Das Neue Wiener Journal: Geschichte und Beispieljahr 1921


Inhaltsverzeichnis

  1. Angaben zu Format und Auflage (KP 1960, 155)
  2. Gründung – Ausrichtung – Etappen
  3. Redakteure und Redakteurinnen des Neuen Wiener Journals 1921
  4. (Theater)Feuilleton 1921
    1. Reigen-Skandal
    2. Russisches Theater in Wien
    3. Russische Gastspiele in Wien 1921
    4. Theaterrezensionen 1921

Von Martina Pipp | September 2018


1. Angaben zu Format und Auflage (KP 1960, 155)

1893

  • Format: 46,5 × 33 cm, dreispaltig à 9,5 cm
  • Auflage: 40.000 Provinz, 63.000 Wien (Eigenangabe)

1914

  • Auflage: 70.000 W
  • 100.000 S

1918

  • Format: 46,5 × 32,2 cm, dreispaltig à 9,5 cm
  • Auflage:
    • 1924: 40.000
    • 1926: 50.000
    • 1931: 60.000
    • 1935: 50.000 (am Sonntag oft doppelt)
2. Gründung – Ausrichtung – Etappen

Von Jakob Lippowitz gegründet, erschien das Neue Wiener Journal mit dem Untertitel Unparteiisches Tagblatt erstmals am 22. Oktober 1893. Die bürgerliche Zeitung mit einem großen Anteil an jüdischen Mitarbeitern, Mitarbeiterinnen sowie Financiers präsentierte sich als zeitgemäßes Konversationsblatt; standen doch als typisch weiblich definierte Themen wie Salons oder Mode, im Gegensatz zum Politik- und Wirtschaftsgeschehen, deutlich im Fokus der Berichterstattung. Im Feuilleton fanden sich zwar durchaus beachtenswerte künstlerisch-ästhetische Diskussionsbeiträge, dem Trivialem wie dem Privatleben verschiedener Künstler und Künstlerinnen wurde aber deutlich mehr Aufmerksamkeit gewidmet. Vor dem Ersten Weltkrieg wurde das Neue Wiener Journal – wie beispielsweise auch die Zeit – von anderen Zeitungen als serbenfreundlich kritisiert, und am 3. November 1915 für die Dauer von drei Wochen sogar eingestellt. Den Kriegszustand beurteilte man im Allgemeinen aber als entsprechend, so wehrte sich das Neuen Wiener Journal auch gegen alle Versuche, einen Verständigungsfrieden herbeizuführen. Die Ablehnung des verschärften U-Bootkrieges Deutschlands führte allerdings zu einer polemischen Auseinandersetzung mit der Ostdeutschen Rundschau. Im Jahr 1917 bekennt sich das Neuen Wiener Journal zur Februarrevolution, denn  

„Es ist ein merkwürdiges Verhängnis für Rußland, daß dort sich immer die gleichen Ereignisse wiederholen und daß die trägen Gehirne der leitenden Männer aus allen Beispielen noch nie eine Lehre gezogen haben. […] Der Mann, der Rußland erretten kann, fehlt und es zeigt sich, wie immer in kritischen Augenblicken, daß dort, wo der Mann der Fügung nicht aufersteht oder auferstehen darf, die Massen eingreifen.“ (NWJ, 13.3.1917, S. 2)

Freudig begrüßt wurde die Ausrufung der Ersten Republik am 12. November 1918: „Und so wird auch die Entente es wohl geschehen lassen müssen, was mit dem heutigen Tage zur Tat wird: Deutschösterreich Republik und gleichzeitig Bestandteil der großen sozialen deutschen Republik …“ (NWJ, 12.11.1918, S. 2)

Vom 2. August 1921 bis zum 7. Jänner 1922 erschien zusätzlich zur Morgen- auch die Abendausgabe des Neuen Wiener Journals, das Mittagblatt. Ohne seinen unterhaltenden Charakter aufzugeben, gewann die politische Berichterstattung im Neuen Wiener Journal während der Ersten Republik mehr an Gewicht und der Nachrichtenteil umfasste bald mehr als zwei Seiten. Das Feuilleton, beginnend auf der dritten Seite und in den Sonntagsausgaben bis zu 10 Seiten lang, beinhaltete neben dem klassischen Feuilleton (Literatur, Theater, Musik, bildende Kunst und Film) auch alltagskulturelle Beiträge sowie zwei Fortsetzungsromane. Politisch verfolgte das Neuen Wiener Journal keine partei-orientierte Richtung, neben einer antimarxistischen Grundeinstellung gab es betont pro-monarchistische Sympathiebekundungen und eine häufige Berichterstattung zionistischer Belange (KP 1960, 155). Nach den Ausschreitungen des 15. Julis 1927 erschien zwei Tage lang keine Ausgab des Neuen Wiener Journals. Am 18. Juli folgte eine ausführliche, sich auf die amtliche Darstellung stützende Berichterstattung, die sich jeglicher politischen Positionierung entzog und sogar die Anstrengungen des sozialdemokratischen Wiener Bürgermeisters Seitz, der Feuerwehr Zugang zum brennenden Justizpalast zu verschaffen, schätzte (NWJ, 18.7.1927, S.1-6). In den 1930er Jahren wurde zunehmend das lokale Geschehen fokussiert, obwohl ein abgetrennter Lokalteil nicht eingerichtet wurde. Seitens der Arbeiter Zeitung erfolgten Korruptionsvorwürfe (KP 1960, 156). Um der linksorientierten Presse zu schaden, befürwortete das Neuen Wiener Journal im März 1933 die Auflösung des Parlaments sowie die Notverordnung. Aufgrund der fehlenden internationalen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, gingen mit den Ereignissen von 1938 Besonderheit und Anreiz verloren. Am 31. Januar 1939 erschien das Neuen Wiener Journal zum letzten Mal, einen Tag später wurde es mit dem Neuen Wiener Tagblatt und der Neuen Freien Presse zusammengelegt und als Neues Wiener Tagblatt herausgegeben (KP 1960, 156f.).

