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Felix Salten: „Ein großer amerikanischer Erzähler.” Theodor Dreiser (1928)

Felix Salten: „Ein großer amerikanischer Erzähler.” Theodor Dreiser.

Leute, die ihn persönlich kennen, schildern Theodor Dreiser als einen gar nicht frohen, ja als einen grämlichen, unwirschen Mann. Und nach dem Erscheinen seiner Bücher, die der Paul-Zsolnay-Verlag in die deutsche Sprachgemeinschaft eingeführt hat, wurden einige beachtenswerte Stimmen laut, die erklärten, Dreiser sei eigentlich kein Dichter. Er selbst schrieb einmal den Satz: „Es gibt zu viel Religion in der Welt.“ Dieser Ausspruch, derart zitiert, ganz für sich allein, ohne Zusammenhang mit allem, was vorhergeht und was folgt, klingt merkwürdig nüchtern. Ein Mann wird da sichtbar, auf den die Schilderung flüchtiger Besucher zu passen scheint, eine unfrohe, verdüsterte, pessimistische Personnage, die dem hell-heitern, optimistischen Wesen der Amerikaner schroff entgegensetzt ist. Hernach liest man die Stelle: „Siehst du den nahenden Morgen? Dann freue dich. Und wenn du an seinem Licht erblindest -, freue dich auch. Du hast gelebt.“ Jetzt steht ein anderer vor uns. Einer, der weder unwirsch noch trübselig ist, sondern nach schwerem Ringen mit der ganzen tragischen und humorigen Buntheit des Daseins aufrechtgeblieben an diese Welt glaubt. Die Vermutung ergibt sich, es könne um die Schilderung von Dreisers Persönlichkeit ebenso bestellt sein, wie um Zitate, die aus dem Zusammenhang gerissen wurden. Jemand hat ihn einmal besucht, ein anderer hat ihn irgendwo getroffen, und nun schildern sie Theodor Dreiser nach dem Eindruck dieser halben Stunde, die gar keinen Zusammenhang mit seinem Leben, mit seinem Arbeiten, mit dem Geheimnis seines Temperaments aber seines Schicksals besitzt. Was liegt daran? Das Charakterbild berühmter Männer wird immer verfälscht. Wissentlich oder unwissentlich. Meist unwissentlich. Aber die Geschichte wimmelt ja von Fälschungen. Falsche Bildnisse, falsch beleuchtete Tatsachen, daraus setzt sich die Historie der Menschheit zusammen. Was ist Wahrheit? hat schon Pilatus gefragt. Wer richtig zu lesen versteht, wem Intuition gegeben ist, wird der Wahrheit nahe kommen. Seiner eigenen Wahrheit, die aus seinem persönlichen Empfinden, aus dem Grad seines persönlichen Ahnungsvermögens entspringt. Und es kann, vielleicht, manchmal, die wirkliche Wahrheit sein.

