Anna Nußbaum: Jules Romains und das Kino

Anna Nußbaum: Jules Romains und das Kino

Es ist hier nicht der Platz, den Begründer des Unanimismus und der neuen klassischen Richtung in Frankreich nach seiner Bedeutung zu würdigen. Aber es wird interessieren zu erfahren, daß der Dichter von ›Europe‹, der ›Vie Unanimée‹, der ›Puissances de Paris‹, dessen satirisches Lustspiel ›Dr.Knock‹ in Wien uraufgeführt, dessen Film ›L‘Image‹ von der Vita-Filmgesellschaft gedreht wurde, schon im Jahre 1919 in seinem kinematographischen Roman ›Donogoo-Tonka‹ das erste literarische Drehbuch gegeben hat.1 Also lange bevor der Verlag Kiepenheuer die Idee zu seiner ›Sammlung zeitgenössischer Filmmanuskripte‹ gefaßt hatte. (Bekanntlich ist als erster Band dieser Sammlung ›Sylvester‹ von Carl Mayer erschienen). Die künstlerische Entwicklung des Films hat es mit sich gebracht, daß die Fachleute nicht mehr wie früher das Manuskript für etwas Unwesentliches, Regie für das allein Maßgebende halten. Heute wird eingesehen, daß nur aus gemeinsamer Arbeit von Filmschreiber und Regisseur wirklich Wertvolles entstehen kann.

›Donogoo-Tonka‹ erschien zu der Zeit, da die französische Filmindustrie hauptsächliche auf italienische und amerikanische Zeugnisse angewiesen war, zuerst in der literarischen Zeitschrift der ›Nouvelle Revue Française‹, dann als Buch im gleichen Verlage. Jules Romains ist der Ueberzeugung, daß das Kino nicht nur getreue Wiedergabe der Wirklichkeit, sondern mit Ausnützung seiner fast unbegrenzten technischen Möglichkeiten geradezu Verwirklichung des Phantastisch-Irrealen werden kann. Der Rhythmus des Geschehnisse bleibt der des gewöhnlichen Lebens, wo es notwendig ist, soll verlangsamt oder bis zu höchster Geschwindigkeit gesteigert werden, sobald der seelische Zustand, die Stimmung der handelnden Person es fordern. Wodurch eben der Einbruch des Schemenhaften, Visionären hervorgebracht wird. (Diese Technik nützte der amerikanische Film von Anfang an zu komischen Wirkungen aus.) Der Film kann und soll ferner Gedanken, Erinnerungen, Träume, kurz die ganze seelische und gedankliche Arbeit der betreffenden Personen bildhaft darstellen. Theater versucht Bilder durch Worte auszudrücken. Kino ruft durch Bilder die Idee hervor. Kino und Theater stehen zueinander im schärfsten Gegensatz, dürfen einander nichts entlehnen. Jedenfalls kann das Kino nichts vom Theater lernen. Wie Romains seine Theorie in ›Donogoo-Tonka‹ verwirklicht, mag an einem Beispiel erläutert werden. Ein Gelehrter schwankt, ob er seine wissenschaftliche Würde einem Geldangebot opfern solle. Nicht nur ausdrucksvolles Mienenspiel gibt seinen inneren Kampf wieder, sondern vor allem zwei kurze Sätze, die seinem Kopfe zu entsteigen scheinen. „Ives de Troubadec, Mitglied des geographischen Instituts“ und dann gleich darauf: „5000 Francs“. Unnötig hinzuzufügen, daß letztere Erwägung den Sieg davonträgt. ›Donogoo-Tonka‹ ist nicht nur ein ausgezeichneter, sehr unterhaltender Roman in der wunderbar präzisen Sprache von Jules Romains; er ist vor allem auch ein vortreffliches Filmsujet (mit einigen Einschränkungen: zu häufiger Ortswechsel – Paris, Marseilles, Neapel, London, Porto, Amsterdam, San Francisco, Singapore usw. – das geht über die Kraft der reichsten Filmgesellschaft – und zu lange Textanschriften). Der junge Lamendin ist lebensmüde, sein Freund rät ihm, den Professor Miguel Rufisque (Institut für psychotherapeutische Biometrik) aufzusuchen. Er tut es, folgt dem Rate des Gelehrten und macht auf ziemlich ungewöhnliche Weise die Bekanntschaft des Geographen Ives de Troubadec. Dieser verzweifelt an seiner Wahl in die Akademie der Wissenschaften, da er öffentlich von seinen Kollegen wissenschaftlichen Betruges oder krasser Ignoranz geziehen wird. Hat er doch in seinem großen geographischen Werk über Südamerika von einer Stadt Donogoo-Tonka gesprochen, die erwiesenermaßen niemals existiert hat. Lamedin entdeckt neues Lebensinteresse, ist entschlossen, Troubadec und damit sich selbst Weg zum Ruhme zu eröffnen: die Stadt Donogoo-Tonka muß einfach gegründet werden. In einer wirbelnden Reihe köstlich-satirischer Szenen, die immer mit Darstellung der sich daran knüpfenden Gedanken vorgeführt werden, erfolgt nun Gründung der Aktiengesellschaft zur Ausnützung der Goldlager von Donogoo-Tonka, Anwerbung und Ausstattung der Mitglieder der Expedition, Reise, Ankunft in völlig unwirtlicher Gegend, Gründung und rapide Entwicklung der Stadt Donogoo-Tonka. In der Nähe wird tatsächlich ein Goldlager entdeckt. Ganz Frankreich jubiliert: Troubadec wird nicht nur in die Akademie gewählt: als „Vater des Vaterlandes“ wird er in der Stadt seiner Erfindung geehrt. Lamedin, der Gouverneur, sorgt für materielles und seelisches Wohlergehen seiner Bürger.

Kino: Verwirklichung des Unwirklichen – wenn auch nicht der einzige Weg zu weiterem Ausbau, doch gewiß eine Anregung von nicht zu unterschätzendem Wert.

In: Neue Freie Presse, 23.5.1924, S. 16.


  1. J. Romains: Donogoo Tonka ou Les miracles de la science. Paris 1920; vgl. dazu https://archive.org/details/donogootonkaoul00romagoog (Zugriff vom 4.2.2016)