Jonny, der Jazz, die Opernbühnen und die Menschen (1927)

Jonny, der Jazz, die Opernbühnen und die Menschen

Ein Gespräch mit Ernst Krenek

            Wir sitzen im menschenleeren Spielzimmer eines Ringstraßen-Cafés, von fern klingt das einförmige Geräusch des Betriebs in die ‚Einsamkeit‘. „Sehen Sie“, sagt Krenek, „diese Selbstverständlichkeit, mit der wir hier unseren Kognak trinken, diese unkomplizierten Vorgänge, wie der Kellner uns bedient, wie wir zahlen, wie wir aufstehen, wie wir von unseren Mitmenschen behandelt werden, die innere Zweckmäßigkeit, die unseren Alltag durchpulst, war es vor allem, die in mir die Idee des Jonny reifen ließ. Vier Jahre sind es her, als die ersten Umrisse der Handlung in meinem Innern sich verdichteten, als die Figuren aus dem ungeformten Nichts in meine Welt traten. Ich habe eine große Wandlung, eine grundlegende Umstellung meines Ich, meines Empfindens, meiner Anschauungen über Kunst, Leben und Menschen durchmachen müssen, ehe ich an die Ausführung des Werkes schritt. Und von da an bis zum Abschluß der Dichtung und der Komposition war noch ein weiter Weg.

            Ein Wust von Mißverständnissen hat den weiten Weg des ‚Jonny‘, der über neunundfünfzig Bühnen innerhalb eines Jahres gegangen ist, begleitet. Und weniger die wenigen ablehnenden Stimmen, als vielmehr die der Wohlwollenden, der ehrlich Begeisterten, haben dazu beigetragen, dieses Werk und meine Einstellung zu ihm, überhaupt meine ganze Einstellung als Komponisten, vor der breiten Öffentlichkeit in ein durchaus falsches Licht zu rücken. Man stempelte mich kurzerhand zu einem Erfolgskomponisten, zu einem Artisten, der, mit besonderen Bühnenkenntnissen ausgerüstet, eine Revue geschrieben hat, in der es nicht um ein Erlebnis, sondern nur um den Publikumserfolg geht.

            Das ist falsch. Aber ich kann mich gar nicht darüber erregen, wenn ich die Dinge betrachte, wie sie gekommen sind. Denn auch ich war vor meinem Pariser Aufenthalt1 der einen entscheidenden Einschnitt in meinem Leben bedeutet, auf einem ähnlichen Standpunkt, wie das deutsche Publikum und – auch die Kritik bis zu den ersten Musikschriftstellern hinauf. Auch für mich war früher die Idee eines Kunstwerkes das Primäre, dem sich alle anderen Faktoren, der Theaterapparat und die Menschen, zu beugen hatten. Das ist deutsch.

            Nach jenem erwähnten Pariser Aufenthalt aber, als ich zum Theater kam und Kapellmeister und Dramaturg in Kassel und später in Wiesbaden wurde, als ich an der lebendigen Theaterarbeit teilnehmen durfte, als ich die unsagbaren Klüfte zwischen den Werken und den tatsächlichen Erfordernissen der Bühne sah, und weiters die Divergenz zwischen dem Resultat der Bühnenwirkung und der tatsächlichen Empfindungswelt des naiven Publikums, empfand ich den Wunsch, ein Werk zu schreiben, dessen Anlage von vornherein all diesen Hindernissen Rechnung trug, sie ausschloß. So ist mein ‚Jonny‘ förmlich auf der Bühne entstanden, das Erlebnis von früher ist durch das spätere abreagiert.

            Ich habe viel und oft über die Jazzattrappe dieser Oper sprechen und schreiben müssen. Erlassen Sie es mir diesmal. Jeder Einsichtige wird erkennen müssen, daß in einer Welt der Selbstverständlichkeit, der Einfachheit und Zweckmäßigkeit, in der meine Oper spielt – und wozu sollte ich auch eine fremde, griechische oder orientalische, oder historische Atmosphäre aufbieten, um vom Publikum ein unnötiges Plus an Umstellung zu verlangen? – der Jazz ein Bestandteil ist wie ein Tisch, ein Smoking und andere Requisiten.