            Sollen wir ernsthaft darüber streiten, ob Theodor Dreiser ein Dichter ist? In deutschen Bezirken herrschen sonderbare Ansichten über das Wesen des Dichters. Einer schreibt Versdramen oder Lyrik, die in Prosa aufgelöst, das prosaisch Landläufige, das Belanglose seiner Arbeit offenbaren, doch er gilt, wenigstens eine Zeitlang, als Dichter. Der andere schreibt Luftspiele oder Späße, und kein Mensch nennt ihn einen Dichter, weil er Heiterkeit erregt, weil einer, der sein Publikum zum Lachen bringt, in Deutschland sehr selten und sehr ausnahmsweise ernst genommen wird, weil man, während man lacht, gar nicht merkt, gar nicht darauf achtet, aus welchen tragischen Untergründen der Humor sich entwickelt. Also hat man auch nur wenig Organ, hat nur wenig traditionelles Verstehen für die edle Seelenhaftigkeit einer Leistung, die tragische Konflikte vom Rand des Todes, von der Finsternis des Abgrundes in die Sonne des Lebens rückt. Es bleibe also unerörtert und ungesagt, ob Theodor Dreiser ein Dichter ist, wie es ja gleichgültig bleibt, ob man ihn einen Dichter nennen will oder nicht. Keineswegs mir allein, vielen tausenden deutschen Lesern gilt er, seit seine Bücher vorliegen, als eine außerordentlich wertvolle Bereicherung unserer geistigen Güter, als eine große Erscheinung, die man zu den großen Erscheinungen der letzten Jahre stellen muß, zu denen, die aus dem englischen Sprachbereich zu uns kamen, zu John Galsworthy und Joseph Conrad. Dieses Dreigestirn, Conrad, Galsworthy und Dreiser, ergänzt durch den genialen Jack London, durch den sanften Stevenson, den radikalen Upton Sinclair und den prächtig unterhaltsamen Sinclair Lewis bilden ein längst schon notwendiges Gegengewicht zur zermalmenden, auflösenden Dichtung der Russen. Je tiefer diese englischen und amerikanischen Erzähler in das Bewußtsein deutscher Leser eindringen, je stärkeren Eindruck sie üben, eine um so gesündere Reaktion bewirken sie nach der Jahrzehnte dauernden Vergiftung der deutschen, der europäischen Seele durch Tolstoi und Dostojewski. Freilich, Tolstoi und Dostojewski, so wenig angebracht es immer auch sein mag, die beiden durch das „und“ miteinander zu verbinden, diese Zwei sind Dichter von homerischem Rang. Aber welch‘ tiefe Gegensätze die zwei auch trennen, weder die psychopathische Ethik des einen, noch der mattoide Religionsdilettantismus des andern lassen sich ins Europäische übersetzen. Vorboten sind sie, alle beide, einer gewaltigen, einer spezifisch russischen Umwälzung, die nach Europa übertragen, den Kontinent in einen blutgetränkten Schutthaufen verwandeln würde, wie sie selbst, diese Vorboten, die europäische Seele in ein hysterisches Chaos zu wandeln begannen. Nun kommen die großen Erzähler vom Westen her, von England, von Amerika und es ist wahrscheinlich kein Zufall, daß sie gerade jetzt kommen, einer nach dem andern, während Rußlands selbstbefreiendem Niederbruch, während Rußland in Blut und Not danach ringt, wieder aufzustehen, immer noch der Welt und immer noch sich selbst ein schicksalsschweres Rätsel. Diese Erzähler aus dem Westen sind unserem Wesen „verwandt, sie leben in unserer Welt, sie haben unsere Begriffe; man braucht ihre Schriften nur aus dem Englischen ins Deutsche zu heben und sie sind restlos, sie sind wirklich übersetzt. Eine frische, freie Luft weht uns erfrischend und befreiend, aus ihren Büchern entgegen. Die Welt wird weit vor unseren Augen, die Ozeane schimmern, erotische Landschaft breitet sich und die Probleme der Menschheit haben nichts von ihrem Ernst, nichts von ihrer Tragik und Tiefe verloren. Keine Spur sarmatisch-asiatischen Giftes ist in diesen Erzählern, sie sind unsere Brüder, sie sind Helfer und Wegbereiter für unsere deutschen Romandichter.

