Raoul Auernheimer: Düstere Weihnachtsstücke (1922)

Raoul Auernheimer: Düstere Weihnachtsstücke

      Die beiden jüngsten Neuheiten des Deutschen Volkstheaters: Lenormands „Die Namenlosen“ und Schönherrs „Es“ gleichen in nichts jenen ebenso rosigen als wohlfeilen Weihnachtsengeln, wie sie ansonsten im Christbaumschmuck unserer Theater um diese Zeit aufzutauchen pflegten. Es sind zwei düstere Nachtstücke, die uns, jedes in seiner Art, einen schmerzlich tiefen Einblick in schauerliche Abgründe des Lebens eröffnen; und die, indem sie in ihrem Kolorit ziemlich weit von der hergebrachten Schablone grundlos vergnügter Weihnachtsstücke abweichen, auch in technischer Beziehung neue Wege einschlagen. Schönherrs Drama bestreitet den dramatischen Haushalt mit nur zwei Personen; Lenormand im Gegenteil löst die herkömmliche Aktgliederung nach dem Vorbild der Russen und anderer jüngerer Dramatiker in eine lockere Bilderreihe auf. Beide Dichter bleiben dabei dem Theater nichts schuldig; sie geben starkes Theater, ja sogar bewährtes Theater, dessen motivische Verzahnung und Verkettung jeden mystischen Schwindel ausschließt. Aber sie versuchen zugleich, die konventionelle dramatische Form zu durchbrechen: Lenormand, indem er sie auflöst, Schönherr, indem er sie zusammendrückt. Beide Dichter machen auf diesem Wege allerhand Erfahrungen, und der Zuschauer macht sie, höchst angeregt, mit ihnen.

      Karl Schönherr gebührt als dem heimischen Meister der Vortritt. Sein soeben aufgeführtes Drama „Es“, dessen Titel aus zwei Buchstaben und dessen Personal aus zwei Figuren besteht, ist ein Unikum dramatischer Oekonomie. Es gleicht jenen allerwinzigsten Uhren, sie in einem Schirmgriff oder in einer Krawattennadel untergebracht sind, und die trotzdem gehen. Ein Kunststück noch mehr als ein Kunstwerk, ist es zugleich ein solches und schon dadurch bedeutend, daß es ein an sich bedeutendes Problem dramatisch entfaltet.

      Das Problem läßt sich mit den Worten umschreiben: Sind tuberkulöse Eltern berechtigt, Kinder in die Welt zu setzen? „Er“ – Schönherr treibt in diesem Stücke seine an Kargheit grenzende Sparsamkeit so weit, daß er den beiden Personen, die er einführt, nicht einmal mehr Namen gibt – verneint diese Frage kategorisch. Er ist Arzt und auf Grund langjähriger Untersuchungen zu der für ihn unumstößlichen Erkenntnis gelangt, daß, wer an Tuberkulose erkrankt, immer auch entweder einen tuberkulösen Vater oder eine tuberkulöse Mutter hatte. In dreihundert Fällen seiner  Praxis hat er diesen Zusammenhang ganz schlüssig erwiesen und die logische Folgerung seiner Beobachtung in einer Schrift niedergelegt, deren rücksichtsloser Wahrheitsmut in dem Axiom gipfelt: „Wer ärztlich nicht gesund befunden, ist von der Ehe fern zu halten. Wer erbkrank schon im Mutterleib, darf nie in die Welt hinein.“ Aber während die wissenschaftliche Arbeit, in der er diese grausame These erhärtet, in Druck gelegt wird, geschieht etwas, was sein ganzes Leben aus den Angeln hebt. Der zweiunddreißigjährige Mann, der sich in der letzten Zeit von einer langsam zunehmenden Müdigkeit beunruhigt fühlt, läßt eine mikroskopische Untersuchung anstellen, aus der für ihn mit unzweideutiger Gewißheit hervorgeht, daß er selbst von Tuberkulose befallen ist. Und gleichzeitig muß er erfahren, daß seine Frau sich Mutter fühlt.

      Der erste und zweite Akt sind der langsamen, technisch meisterhaft durchgeführten Entschleierung dieser doppelten Voraussetzung gewidmet; der dritte beginnt, das Problem zu entwickeln. Mann und Frau verändern sich unter der Einwirkung des drohenden, unverhofften „Es“. Der Mann ist bereit, seiner Theorie nachzuleben; oder sollte er vielleicht „zurückkriechen“, jetzt, da es ihm „ans Nackte geht?“ Täte er das, so wäre er kein Schönherrscher Held. Die Frau, aus dem Pflegerinnenberufe hervorgegangen und mit allem Jammer der Krankenbetten vertraut, ist theoretisch der gleichen Meinung; doch eben nur theoretisch. Da die Wirklichkeit an sie herantritt, strickt die Häubchen für das zu Erwartende und läßt ihren tuberkulösen Mann weiter sein klinisches Material sichten und sammeln. Der aber wäre nicht, der er ist, wenn er, den Umständen Rechnung tragend, auch nur um Haaresbreite zurückwiche; im Gegenteil, er geht vor. Zu der wissenschaftlichen Überzeugung gesellt sich die Rechthaberei und jener Tiroler Eigensinn, den wir an den Schönherrschen Helden kennen; zum Eigensinn die Grausamkeit, die allen Gefühlseinwänden gegenüber taub und stumm bleibt. Anstatt sich mit der Frau durch Gründe und Gegengründe zu verständigen, tut er, aus Sittlichkeit, etwas, was kaum noch sittlich zu nennen ist: er narkotisiert sie und nimmt ihr, in der Narkose, das im Entstehen begriffene Kind.