3. Redakteure und Redakteurinnen des Neuen Wiener Journals 1921

Im Jahr 1921 war Willibald Riedl (28. August 1898 bis 3. April 1923) leitender Redakteur des Neuen Wiener Journals (HWL 2003, 62).

Zu den oft publizierenden Personen zählten unter anderem:

  • Hermann Bahr (* 19. Juli 1863 in Linz; † 15. Januar 1934 in München) berichtete in der Rubrik Tagebuch jeden Sonntag über zeitaktuelle Erlebnisse aus Kunst und Kultur.
  • Klothilde Benedikt (* 24. Oktober 1868 in Wien; † 18. Oktober 1939 in Wien) verfasste 1921 Porträts (Fam. von Georg Büchner, Josef v. Sonnenfels, Henri Barbusse, Karl Blasel uvm.) und war neben ihrer journalistischen Arbeit als Vereinsfunktionärin (Verband „weibliche Fürsorge“ sowie Verein Frauenhort; beide in Wien) tätig.
  • Elsa Bienenfeld (*23. August 1877 in Wien; † 26. Mai 1942 im KZ Maly Trostinez bei Minsk) war eine österreichische Musikhistorikerin und Musikkritikerin jüdischer Herkunft Porträts über Paul Bekker, Marie Jeritza, Franz Schalk, Richard Mayer, Julius Bittner, Adolf Busch, Engelbert Humperdinck, Max v. Schillings; div. Opernrezensionen (Julius Bittner „Die Kohlhaymerin“)
  • Egon Dietrichstein (* 13. Juni 1889 in Wien; † 18. August 1937 in Wien) war ein Wiener Journalist und Schriftsteller, der Reiseberichte über Oberschlesien und Italien sowie Glossen u.a über Postillion oder die Cafékultur schrieb.
  • Max Foges‘ (* 27. März 1867 in Prag; † 17. Dezember 1921 in Wien) Ehefrau Ida Foges war ebenfalls Redakteurin des Neuen Wiener Journals und verfasste hauptsächlich Glossen über Mädchenbildung, Eltern-Kind-Beziehung oder den goldenen Käfig.
  • Egon Friedell (* 21. Jänner 1878 in Wien; † 16. März 1938 in Wien) schrieb Glossen, Kommentare und Rezensionen, in denen er sich über Idealismus, Aufklärung diverse Inszenierungen, den Fall Georg Kaiser äußerte.
  • Max Graf (* 1. Oktober 1873 in Wien; † 24. Juni 1958 in Wien)
  • Ludwig Hatvany (* 28. Oktober 1880 in Budapest; † 12. Januar 1961 in Budapest) war ein ungarischer Literaturkritiker und Schriftsteller. 1921 erschien u.a. seine Erzählung Das verschlossene Tor im Neuen Wiener Journal.
  • Fred Heller (* am 16. April 1889 in Obersiebenbrunn; † 12. April 1949 in Montevideo) war ein österreichischer Feuilletonist, Schriftsteller, Theaterkritiker, Librettist sowie Exilant. U.a. schrieb er über Frauenherrschaft in den USA, Jazz-Dämmerung, Wiener Spiegelbilder oder Kinomusik.
  • Anna Hottner-Grefe (* 17. März 1867 in Wien; † 18. Februar 1946 in Wien) war eine österreichische Schriftstellerin und Redakteurin des Neuen Wiener Journal. Neben ihren Streifzügen durch Wien erschienen auch einige ihrer Erzählungen.
  • Leopold Jacobson (* 30. Juni 1873 in Czernowitz; † 23. Februar 1943 im Ghetto Wien Theresienstadt) verfasste vorwiegend Theaterrezensionen.
  • Siegfried Loewy (* 1. November 1857 in Wien; † 8. Mai 1931 in Wien) war ein österreichischer Schriftsteller, Journalist und Theaterkritiker. Im Feuilleton des Neuen Wiener Journal veröffentlichte er Glossen, Porträts und Rezensionen.
  • Klara Mautner (* 20. März 1879 in Wien; † 22. Oktober 1959 in Wien) war eine österreichische Journalistin sowie Übersetzerin und befasste sich im Neuen Wiener Journal mit ähnlichen Themen wie ihre Kollegin Elsa Tauber.
  • Karl Marilaun führte für das Neuen Wiener Journal Gespräche mit Musikern, Schauspielern, Sängern.
  • Hermann Menkes (* 15. Juli 1869 bzw. nach anderen Angaben auch 1863 bzw. 1865 in Brody; † 11. Juni 1931 in Wien) war ein Kunst- und Literaturkritiker, Redakteur, Schriftsteller. ImNeuen Wiener Journal verfasste er u.a. Feuilletons über die neue Erzählkunst und die neue Erzählliteratur, Berichte über verschiedene Ausstellungen oder Glossen über das Jugendgericht.
  • Kurt Sonnenfeld (* 5. November 1893; † 15. März 1938) Schriftsteller, Journalist, Kritiker
  • Erwin Stranik (* 3. Juli 1898 in Wien; † 25. April 1948 in Praha) war ein Journalist und Kulturhistoriker aus Wien. In seiner Jugend synchronisierte er Filme für Hollywood.
  • Eleonore van der Straten-Sternberg
  • Elsa Tauber (* 26. August 1884 in Wien; † 1941vermutlich in Wien erschlagen)
  • Alois Ulreich (* 8. April 1877 in Wien; † 19. November 1946 in Wien)
  • Erwin Weill (* 2. November 1885 in Wien; † vermutlich nach dem 9. Januar 1942 im KZ Riga-Kaiserwald) war ein österreichischer Schriftsteller.
  • Felix Weingartner (* 2. Juni 1863 in Zadar; † 7. Mai 1942 in Winterthur) war ein österreichischer Dirigent, Komponist, Pianist und Schriftsteller.

