Béla Balázs: Die amerikanische Atmosphäre (1924)
Béla Balázs: Die amerikanische Atmosphäre
Die Atmosphäre ist wohl die Seele jeder Kunst. Sie ist Luft und Duft, die, wie eine Ausdünstung der Formen, alle Gebilde umgibt und ein eigenes Medium einer eigenen Welt schafft. Diese Atmosphäre ist wie der nebelhafte Urstoff, der sich in den einzelnen Gestalten verdichtet. Sie ist die gemeinsame Substanz der verschiedenen Gebilde. Sie ist die letzte Realität, die letzte Realität jeder Kunst. Wenn diese Atmosphäre einmal da ist, kann die Unzulänglichkeit der einzelnen Gebilde nicht mehr Wesentliches verderben. Die Frage nach dem »Woher?« dieser speziellen Atmosphäre ist immer die Frage nach der tiefsten Quelle jeder Kunst.
Nun, es gibt zum Beispiel, amerikanische Filme, deren Fabelinhalt nichtssagend und einfältig, in denen das Spiel (das mit seiner Gebärden= und Mienenlyrik vieles ersetzen könnte) auch unbedeutend ist und die unser Interesse dennoch von Anfang bis zu Ende wach halten. Das kommt von ihrer lebendigen Atmosphäre. Sie haben jenes dichte, duftige Fluidum des Lebens, das nur die allergrößten Dichter manchmal mit Worten fühlen lassen können. Und dann sagen wir: »man spürt ordentlich den Geruch der Zimmer, wenn Fluaubert [recte: Flaubert] eine Wohnung beschreibt,« oder »es wässert einem der Mund, wenn Gogols Bauern essen.« Siehe, diese sinnfällige, riechbare und schmeckbare Atmosphäre schafft jeder gute amerikanische Regisseur.
Die ganze Geschichte ist vielleicht einfältig, vielleicht auch kitschig=verlogen. Aber die einzelnen Momente sind so warmen Lebens voll, »daß man ordentlich den Duft spürt.« Warum Held etwas tut, das hat oft keinen Sinn, aber wie er es tut, das hat Naturwärme. Das Schicksal der Helden ist leer, aber seine Minuten sind reich gestaltet.
In Wien spielte man unlängst einen sehr unbedeutenden Film von einer unglücklichen Liebe eines Krüppels. Da führt aber einmal dieser lahme Bräutigam seine Braut auf den Jahrmarkt aus. Eine Flut und Brandung von Bildern der Kraft, die den körperlich unzulänglichen Krüppel verschüttet und erdrückt. Es ist ein dünnes Hageln kleiner Momente des materiellen Lebens, daß den schwachen Mann zuletzt töten muß. Es wird eine Atmosphäre geschaffen, in der er erstickt.
Oder das Mädchen geht nachher zu dem Bräutigam um ihm zu sagen, sie wolle ihn nicht heiraten. Doch die Wohnung ist schon zur Hochzeit geschmückt. Die Kränze und Sträuße, die Geschenke und die hundert kleinen materiellen Zeichen einer Zärtlichkeit werden nun einzeln gezeigt. Es entsteht dadurch ein dicker Dunst von Güte um das Mädchen, in dem sie den Weg verliert. Wie sie die vielen kleinen Tatsachen des Jahrmarktes zu einem Fluidum des Lebens verdichtet haben, das der Schwache und Lahme nicht durchwaten konnte, so fühlt man in diesem Hochzeitszimmer das Gewicht der Dinge und Tatsachen dagegen die Seele nicht aufkommen kann.
Das ist jene starke Atmosphäre, die im Film durch die große Rolle und Bedeutung der sichtbaren Dinge entsteht. Diese Bedeutung haben Dinge in der Poesie, welche mehr auf einen abstrakten Sinn eingestellt ist, nicht. Darum kann auch keine Poesie diese spezifische Atmosphäre, dieses »Wesen« der Materie (ein gutes, altes Verbum) schaffen.
