Hermann Bahr: Katholische Musik (1922)

Hermann Bahr: Katholische Musik

Österreich, unser altes Österreich, ist zur Zeit nur noch als Musik vorhanden; in seiner Musik bleibt es unsterblich. Ja, rein erkennen lernen wir ihre letzten drei großen Erscheinungen, Bruckner, Hugo Wolf und Mahler erst jetzt.  Als Vorzeichen, Verheißungen, Beginner von etwas, das erst kommen sollte, galten sie, Zukunft schienen sie zu bedeuten, in die Zukunft immer zu deuten, aber sie waren das Ende, sie waren der letzte Gruß, mit dem Österreich zärtlich Abschied nahm, Abschied von sich selbst, sie waren die Todesverklärung.

            Ihrer Zeit stießen alle drei ja zunächst wie Wagner, ihr gemeinsamer Meister, auf denselben erzürnten Haß des liberalen Bürgertums. Dieser Haß hatte seinen guten Grund; nur gab er falsche Gründe vor. Er gab vor, das „musikalisch Schöne“ zu schützen; er gestand vielleicht nicht mal sich selber ein, daß es ihm um Schutz vor Musik überhaupt ging, vor dem Wesen der Musik, durch das sich das Geldbürgertum in dem seinen bedroht sah.

            Man hat Baukunst erstarrte Musik genannt und so kehrt, was einst Fischer von Erlach und Hildebrand in Stein erstarren ließen, unter Mozarts wachküssendem Anhauch wieder ins Element der Töne zurück: fließendes Barock ist unsere Musik von Anbeginn; indem barocker Augenschein zur Ohrenlust wird, entsteht sie, sei’s im Volksmund, sei’s nun kunstbewußt.

Dies geschieht eben zu der Zeit, als Österreich schon leise sich selbst zu verleugnen beginnt: das Barock fühlt seine Welt wanken, da rettet es sich in Musik. Musik ist die letzte Zuflucht des alten, des rechtgläubigen, des heroischen Österreich; in Musik verborgen hofft es sich noch aufzubewahren, darum kam auch der junge Mozart dem Kaiser Josef gleich so verdächtig vor. In Gluck noch voll Stolz und erhabener Macht, rauscht es in Schubert schon stiller, wie Sterbensdrang, und diese Wehmut klingt ahnungsvoll bis in Strauß und Lanner hinein. Inzwischen ist ihm ein Todfeind erwachsen: dem metaphysisch gesinnten Barock, das in den vorübergehenden Gestalten dieser Welt das Bild der ewigen Wahrheit nur trüb gespiegelt sieht, tritt der Geldbürger entgegen, der für wahr nur anerkennt, was sich bar vorzählen läßt, der Mensch der Ziffern, der Mensch der völligen Abstraktion, des Absehens und Weghörens von allem, was nicht in Ziffern zu verwandeln ist. Dieser große Falschmünzer des Lebens, Unkünstler und gar Unmusiker von Geburt, bedient sich nun aber der Methode, was er seinem Wesen nach verneinen muß, immer zunächst zu „beschützen“, ja zu tun, als wenn jetzt er erst es seiner wahren Bestimmung zuführen würde. So hat er die Geschichte des Abendlands, das Mittelalter, die Renaissance, unsere klassische Dichtung, Goethe vor allem, und den Geist der deutschen Philosophie so von Grund aus umgefälscht, bis zuletzt alles nur auf ihn zu zielen, die ganze Weltgeschichte nur ihn vorzubereiten, ja der Weltgeist im Geldbürger zu gipfeln und mit dem Geldbürger der Sinn aller Zeiten erfüllt schien. Und so macht er uns auch eine Musik eigener Art, seine, des geborenen Widermusikers, Musik vor, die sich zu wahren verhält wie das Ringstraßenpalais zur Baukunst. Die großen Wahrheiten zunächst niemals zu leugnen, sondern sich ihnen anzubiedern, hinterrücks aber in aller Stille Gift ins Herz zu spritzen, war überall seine Methode. Nur der ungeheuren Seelenkraft Wagners gelang es, die deutsche Musik zu retten; war man doch damals schon eben dabei, selbst Beethoven geldbürgerlich umzudirigieren, ganz wie man jetzt, seit Mahler tot und Bayreuth stumm ist, es wieder mit Wagner selber versucht (und schon mit der Wirkung, die Jugend, die ja nirgends mehr Wagner, den wirklichen, hören aber sehen kann, ihm abzuwenden). Als nun in Bruckner, Hugo Wolf und Mahler der alte Geist unserer österreichischen Musik, ja geradezu das Barock selber auferstand, trat ihnen der Geldbürger, der Unmusiker, in der Marke des Hüters eben jener Musik entgegen, von der er sich und sein innerstes Wesen, seine Wesenlosigkeit, durch sie bedroht sah: seiner List gelang, die Musiker als Verräter, Schänder, Zerstörer eben des Heiligtums, dessen leibhaftige Zerstörung er selber war, und die Wiederkehr der österreichischen Musik für ein Revolte verrückter Einbrecher auszugeben, und mit einer so perfiden Beharrlichkeit, daß jedermann irre wurde, zuletzt sogar sie selbst. Das Verfahren hat sich also glänzend bewährt und man wird es immer wieder anwenden, wenn die Gefahr eines Musikers droht, eines echten, aus dem der Himmel klingt.