Fortsetzungsromane wurden 1921 von Hedwig Courths-Mahler (Das Geheimnis einer Namenlosen, Der Mut zum Glück, Vergangenheit, Die verschleierte Frau), Erich Ebenstein (Zweierlei Maß, Trödlergasse Nr. 4) Helene Butenschön – unter dem Pseudonym Fr. Lehne – (Sie ging den falschen Weg), Erich Friesen (Du sollst nicht richten), Arthur Winckler-Tannenberg (Verbrieftes Anrecht) und Anny Wothe (Warum?) im Neuen Wiener Journal veröffentlicht.

4. (Theater)Feuilleton 1921

Mit dem Schwerpunkt auf das Theaterfeuilleton werden im Folgenden verschiedene Aufführungen des Jahres 1921 diskutiert. Ausgehend von Zeitungsartikeln aus dem Neuen Wiener Journal liegt ein besonderes Augenmerk auf kontroversen, besonders positiv aufgenommenen oder teilweise wenig beachteten Inszenierungen. Ein Stück, das großen Teil der öffentlichen Resonanz erfahren hatte,– wenn nicht die meiste – war Arthur Schnitzlers Reigen.

4.1. Reigen-Skandal

„Die Zensur hat ihr vormärzliches Kleid lange noch nicht abgestreift“ (NWJ, 27.2.1921, S. 9), so Siegfried Loewy und ordnet den Reigen-Skandal von 1920/21 in eine Reihe prominenter Zensurfälle der vorangegangen 60 Jahre ein, noch nicht wissend, dass es sich um den Zensurfall des 20. Jahrhunderts handeln werde. Nach der Uraufführung vom 23. Dezember 1920 am kleinen Schauspielhaus in Berlin, löste der Reigen von Arthur Schnitzler einen der größten Theaterskandale des 20. Jahrhunderts aus. Gehüllt in den Deckmantel eines Literatur- bzw. Theaterdiskurses, ging es eigentlich um ein Machtspiel zwischen Politik, Moral, Zensur und Einfluss (AP 1993, 81). Die Reigen-Geschehnisse zeigten vor allem die Zwangslage der neu entstandenen Demokratien der Nachkriegsjahre in Berlin und Wien auf: Die demokratischen Freiheiten wollten auch jene für sich einfordern, die darauf bedacht waren, die Verfassung zu zerstören. So bildete sich am Ende des deutschen Kaiserreichs sowie an jenem der Habsburgermonarchie ein Vakuum aus staatlicher Autorität heraus, das gefüllt werden wollte. Antisemitismus als Mittel der Emotionalisierung kam bereits in der Anti-Reigen-Propaganda dieser Epoche zum Tragen (AP 1993, 11). Die Reichspost fungierte hier als eine Art Anzünder, hinter den Taten und Störaktionen stand aber vor allem der 1919 gegründete Antisemitenbund
Politischer Ausgangspunkt war folgender: Bei den Nationalratswahlen von 1920 ging die christlich-soziale Partei als klarer Sieger gegenüber den Sozialdemokraten hervor. Nachdem letztere aus der ersten Koalitions-Regierung ausschieden, kündigte der christlich-soziale Parteiführer Ignaz Seipel an, dass seine Partei den „revolutionären Schutt“ beseitigen müsse. Mit dem Plan, das Land wirtschaftlich zu sanieren, ging auch die Idee eines kulturellen und geistigen Umbaus einher (AP 1993, 82ff).

Mit Spannung erwartete man die Reigen-Premiere am 1. Februar 1921 in den Kammerspielen des Deutschen Volkstheaters in Wien nach der Uraufführung in Berlin und den darauffolgenden Verboten, Protesten und Ausschreitungen. Aufgrund einer Ankündigung der christlich-sozialen Presse, sich diese Aufführung nicht gefallen lassen zu wollen, war man schon im Vorfeld auf Störungen gefasst (NWJ, 2.2.1921, S. 9). So schreibt die konservative Reichspost am Tag der Aufführung:

„[…] unter den traurigsten Verfallserscheinungen, welche die Abwärtsbewegung der neumodischen ‚Theaterkultur‘ kennzeichnen, bedeutet diese Aufführung des ‚Reigens‘ den bisher tiefsten Tiefstand. […] Diesen 1. Februar 1921, diesen Tag, an dem es eine Wiener Bühne ungestraft wagen durfte, sich zum Schauplatze geilster pornographischer Literatur zu machen, den müssen wir uns gut merken. An diesen Tag werden wir die Behörden erinnern, wenn sie über den fortschreitenden Sittenverfall klagen. Mit dem ‚Reigen‘ hat Schnitzler das Theater, das ein Haus der Freuden sein sollte, zu einem Freudenhause, zum Schauplatz von Vorgängen und Gesprächen gemacht, wie sie sich schamloser in keiner Dirnenhöhle abwickeln können. Schnaufende Dickwänste mit ihrem weiblichen Anhange, der den Namen der deutschen Frau schändet, sollen sich jetzt dort allabendlich ihre im wüsten Sinnentaumel erschlafften Nerven aufkitzeln lassen. Allein wir gedenken den Herrschaften das Vergnügen bald zu verleiden.“ (RP, 1.2.1921, S. 4)

