligt wurden.

[…]

Noch wissen freilich nicht alle arbeitenden Frauen von ihrer neu errungenen Machtstellung und von den ihnen zuerkannten Rechten, den richtigen Gebrauch zu machen, aber jede fühlt doch instinktiv, daß sie aufgehört hat, ein wesenloses Objekt der Ausbeutung und Knechtung zu sein. Mit diesem neu erwachten Selbstbewußtsein der Frauen müssen auch die bürgerlichen Parteien zählen, sie, die bis zum Umsturz die wütendsten Bekämpfer aller Frauenrechte waren. Das Frauenwahlrecht mußte dem Bürgertum von der Sozialdemokratie gewaltsam aufgezwungen werden, heute aber hoffen gerade die bürgerlichen Parteien mit Hilfe der Frauenstimmen im Wahlkampf zu siegen. Diese Rechnung der Arbeiterfeinde kann und darf nicht stimmen. Die große Masse der arbeitenden Frauen muß und wird sich am Wahltag erinnern, wem sie die Hebung ihrer rechtlichen und sozialen Stellung einzig zu verdanken hat.

In: Arbeiterinnen-Zeitung, 1923, Nr. 10, S. 2/3.