            Aber der deutsche, so stark im Spekulativen, im Theorem befangene Geist hat eine Weltanschauungssache aus dem Ganzen gemacht. Schlagworte, nichts als Schlagworte, die mich begleiten!

            Dieser Hang zum Schweren, Gründlichen, Ethischen, zur Doktrin, zur Philosophie, hat bekanntlich auch das deutsche Theaterwesen gründlich infiziert. So haben gerade mittlere Opern und kleine Opernhäuser wie Leipzig, Hamburg, Mainz, Mannheim, Frankfurt, Wiesbaden usw. mein Werk glänzend herausgebracht, weil man ohne viel Spekulation die sehr wichtigen Regievorschriften beachtet hat. In Berlin hingegen, an einer der größten Bühne

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des Reichs, tat der Regisseur zu viel des „Guten“ und das Resultat war eine Überinszenierung, die der ganzen Aufführung schadete. In Kassel wurde ‚Jonny‘ gerade während einer Lohnbewegung aufgeführt. Um die Theaterarbeit zu sabotieren, beschädigte jemand die Waberlohe in der ‚Walküre‘, sodaß der ganze Feuerzauber verdorben wurde. Am nächsten Tag mußte meine Oper daran glauben. Denn jemand durchschnitt das Seil, an dem der Expreßzug im letzten Bild bewegt werden sollte.

‚Jonny‘ liegt hinter mir. Es ist der Ausfluß, sagen wir die Abreaktion einer Epoche, die hinter mir liegt, wie der große Gegensatz zwischen Romantik und Gegenwartsgefühl, den die großen Massen im Begriff sind zu überwinden. Und es bedeutet mir reine Freude, wenn ich den Theaterapparat, die Sänger, das Orchester, den Kapellmeister und den Regisseur glatt und reibungslos an meinem Werke arbeiten sehe. Wie speziell die großen Sängerpersönlichkeiten an der Wiener Staatsoper, wie Vera Schwarz, Elisabeth Schumann, Alfred Jerger, Hans Duhan und Pataky, aus ihrer persönlichen Auffassung immer mehr in die meinige, hier durch den glänzenden Regisseur Dr. Wallerstein2 verkörpert, hineingeraten. Ich freue mich schon auf die Orchesterproben mit Kapellmeister Heger, auf die fabelhaften Dekorationen von Professor Strnad, die ich zwar noch nicht gesehen, aber aus ihrer Andeutung bei den Proben im Prinzip als sehr richtig angelegt erkannt habe.

Ich hoffe, daß diese Aufführung nicht nur mir, sondern auch den Wienern ein frohes, heiteres Erlebnis bedeuten wird.

                                                                                   Argos

In: Der Tag, 18.12.1927, S. 12.

  1. Bezieht sich auf seinen Parisaufenthalt vom Spätherbst 1924, bei dem er u.a. mit Darius Milhaud bekannt wurde, dessen „Fähigkeit, erstaunliche Mengen interessanter, ‚moderner‘ und trotzdem ‚brauchbarer‘ Musik hervorzubringen“ Krenek ausdrücklich bewunderte. Vgl. E. Krenek: Im Atem der Zeit. Erinnerungen an die Moderne. Hamburg 1998, S. 489.
  2. Lothar Wallerstein (1882, Prag – 1949, New Orleans), von 1927-1938 Oberspielleiter an der Wiener Staatsoper; 1939 Flucht ins US-Exil aufgrund seiner jüd. Abstammung; von 1941-46 Regisseur an der Metropolitan Opera in New York. 1928 verantwortete er auch die Uraufführung von Strawinskys Oedipus Rex.