Zwar konnte die Premiere ohne Zwischenfälle – und sogar mit großem Beifall seitens des Wiener Publikums – zu Ende gespielt werden, allerdings kam es bei darauffolgenden Vorstellungen zu Ausschreitungen. So demonstrierten rund 200 Jugendliche nach einer Versammlung des Volksbunds der Katholiken Österreichs gegen die geplante Reigen-Vorstellung in den Kammerlichtspielen (DM, 14.2.1921, S. 2). Die Abendvorstellung des 16. Februars musste unterbrochen und abgesagt werden. „Die Eindringlinge verursachten einen heftigen Lärm, warfen Stinkbomben, schleuderten Sessel und Bänke aus den Logen in das Parkett, und es entstand eine Panik […]“ (NWT, 17.2.1921, S. 1)

Die Bundesregierung – auch im Parlament kam es aufgrund des Reigen-Diskurses zu einem Handgemenge zwischen Sozialdemokraten und Christlichsozialen – reagierte mit einem Aufführungsverbot des Reigens. Dazu das Prager Tagblatt:

„Der ‚Reigen‘ hätte also ruhig weitergespielt und hundert Aufführungen erleben können, wenn nicht eines Tages die christlichsoziale „Reichspost“ gefunden haben würde, daß Schnitzlers Werk eine Schweinerei und aus Sittlichkeitsgründen zu verbieten sei. […] Sie wollten mit dem oft angewendeten Sittlichkeitsrummel ausprobieren, wer der Stärkere in Wien ist, der sozialdemokratische Bürgermeister Reumann, der als Landeshauptmann von Wien den ‚Reigen‘ gestattet hat, oder die christlichsoziale Demagogie, der es wieder danach gelüstet, sich als Herrin Wiens aufzuspielen.“ (PT, 12.2.1921, S. 1f.)

Auch das Neue Wiener Journal positionierte sich deutlich, nämlich gegen die Zensurierung auf Druck der Straße hin und für Aufführungsfreiheit:

„Man hat die Zensur des Stadthalterrates nicht mühselig fortgedrängt, um die des Tapezierergehilfen über sich ergehen zu lassen. Man wird sich von den Leuten, die ihrer Verantwortung wohl bewußt, im Dunkel bleiben, nicht die Richtungen vorschreiben lassen, in denen sich das Dichten und Denken zu bewegen hat. Jetzt hat diese Angelegenheit mit dem Schnitzlerschen ‚Reigen‘ gar nichts mehr zu tun. […] Es gilt Höheres. Der Kampf um den ‚Reigen‘ ist jetzt besonders nach den Szenen von Mittwoch symptomatisch geworden. Es ist ein Kampf zwischen Stinkbomben und Geistigkeiten, zwischen der Freiheit der Idee und ihrer Beherrschung durch Leute, die nicht hervortreten wollen.“ (NWJ, 18.2.1921, S.1f.)

Wohl am Wiener Reigen-Skandal orientiert, kam es auch in Berlin, nach über 50 friedlichen Vorstellungen, zu Krawallen mit Stinkbomben. Im Gegensatz zu Wien aber besser darauf vorbereitet, – die Direktion veranlasste ein Großaufgebot an zivil gekleideten Polizisten, die im Zuschauerraum untergebracht waren – konnte die Vorstellung nach einer Unterbrechung fortgesetzt werden (NWJ, 23.2.1921, S. 3). Der prominente deutsche Publizist Maximilian Harden sparte allerdings in seinem Gutachten über Schnitzlers Reigen weder mit persönlichen Angriffen noch mit Kritik. „Daß dieses Ding wurde, ist kein Unglück; wäre es nie geworden: kein der Pflege wertes grünes Spitzchen fehlte im Garten unserer Literatur.“ (NWJ, 11.1.1921, S.4) Schnitzler selbst antwortete auf dieses Gutachten, vor allem, um klar zu stellen, dass Max Reinhardt für die Inszenierung des Reigens nicht überredet werden musste (NWJ, 30.1.1921, S. 6). Schnitzler wusste, dass sich zwar viele für die Aufführung des Reigens einsetzten, vor allem aber, um sie kulturpolitisch für sich zu instrumentalisieren (BR 2002, 321). 1921 schrieb Schnitzler in sein Tagebuch: „Die Zeitungen erfüllt vom ‚Reigen‘. Welches Spiel der Verlogenheiten. Politicum. Unaufrichtig Feind wie Freund.– Allein, allein, allein.–“ (AS 1993, 141) Auf den Reigen-Skandal folgten von 5. bis 18. November 1921 die Reigen-Prozesse. Die Regisseure sowie einige Schauspieler und Schauspielerinnen der Uraufführung von Berlin wurden wegen „Erregung öffentlichen Ärgernisses“ angeklagt. Wie schon die Aufführungen zuvor wurden auch die Prozesse heftig diskutiert und reichten weit über die Grenzen von Literatur und Kunst hinaus. Letzten Endes ging es um die Frage der Zensur, inwieweit sich der Staat in die Kunst einmischen dürfte. Der Prozess endete mit Freisprüchen für die Angeklagten und wurde zu einem bedeutenden Präzedenzfall des modernen Theaters (AP2 1993, 59-71). Aufgrund der Reigen-Kontroverse bat Schnitzler den die Aufführungsrechte besitzenden S. Fischer Verlag, keine weiteren Vorstellungen des Stückes zu genehmigen. Arthur Schnitzlers Sohn Heinrich verlängerte über den Tod seines Vaters hinaus dieses Verbot, das bis zum 1. Januar 1982 bestehen blieb (AP 1993, 9).