            Nein, die drei waren kein Anfang, sie waren die letzten Stimmen Österreichs. In Bruckner ist Österreich, das barocke, das rechtgläubige, das weltweite, das seit Josef zugeschüttet war, in Bruckner ist es wie durch ein Wunder auf einmal wieder da, sich fröhlich die hellen Augen auswischend von dem bösen Traum der letzten hundert Jahre, wieder ganz jung, wieder ganz fromm. In Hugo Wolf ahnt es dann leise schon den Tod, aber es will ihn nicht, es gibt ihn sich nicht zu, sondern setzt noch einmal den ganzen Trotz seines ungeheuren Lebenswillens ein. In Mahler entsagt es schon, es hat nur noch einen letzten schmerzlichen Liebesblick zur Erde hin, es hört schon den Himmel offen. Es ist der Todesweg Österreichs, den die drei gehen: Bruckner, dessen Musik noch ganz unbefangen katholisch ist, Hugo Wolf, bei dem sie vom katholischen nur noch den gebietenden Ernst der strengen Form hat und Mahler, in dessen Inbrunst sie wieder katholisch wird.

            Indem wir jetzt allmählich aus der liberalen Geistesdämmerung erwachen, enthüllt sich das Antlitz der drei letzten Musiker erst dem befreiten Blick. Als Bruckner lebte, konnten sich die Herren von der Kunst gar nicht genug wundern, wie denn ein frommer Katholik, worunter man damals noch etwas zurückgebliebenes, sozusagen Prähistorisches verstand, ein vergessenes Stück des „finsteren Mittelalters“, überhaupt zu seiner immerhin unleugbaren Musik kam; sie hätten eher fragen müssen, woher denn ein Ungläubiger eigentlich Musik nimmt, da doch alle Musik des Abendlands ein Geschöpf unseres Glaubens ist. Jetzt aber stellt Ernst Decken, dem wir schon die schönste Biographie Hugo Wolfs verdanken, in seinem kraftvoll gedrungenen Buch über Bruckner (bei Schuster und Löffler in Berlin verlegt) ihn selbst wie sein Werk durchaus als ein Kind unserer Kirche dar: wie beiden, der Mensch wie das Werk, ganz still aus unserem Glauben emporwachsen und gleichsam nur seine Gaben dankbar erwidern in der eigenen Tat.

Die Kirche lehrt ihn den rechten Gebrauch seiner angeborenen Kraft, dann hat ihn nur noch das Wagnererlebnis zu schütteln und es fallen in Fülle die reifen Früchte: dies macht im Grunde den ganzen Bruckner aus. Vielleicht kein zweiter Künstler unserer Zeit ging so sicheren Schritts geradewegs auf sich zu, nur immer seiner Sendung nach, aber auch bis an ihr Ende, durchaus. Kein zweiter Künstler dieser Zeit war sich so bewußt, daß sich ganz erfüllen, auch in der Kunst, sich ganz aufopfern heißt. Es ist das hohe Verdienst Deckens, daß er uns den priesterlichen Sinn dieser gottgeweihten, so rührenden als erhabenen Existenz erblicken läßt, und ohne die Komik, mit der sie vom Wiener Spott überklebt worden ist. Dem schien natürlich dieser fromme Symphoniker ein leibhaftiger, nur aus Versehen stehen gebliebener Anachronismus; heute sehen wir, daß nicht Bruckner ein schlechter Witz war, sondern jenes liberale Wien.