Das hat aber noch einen anderen Grund. In der Welt des sprechenden Menschen sind die stummen Dinge viel lebloser und unbedeutender als der Mensch. Sie bekommen nur ein Leben zweiten und dritten Grades, und das auch nur in den seltensten Momenten besonders hellsichtiger Empfindlichkeit der Menschen, die sie betrachten. Auf dem Theater ist ein Valeurunterschied zwischen dem sprechenden Menschen und den stummen Dingen. Sie leben in verschiedenen Dimensionen. Im Film verschwindet dieser Valeurunterschied. Weil sie nicht weniger sprechen als die Menschen, darum sagen sie soviel. Das ist der Rätsel jener besonderen Filmatmosphäre, die jenseits jeder literarischen Möglichkeit liegt.
Es gibt einen Typus amerikanischer Filme, deren einziger Inhalt diese Atmosphäre ist. Keine komponierte Fabel, keine aufgebaute Handlung stört das kontur= und richtungslose Fluten des rein Stofflichen. So sind z. B. die amerikanischen »Mutterfilme«, die in letzter Zeit jede bessere Kunstarbeit in Tränen ersticken.
Wir wollen auf die sozialpsychologischen Gründe dieser neuen Filmmode nicht besonders eingehen. Wie es Zeiten gab, da man Menschen, die sich gegen das irdische Unrecht empörten, auf die himmlische Gerechtigkeit und das himmlische Glück verwies, so lenkt man jetzt die Aufmerksamkeit jener, die mit der Gesellschaftsordnung unzufrieden sind auf das intime Glück der Familie.
Was das Künstlerische dieser Filme betrifft, so ist es ein ungestaltetes Stimmungsrohmaterial. So ein Mutterfilm, wie dieser, der in Wien eben gespielt wird, ist überhaupt kein Kunstfilm, was uns alle nicht daran hindern wird dicke Tränen zu weinen. Es ist ein Konoreport [recte: Kinoreport] des Familienlebens, ein Lehrfilm, ein Uraniafilm von der Mutterliebe. Er hat keine aufgebaute Fabel, keinen komponierten Text, keine geistvollen spannenden Verwicklungen, keine großen Spielszenen, überhaupt gar nichts, was die Kunst hineingebracht hätte.
Wie ein Uraniafilm uns etwa die verschiedenen Etappen der Zigarettenfabrikation zeigt, so zeigt uns dieser Film die Gemütszustände einer Mutter, die von ihren aufwachsenden Kindern allmählich verlassen wird. Weil man aber selbst eine Mutter hat, oder hatte, so denkt man ihrer mit feuchten Augen.
Es ist eine fertig vorgefundene Naturwirkung, die in diesem Fall benützt wird um die künstlerische Wirkung zu ersetzen. Freilich liegt es in der Eigenart und im Wesen des Films, daß er die Natur als Materie gebraucht. Aber sie hat dieses Material zu verarbeiten, einzubauen in das geistige Gebäude des Kunstwerkes. Natur allein tut es nicht. Edelsteine sind wertvoll, und schön. Zum Kunstwerk werden sie doch nur in der Hand des Goldschmieds.
Mary Carr ist eine große Schauspielerin. Ihr Talent entfaltet sich aber in diesem Film sozusagen gegenstandslos. (Ach wie oft, wie oft geschieht das auf Filmen, wo bedeutende Schauspieler unbedeutende Rollen spielen müssen.) Wie wenn ein Sänger darauf los singt, ohne eine Melodie zu haben. Wir ergötzen uns an dem Material einer herrlichen Stimme, wir sind entzückt von der Naturerscheinung, ihres Talents und sehnen uns danach an den festen Formen eines Kunstwerkes sich emporranken zu sehen.
In: Beiblatt der „Muskete“, Film=Beilage, Jänner 1924, S 1f.