4.2. Russisches Theater in Wien

Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts war das Ensemble des Moskauer Künstlertheaters in Wien und Berlin zu Gast und feierte große Erfolge. Ähnlich wie im Jahr 1906 mussten die Russen in den 20er Jahren vor den Bolschewisten flüchten (MZ, 11.4.1921, S. 6). Am 26. Oktober 1921 schreibt das Neuen Wiener Journal:

„Der Bolschewismus hat das Aussehen Rußlands vollkommen verändert. Er hat das Unterste zu oberst gelehrt, er hat manche Erscheinungsformen des menschlichen Daseins vernichtet, andere so gewandelt, daß sie nicht wieder zu erkennen sind. Aber eine Säule ragt heute noch ungebrochen und selbst ohne den mindesten Sprung weit über das Trümmerfeld hinaus: die wahre, echte Kunst, zu der Stanislawski und Nemirowitsch-Dantschenko auf dem Boden Moskaus den Grund gelegt und, mit nie ermüdender leidenschaftlicher Hingebung weiterbauend, diese bis zur Höhe einer stolzen Siegessäule emporgehoben haben.“ (NWJ, 26.10.1921, S. 5)

Aufgrund der Oktoberrevolution 1917 veränderte sich die kulturelle, politische und soziale Situation in Russland grundlegend. Die bolschewistische Machtergreifung und der andauernde Bürgerkrieg führten zur „ersten Welle“ der russischen Emigration, die bis zum Ende der 1920er Jahre andauerte. Unternehmer, Adlige, Klerus, Militärs, Intellektuelle sowie zahlreiche Künstler emigrierten in den Westen. Wien war im Gegensatz zu Paris, Berlin oder Prag noch am wenigsten betroffen (RZ 1996, 144f). Viele Flüchtlinge waren zu Beginn der Emigrationswelle noch davon ausgegangen, dass es sich um einen kurzen Aufenthalt im Ausland handeln würde und sie schon bald nach Russland zurückkehren könnten (LS 1993, IX). Viele Künstler und Theatergruppen beabsichtigten demnach nicht zu emigrieren; blieben aber, ihres Heimatlandes durch den fortwährenden Bürgerkrieg beraubt, im Westen. Die Anfänge des Moskauer Künstlertheaters in Russland beschreibt Sergius von Berthennson, Interimsleiter des russischen Ensembles, beschrieb wie folgt:

„Das Moskauer künstlerische Theater geht auf einen Verein von Liebhabern und Amateuren zurück, der ähnlich wie das Théâtre Libre Antoines eine Revolutionierung der zeitgenössischen Literatur und des Theaters anstrebte. Schüler und Dilettanten vereinigten sich unter der geistigen Leitung der Schauspieler Stanislawski und Nemirowitsch-Dantschenko zu einer Gemeinde, deren Angehörige genau so wie die Enthusiasten des Pariser Antoine oder die Schauspieler des Herzogs von Meinigen einen beinahe religiösen Kultus mit ihrer Kunst trieben. […] Wir waren einfach Rebellen, wir protestierten gegen die herkömmliche theatralische Affektation, gegen Lüge und Uebertreibung, gegen jede zur Gewohnheit und zum Metier gewordene Tradition im Theater.“ (NWJ, 2.2.1921, S. 5)

Das „neue Theater“ naturalistischen Ursprungs wurde Ende des 19. Jahrhunderts gegründet und feierte seinen ersten Erfolg mit Tschechows Die Möwe – die weißen Flügel wurden zum Symbol des Moskauer Künstlertheaters. Laut Berthennson ließen sich drei Perioden unterscheiden: Erstens die realistische Phase, orientiert an Tschechow, Hauptmann, Tolstoi und Shakespeare; zweitens jene vom Symbolismus Ibsens, Maeterlincks, Hamsuns geprägte Periode und drittens das Theater des innerlichen Erlebens, in welchem der Schauspieler selbst die Rolle erschafft und das Werk durchlebt. Diese Einteilung galt bis Juni 1919, als die Gruppe des Künstlertheaters aus Moskau abreiste. Länger als ein Jahr blieben sie ohne Kenntnisse von den Ereignissen in der Heimat. Dass viele von den Daheimgebliebenen „Fahnenflucht“ begingen, erklärte Berthennson dem Neuen Wiener Journal folgendermaßen:

„Die Künstler hungerten buchstäblich, einer der bedeutendsten und populärsten Schauspieler Rußlands ist vor kurzer Zeit, aufgerieben von Mangel, Entbehrung und psychischen Erschütterungen, zugrundegegangen. Wir selbst haben aus Rußland nur das nackte Leben gerettet, sind ohne Nachrichten von unseren Freunden und Verwandten und haben in dieser Situation von Schiffbrüchigen nur Trost, einen unzerstörten Teil unserer russischen Kunst behüten und fern von der Heimat verkünden zu dürfen.“ (NWJ, 2.2.1921, S. 5)

Das Moskauer Künstlertheater bestand zum Großteil aus Amateuren, die keiner Schauspielerdynastie entsprangen, wie es etwa beim staatlich-akademischen Maly-Theater Russlands üblich war. Stanislawski stammte aus einer Fabrikantenfamilie, der Vater vom Regisseur und Schauspieler Meyerhold war Weinhändler und Kačalov gehörte einer Priesterfamilie an (SO 1993, 90). Dass die russischen Schauspieler und Schauspielerinnen sowohl vom Publikum als auch von den Kritikern durchwegs positiv – teilweise geradezu enthusiastisch – aufgenommen beziehungsweise für ihre Bühnenauthentizität gefeiert wurden, ist durchaus auf das Erlebte zurückzuführen. Im Gespräch mit Neuen Wiener Journal-Redakteur Emil Reich erzählt die russische Schauspielerin Maria Nikolayevna Germanova, dass sie, geprägt durch die Ereignisse in der Heimat, sich nunmehr eher mit den tragischen als mit den dramatischen Rollen identifizieren kann (NWJ, 22.10.1921, S. 4). Joseph Roth beschreibt das Moskauer Künstlertheater als „den wilden Duft ihrer Heimat, der Verlassenheit, des Bluts, der Armut, des außergewöhnlichen, romantischen Schicksals“ (JR 1990, 591)