      Die Frau genest nach dem Eingriff, aber noch im Halbschlaf, aus der Betäubung erwachend, errät sie, was mit ihr geschehen. Von Stund` an ist es einziges Streben, ihn, den sie nur noch mit schneidendem Hohn „Vater“ nennt, noch einmal zum Vater zu machen. „Was die Frau will, will Gott“, sagt ein französisches Sprichwort; und so gelingt ihr auch das trotz seines sittlichen Widerstrebens und obwohl die ihn verwüstende Krankheit bereits einen rettungslosen Verlauf nimmt. Im fünften Akt, nach Fertigstellung seines Werkes, beschließt er, seinem verlorenen Leben freiwillig ein Ende zu machen. In demselben ärztlichen Ordinationszimmer, in dem alle fünf Akte nacheinander spielen – ein technisches Meisterstück, durch das sich der Dichter seine Aufgabe noch erschwert – sehen wir den einsamen Doktrinär der Tuberkulosebekämpfung den selbstgemischten Gifttrank mit den unerbittlichen Worten: „Was gesund ist, soll leben!“ an die Lippen heben. Aber da er sich nachher in Krämpfen windet, hört er nebenan seine Frau jungem Mütterglück entgegensingen. Er erahnt den Zusammenhang ihres Singens mit jenem Fehltritt, zu dem sie ihn wider seine bessere Einsicht verleitet hat, und er ruft sie in seiner Todesangst herbei, um sich das Gegengift von ihr reichen zu lassen. Aber sie reicht es ihm nicht; für das Kind unter ihrem Herzen fürchtend, läßt sie lieber den geliebten Mann sterben. So steht Mord gegen Mord und das „es“ gegen das „wir“: das „es“ erweist sich als stärker. Mit dem Worte „Mutter!“ verhaucht der Arzt in den Armen seiner Frau, die im Verhauchen dem ihn niederdrückenden Bewußtsein, ein „Krankes und Schwaches“ in die Welt gesetzt zu haben, die tröstlichen Worte entgegensetzt: „Wo Krankes ist und Schwaches, da tun sich Herzen auf. Werden Hände hilfsbereit. Immer wieder krankes Leben und immer wieder neue Liebe. …“

      Man kann diesem dichterisch ersonnenen Vorgang die tragische Schlüssigkeit ebensowenig wie den hohen sittlichen Ernst absprechen; dennoch bleibt es, auf der Bühne, ein ersonnener Vorgang. Daran vermochte auch die Kunst des Schauspielers nichts zu ändern. Herr  E d t h o f e r,  der nach zwei Jahren der Trennung von seinem Publikum ernster und gleichsam auch körperlich größer geworden, zu uns zurückkehrt, gibt mit einem ergreifenden Ernst und nicht ohne Größe den in seiner Theorie verstrickten Arzt. Frau  H ö f l i c h  verficht ihr Mutterrecht durch alle fünf Akte mit überwältigender Innigkeit; sie nimmt das letzte Wort des Schauspielers vorweg und ist von dem ersten Atemzug angefangen, den sie auf der Bühne tut, mehr Mutter als Frau. Trotzdem will sich die richtige tragische Ergriffenheit nicht einstellen, und der Zuschauer hat trotz aller angewandten Kunst und technischen Meisterschaft das Gefühl, eher einem vivisektorischen Versuch als einer Tragödie beizuwohnen.  Schönherrs Arzt hat recht, aber es genügt nicht, wenn ein tragischer Held recht hat, er muß immer auch noch etwas mehr als recht haben. Uebrigens: Auch Schillers Tuberkulose war höchstwahrscheinlich ererbt. Wäre darum der Menschheit ein Dienst erwiesen, wenn es einer fortgeschrittenen ärztlichen Wissenschaft gelungen wäre, sein Inslebentreten zu verhindern? Gewiß nicht der Menschheit und – obwohl man das Glück, ein großer Dichter zu sein, vermutlich nicht überschätzen darf – wahrscheinlich nicht einmal ihm selbst.

      […]                                                                                                                                                  R. A.

In: Neue Freie Presse, 27.12.1922, S. 1-3.