            Daß auch die Kunst Hugo Wolfs, dem dies keineswegs bewußt war, in unserem Glauben wurzelt, legt Hermann Hefele dar, in einem höchst merkwürdigen Abschnitt seiner zuweilen befremdenden, überall bedeutenden Schrift über „Das Gesetz der Form“ (bei Eugen Diederichs in Jena). Hefele ist selbst Katholik und ein sehr bewußter, wenn auch ein unromantischer, ein durchaus ultramontaner, ein antimystischer, ein eigentlich auch antibarocker, ein vor allem benediktinischer, ein römisch-hellenistisch willensstark auf Gesetz und Ordnung pochender Katholik (er hat ein überaus kluges Heft über den „Katholizismus in Deutschland“, bei Otto Reichl in Darmstadt, verfaßt, in dem unsere Politiker die Schilderung der guelfischen Stadtstaatsform beherzigen sollten!) So zieht er vielleicht unwillkürlich Hugo Wolf etwas gar zu sehr zu sich hinüber; er sieht ihn jedenfalls heller, härter, als er im Leben war. Vielleicht aber hört er gerade darum reiner, was seine Musik ist, als wer noch die Person gekannt hat, deren Überwindung gerade vielleicht der tiefste Sinn dieser Musik war. Das „schwere Gewicht seiner überlegenen Geistigkeit!“ rühmt er an Wolf, „der die Musik mit dem Geistig-Formalen zu verketten wagte, der nicht mehr Gefühle und Stimmungen wiedergeben wollte, sondern Typen des Geistes und Richtungen der natürlichen Anlage, die großen Tatsachen der geistigen und die gewordenen und geformten Komplexe ihrer Entwicklung“, dessen Werk „die Lösung der Musik aus den Banden der Subjektivität und ihre Überführung in das Reich des Objektiven, des Allgemeinen und Geltenden“ war, dessen Musik „die Schwester der griechischen und italienischen Kunst, des römischen Rechts und der klassischen Bildung“ ist. Es mag sein, daß, was dem Schaffenden oft begegnet, nämlich Intention schon für die Tat selbst zu nehmen, hier einmal einem Empfangenden widerfährt, aber auch ein nicht so willig nachhelfender, nicht so dankbar mitschaffender Hörer wird Wolfs leidenschaftlichen Willen zur großen Form, seinen reinen Sinn fürs Gesetz, ja die Macht der strengen Bindung als sein tiefstes Urerlebnis, wodurch er recht eigentlich erst produktiv geworden, anerkennen müssen. Katholische Kultur, ihm selber in wachen Stunden kaum mehr recht bewußt, klingt in seiner Kunst wider.

            Bei Mahler umgekehrt. Musiziert in Wolf sein katholisches Erbe noch nach, so musiziert Mahler auf unseren Glauben geradezu hin, der Jude Mahler, hat sich den Katholiken erst ermusizieren müssen. Er gehörte zu den Menschen, denen das Metaphysische so selbstverständlich und von Anfang an mit solcher Evidenz ganz unmittelbar gewiß ist, daß sie nur Mühe haben, doch allmählich immerhin auch ein Physisches anerkennen aber wenigstens zugeben zu lernen, das für sie stets etwas höchst Zweideutiges, Unwahrscheinliches und jedenfalls eher Irrtümliches behält. „Wenn ich nicht wüßte“, rief er einst stampfend aus, durch die Skepsis eines Spötters erregt, „wenn ich nicht wüßte, merken Sie sich: wüßte, wüßte! daß meine Seele unsterblich ist, würde ich mich augenblicklich aufhängen!“ Und nicht etwa das Bedürfnis, sich dieser angeborenen Evidenz Gottes erst noch vergewissern, sie sich erst noch beglaubigen zu müssen, hat ihn produktiv gemacht, sondern das Verlangen nach Gestalt, durch die das wogende Gewühl der inneren Verzückung nun auch noch zur festen Erscheinung, das im Flug Erraffte zum ruhigen Besitz, Ahnung zur Erkenntnis wird. Dieser Prozeß vom subjektiven Empfinden, Betasten, Ergreifen des Objektiven zur immer reineren Objektivierung des allmählich erst aus der aufbrechenden subjektiven Schale feierlich enthüllten objektiven Kerns ist das ewige, das einzige Thema seiner Musik: sie läßt uns hören, wie er katholisch wird. In Wien, wo die Musiker meistens unkatholisch sind und die Katholiken jetzt meistens unmusikalisch, ist das freilich die längste Zeit kaum bemerkt worden. Erst Hans Ferdinand Redlich in seiner erstaunlich reifen, nur zuweilen durch eine Vorliebe für Dämmer und Dunkel des Ausdrucks, der das Wahre durch einen Zusatz des Geheimnisvollen erst ganz zu bewähren meint, die neueste Generation verratenden Schrift über Mahler (Verlag Hans Karl, Nürnberg) hat das Ohr dafür. Er erkennt in ihm den „letzten Romantiker“; gläubig in eine Welt des Unglaubens ausgesetzt zu sein, deren Augenschein durchaus der eigenen inneren Gewißheit widerspricht, das ist ja das Erlebnis, wodurch der Romantiker entsteht: aus Heimweh nach seiner da draußen überall verleugneten Wahrheit. Daher auch der wilde Sohn in Mahlers Musik. „Er war“, sagt Redlich, „der erste, der Ironie in Musik umsetzte.“ Doch Mahler beruhigt sich im Ironischen nicht: „Mahlers Musik ist metaphysisch, sie setzt sich immer mit dem Kosmos auseinander, ist der Behälter, in den er seine transzendentalen Erkenntnisse, die erst musikalisch erkämpft werden mußten, goß.“ Das scheint mir der entscheidende Satz dieser Schrift, hier zum ersten Mal eine Formel gefunden, die den ganzen Mahler enthält. Kampf ist seine Musik, aber nicht Kampf um den Glauben, sondern Kampf um die reine, die volle Gestalt des Glaubens. Einen „der erst wiederum zum Kinde Gottes geworden ist“, nennt ihn Redlich. Dies hören wir aus seiner Musik, wie wir aus der Musik Hugo Wolfs einen hören, der nicht vergessen kann, daß er einst ein Kind Gottes gewesen ist.

In: Das Neue Reich, 16.05.1922, S. 541-542.