Im Jahr 1921 wurden u.a. Drei Schwestern, Onkel Wanja sowie  Der Kirschgarten von Anton Pawlowitsch Tschechow, Die drei Brüder Karamasow vonFjodor M. Dostojewski und Nachtasyl von Maxim Gorki von dem russischen Ensemble aufgeführt (MZ, 11.4.1921, S.6).  Im Gegensatz zum deutschen Theater verzichtet das russische auf Souffleusen – diese würden nur stören und es ginge ja darum, eine möglichst lebenswahre Darstellung aufzuführen – und auch der Wechsel der Dekorationen wird von den Schauspielern und Schauspielerinnen selbst vorgenommen (NWJ, 22.10.1921, S. 4). Das Wiener Feuilleton zeigt sich von dem russischen Gastspiel durchwegs begeistert. Die Neue Freie Presse und die Reichspost betonen die Akribie im Umgang mit Sprache sowie die tief wirkende Darbietung und Dramatik, ohne dabei das Authentische ihrer Kunst zu entziehen (NFP, 17.4.1921, S. 1ff; RP, 24.4.1921, S. 11). Die russische Regiekunst „gibt nicht nur das Atmosphärische des Stücks wieder, sie macht auch noch das Seelische sichtbar“ (NFP, 10.4.1921, S. 10). Einfach, unkompliziert und natürlich seien folglich die Schlüsselbegriffe des Erfolges (RP, 24.4.1921, S. 11). Felix Dörmann betonte am Beispiel der Drei Schwestern „welch ein Unterschied zwischen der üblichen Wiener Schnellsiederei und einer wirklich künstlerischen Arbeit klafft.“ (MZ, 11.4.1921, S. 6) Trotz fehlender Russischkenntnissen, berichtet er von einem besonderen Kunsterlebnis: „Ueber das leere Wortbild hinaus wirken die angeschlagenen Töne, wirkt der Naturlaut, wirkt die seelische Durchstrahlung und seelische Ausstrahlung, die von diesen Künstlern ausgeht. Eine der seltenen Fälle, wo man in der Schauspielkunst so etwas wie eine produzierende Kraft verspürt.“ (MZ, 11.4.1921, S. 6) Die Rollenbesetzungen sind exakt ausgewählt und bis auf die Klangfarbe abgestimmt. Zufälle, Notbesetzungen oder unvorhergesehene Ereignisse gibt es nicht.

„Die darstellenden Künstler suchen keine Wirkung außerhalb des Stücks über die Dichtung hinaus oder womöglich gegen den Dichter, sie sind nur getreue Vollstrecker, Vollender und Ergänzer essen, was ihnen Tschechow als Grundlage ihrer Menschendarstellung geboren. Es wird keine Form und kein Stil gesucht, es herrscht nur das heiße Bemühen, Menschen menschlich zur bringen und auf diesem Wege beste und elementarste Wirkung zu erzielen.“ (MZ, 11.4.1921, S. 6)

Robert Musil, ähnlich wie Felix Dörmann kein Russisch beherrschend, attestierte dem Moskauer Künstlertheater „die Vollkommenheit des Schauspiels“ (RM 1978, 1477). Die Schauspieler und Schauspielerinnen erlernen bei Stanislawski das Singen vor dem Darstellen von Menschen, im Gegensatz zum westlichen Usus, wo es nebenbei gelehrt wird. Das Sprechen ende dabei niemals in Gesang – Musil erinnert an das „Chorgeplärr der modischen Bühne“ (RM 1978, 1477) –, sondern bestehe sprachlich auf einer rhythmisch-facettenreichen Ebene fort. Die besondere Lenkung der Aufmerksamkeit des Publikums ist ein weiterer Überlegenheitsfaktor der Moskauer Künstler und Künstlerinnen. Durch das Aussparen von Requisiten, schaffen es die Regisseure, das Interesse so zu lenken, dass dem Zuschauer nichts entgeht. „Sie geben den von allen schauspielerischen Nebengeräuschen befreiten reinen Klang, den Klang der Dichtung, und was sie spielen, ist nicht mehr Theater, sondern Kunst“ (RM 1978, 1478). Demnach lehnt Musil auch die Kategorisierung, das Moskauer Stils als impressionistisch oder naturalistisch, klar ab. Er definiert ihn als „Kunst der Zukunft“ (RM 1978, 1478). Gerade weil sich die Moskauer Künstler von der Dichtung leiten lassen, bemerkt auch Musil, dass das Reiseleben, die Trennung von Stanislawski und die Inszenierung von weniger dichterischen Werke wie die Geigen des Herbstes, das gewohnt hohe Moskauer Niveau verwässern (RM2 1978, 1529). Neben den durchwegs positiven Rezensionen und Auffassungen über das Moskauer Künstlertheater als solchen, erinnert Joseph Roth an das Schicksal der Emigranten (JR 1990, 591f). Die Europäer besaßen gewisse Klischeevorstellungen von Vertriebenen, Verlassenen und Heimatlosen. Die Russen taten das ihrige und erfüllten diese, assimilierten sich und blieben so zum Teil vorrevolutionären Zeiten verbunden. Sie empfanden sich als die wahren Vertreter Russlands; alles, was nach 1917 in Russland entstand, denunzierten sie als nicht-russisch. „Das Gefühl, Träger einer »Rolle« zu sein, linderte vielleicht ihr Elend. Sie trugen es leichter, wenn sie literarisch gewertet wurden“ (JR 1990, 591).

4.3. Russische Gastspiele in Wien 1921
  • Russisch-jüdisches Ensemble (Jüdische Bühne und Rolandbühne): 14. bis 18. März vermutlich bis Sommer 1922
  • Gruppe des Moskauer Künstlertheaters (Wiener Stadttheater): 8. bis 25- April
  • Kačalovsche Gruppe des Moskauer Künstlertheaters (Wiener Stadttheater): 20. Oktober bis 14. November
4.4. Theaterrezensionen 1921

„Das Theater ist Irrtum, nicht nur das Leben. Daran scheitert auch das Drama Claudels; es ist nur Predigt für Feiertagsstunden“, so Leopold Jacobson Redakteur des Neues Wiener Journals (NWJ, 25.2.1921, S. 3). Ein junger Mann verliebt sich in ein junges Mädchen und heiratet es, merkt aber schon bald, dass er sich zu früh gebunden hat. Das Paar trifft auf einen reichen Amerikaner und dessen Geliebte, welcher der junge Mann zugleich verfällt und ihn dazu veranlasst, dem Amerikaner ein Tauschgeschäft vorzuschlagen. In den Worten von Alfred Kerr:

„Wer tauscht? Was wird getauscht? Man sieht zwei Paare. Der Mann des ersten Paares will die Frau des anderen Paares. Die Frau des ersten Paares will den Mann des andern Paares. Quartett? Beiden mißlingt es. Und alle werden unglücklich. So der Lageplan des Werkes.“ (AK 2001, 295)

Paul Claudels dreiaktiges Drama Der Tausch wurde am 24.2.1921 am Wiener Burgtheater zum ersten Mal aufgeführt. Die Handlung einer Dreiecksbeziehung, die auf ein Viereck (RM3 1978, 1472) ausgedehnt werden soll, bestehe laut Leopold Jacobson zwar aus schönen dichterischen Worten, allerdings wirken diese in der Ausführung kaum (NWJ, 25.2.1921, S. 3). Das „Kredo einer höheren Sittlichkeit“ (NWJ, 25.2.1921, S. 3). kann aus der Theorie heraus nicht überzeugend transportiert werden. Claudel selbst trägt den Ruf des christlichen Dichters; hatte er doch im Alter von 18 Jahren während des Weihnachts-Gottesdienstes in der Pariser Kathedrale Notre-Dame ein religiöses Bekehrungserlebnis zum katholischen Glauben (PAL 1964, 136). Musil kritisiert, – übrigens in der gleichen Rezension, in der er auch über den Reigenskandal schreibt,– dass aus den handelnden Personen zu stark der katechetische Wortlaut widerhalle und erinnert daran, dass das Theater keiner „moralischen Bedürfnisanstalt“ (RM3 1978, 1473) gleiche. Höflicher hingegen formuliert Heinrich Leoster seine Theaterkritik im Morgen. Er empfindet Claudel nicht als Dramatiker, sondern als Poeten, dem die Heiligung des Trieb- und Seelenlebens das wichtigste Streben ist (DM, 28.2.1921, S. 4). Allerdings ist auch ihm der Ausgang der Handlung – der junge Mann wird erschossen von seiner Frau und dem Amerikaner aufgefunden und ins Haus getragen – schleierhaft. Im letzten Akt inszeniert Bühnenbildner Alfred Koller Glühwürmchen, um die Nacht darzustellen. „Aber ich nehme es gern symbolisch; wahrscheinlich sollten die Glühwürmchen Licht in das Dunkel des Ausganges dieser Dichtung bringen. Dann freilich hätten ihrer noch viel mehr sein müssen …“ (DM, 28.2.1921, S. 5) Hans Liebstöckel im Pester Lloyd gibt sich zustimmend „Könnte er [der Kritiker] Gegenständliches zu Paul Claudels ‚Verkündigung‘ sagen, dürfte er seines Witzes Würde an ein Unternehmen wagen, das dem Geheimnis unbefleckter Empfängnis diente?“ (PL, 24.2.1921, S.1)

Und Pippa tanzt! Nach der deutschen Uraufführung am 19. Januar 1906 im Berliner Lessingtheater, folgte im November 1921 die Inszenierung Hauptmanns Dramas in vier Akten am Wiener Burgtheater.

Vier Männer – der Glashüttendirektor, der alte Huhn, der junge Michel Hellriegel und der weise Wann – begehren das junge für die sie tanzende Mädchen Pippa. Es zähle noch zu einer späten realistischen Phase Hauptmanns. Die Gefahr bestehe dabei, das Realistische zu suchen und sich zu verlaufen, handle es sich bei Und Pippa tanzt doch um ein Märchen (AZ, 15.11.1921, S.8). „Wer sich ans Märchen hält, kommt auch in ‚Pippa tanzt‘ zurecht und wird dem Dichter gerecht. Wer die Logik des Alltags darin sucht, wird kopfschüttelnd vor den krausen Zeichen stehen“ (AZ, 15.11.1921, S.8). Einräumend, dass die Inszenierung überaus diffizil sei, erteilt David Josef Bach dem von Regisseur Albert Heine gewählten Stil eines Puppenspiels eine Absage. Die Bühne müsse der Dichtung folgen und nicht umgekehrt (AZ, 15.11.1921, S. 8). Otto Stoessl erkennt in der Und Pippa tanzt!-Aufführung die Bringschuld des Burgtheaters, Hauptmanns Werke endlich aufzuführen, nachdem weder Hanneles Himmelfahrt noch Der Biberpelz dem Wiener Publikum vorgeführt wurden (WZ, 12.11.1921, S. 3). Warum das Burgtheater auf dieses „skurrile Zwischenwerk“ (NWJ, 11.11.1921, S. 4), das sich jeden Erklärungen entziehe, zurückgreift, erscheint auch Leopold Jacobson nicht nachvollziehbar. „Jeder sieht es anders, jeder hört es anders, jedem gib es einen anderen Klang“ (NWJ, 11.11.1921, S. 4). Dennoch dürfe dieses Stück im Gesamtwerk von Gerhart Hauptmann nicht fehlen, so Jacobson, „weil es etwas von dem Phantastischen wiedergibt, das in einem Dichtergehirn leuchtet und nach Darstellung ringt“ (NWJ, 11.11.1921, S. 4). Von Hauptmann, der sich vom Schiller-Jüngling zum Goethe-Abbild entwickelt habe, könne ohnehin alles gezeigt werden, „die Menge huldigt ihm voll Herzlichkeit“ (NWJ, 11.11.1921, S. 4). Inspiriert durch die Beziehung zu der damals 16-jährigen Schauspielerin Ida Orloff bezeichnet Hauptmann Pippas Tanz dreißig Jahre später als inneres Drama, als einen dichterischen Befreiungsversuch, in dem er sich und seine Leidenschaften in vier Personen aufteilt (PS 1984, 174ff.).

Neben dem Schnitzler‘schen Reigen, den Aufführungen des Moskauer Künstlertheaters, Claudels Tausch und Pippa tanzt! von Hauptmann gab es 1921 noch viele andere Inszenierungen; u.a. Die Schwärmer von Robert Musil oder die Georg-Kaiser-Matinee am Raimund Theater. Des Weiteren begann mit 1921 auch die Präsenz von Karl Heinz Martin am selbigen, die noch bis 1925 dauerte und neue Standards im Theater setzte.


Literaturverzeichnis
SIGLEN
  • AK 2001 = Alfred Kerr: Paul Claudel. Der Tausch. In: Günther Rühle (Hg.): Alfred Kerr »So liegt der Fall«. Theaterkritiken 1919-1933 und im Exil. Frankfurt/Main: S. Fischer 2001 (Bd. VII,2), S. 295-300.
  • HWL 2003 = Helmut W. Lang/Ladislaus Lang/ Wilma Buchinger: Bibliographie der österreichischen Zeitungen 1621–1945. N–Z. In: Helmut W. Lang (Hg.): Österreichische Retrospektive Bibliographie (ORBI) (= Reihe 2): Österreichische Zeitungen 1492–1945. Bearbeitet an der Österreichischen Nationalbibliothek. München: K. G. Saur 2003 (Bd. 3).
  • PAL: 1964 = Paul-André Lesort: Paul Claudel. In Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1964.
  • RM3 1978 = Robert Musil: Zusammenhänge (30. März 1921). In: Adolf Frisé: Robert Musil. Gesammelte Werke. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1978 (Bd. 9), S. 1471-1474.
  • RM 1978 = Robert Musil: Moskauer Künstlertheater (24. April 1921). In: Adolf Frisé: Robert Musil. Gesammelte Werke. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1978 (Bd. 9), S. 1476-1470.
  • RM2 1978 = Robert Musil: Nachwort zum Moskauer Künstlertheater (25. November 1921). In: Adolf Frisé: Robert Musil. Gesammelte Werke. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1978 (Bd. 9), S. 1526-1529.
  • SO 1993 = Sergei Ostrovsky: Maria Germanova and the Moscow Art Theatre Prague Group. In: Senelick, Laurance (Hg.): Wandering Stars. Russian Emigré Theatre 1905-140. Univ. of Iowa Press: Iowa City 1993.
  • AP 1993 = Alfred Pfoser/Kristina Pfoser-Schewig/Gerhard Renner: Schnitzlers Reigen. Band 1. Der Skandal. Frankfurt a. M.: Fischer 1993.
  • AP2 1993 = Alfred Pfoser/Kristina Pfoser-Schewig/Gerhard Renner: Schnitzlers Reigen. Band 2. Die Prozesse. Frankfurt a. M.: Fischer 1993.
  • KP 1960 = Kurt Paupié: Handbuch der österreichischen Pressegeschichte. 1848–1959. Bd.1 Wien u.a.: Braumüller 1960.
  • BR 2002 = Bettina Riedmann: »Ich bin Jude, Österreicher, Deutscher«. Judentum in Arthur Schnitzlers Tagebüchern und Briefen. Tübigen: Max Niemeyer Verlag 2002.
  • JR 1990 = Joseph Roth: Die zaristischen Emigranten. In: Klaus Westermann (Hg.): Joseph Roth Werke. Das journalistische Werk 1924-1928. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1990 (Bd. 2), S. 591-594.
  • AS 1993 = Arthur Schnitzler: Tagebuch. 1920-1922. hrsg. v. d. Komm. f. lit. Gebrauchsform. d. Österr. Akad. d. Wiss. Wien: Verlag d. Österr. Akad. d. Wissenschaften 1993.
  • LS 1993 = Laurance Senelick (Hg.): Wandering Stars. Russian Emigré Theatre 1905-140. Univ. of Iowa Press: Iowa City 1993.
  • PS 1984 = Peter Sprengel: Gerhart Hauptmann. Epoche–Werk–Wirkung: München: C.H. Beck 1984.
  • RZ 1996 = Rosemarie Ziegler: Wien in Prosatexten russischer Emigranten nach 1917. In: Gertraud Marinelli-König/Nina Pavlova (Hg.): Wien als Magnet? Wien: Österreichische Akademie der Wissenschaften 1996, S. 143-174.
ZITIERTE ARTIKEL