            Liebt man die Darstellung tragischer Geschicke, und jeder liebt sie, der nicht in einem wesenlosen Optimismus versumpert ist, dann wird einem Theodor Dreisers Roman „Eine Amerikanische Tragödie“ kostbarer Besitz. Ein schmerzhaft wahres Buch, ein Buch, das peinigt und foltert, gegen das man sich zur Wehr setzt, das einen doch nicht losläßt und von dem man schließlich überwältigt wird. Zweimal habe ich die Lektüre dieses Buches unterbrochen, tagelang, habe zweimal, erschüttert und aufgewühlt, nicht gewagt, weiterzulesen, aus Scheu, noch stärker erschüttert zu werden. Aber während dieser Tage ging ich umher, vollständig eingesponnen in das Schicksal des traurigen jungen Menschen der die Hauptgestalt dieser Tragödie ist. Selten, sehr selten hat eine Existenz, die es im Alltag oder in der Dichtung, mich so gefangen gehalten und so erregt, wie dieser unglückselige Clyde. Als die Absicht in ihm erwachte, sich seiner Geliebten zu entledigen, sie um die Ecke zu bringen, weil sie seinem Aufstieg hinderlich wurde, da mußte ich das Buch weglegen. Ich hatte Angst, Clyde könne seinen wirren irren Vorsatz ausführen. Unerträglich war der Gedanke, dieses reizende, opferwillige, schuldlose Mädchen werde von der Hand eben des Mannes sterben, dem sie sich in vertrauender Liebe hingegeben hatte. Und diesen armen, einsamen, weltfremden Burschen in Verzweiflung zu sehen, weil seine Geliebte Mutter werden sollte, weil er dadurch gezwungen wäre, sie zu heiraten, und weil das alle seine Hoffnungen, seine neue Liebe zur Millionärstochter vernichten würde, dieses Umgarntsein einer jungen, leidenschaftlich zur Höhe drängenden Seele, dieses Hineintaumeln Clydes in Wunschträume, dieses Spielen des Haltlosgewordenen mit verbrecherischen Möglichkeiten war niederschmetternd. Wie ich das Buch beiseite legen mußte, um Fassung zu gewinnen, so zwang es mich nach ein paar Tagen, die Lektüre, in diesem Fall richtiger: das Miterleben, das Miterleiden fortzusetzen. Und wieder stockte ich vor der Hinrichtung. Das war keine Justiz, kein Verfahren der irdischen Gerechtigkeit. Ein nüchterner parteipolitischer Kuhhandel vollzog sich. Und ein junges Menschenleben fiel ihm zum Opfer. Es dauerte wieder einige Tage, bis ich weiterlas. Fiel dieses Leben wirklich als Opfer politischer Streber? Wird es keine Gnade geben, im letzten Moment vielleicht? Es gab dann keine. Theodor Dreiser und sein Roman kennen keine Gnade, kennen keinen gemilderten Schluß. Nur Tatsachen kennen sie, aus der Welt des Tatsächlichen gegriffen.

            Alle diese Vorgänge aber, um ein Kleines weniger intensiv geschildert, diese Menschen, um einen einzigen Grad weniger glühend lebendig gestaltet, und man würde das Buch ruhiger, würde es etwa mit der Gespanntheit lesen, wie irgendeinen guten Kriminalroman. Man würde nämlich ebenso wenig im Ernst daran glauben, wie man auch sonst an Kriminalromane nicht ganz glaubt. Doch hier geht’s gar nicht um Glauben oder Unglauben. Von der ersten bis zur letzten Zeile regt sich keine Sekunde in uns der leiseste Zweifel an der grausamen Wirklichkeit dieser Welt, an der entsetzlichen Wahrheit aller Zusammenhänge und Geschehnisse. In der meisterhaften Komposition dieser drei Bände, in ihrer virtuosen Architektur erscheint nichts komponiert, spürt man nirgendwo die Arbeit des Romanarchitekten. Der laufende Sturz aller Ereignisse vollzieht sich vom Anfang bis zum Schluß mit unaufhaltsamer Notwendigkeit. Und man begleitet dieses Hinstürzen voll atemloser Teilnahme. Hier ist der Alltag, den wir alle kennen, durch den wir alle gehen, unberührt, oder die Augen schließend, wenn die Gefahr droht, zu arg erschüttert zu werden. Hier ist dieser Alltag und man wird gezwungen, die Augen zu öffnen. Hier ist das Spiel seiner Zufälle, das Schicksal wird, hier ist seine unbarmherzige Härte, sind lockende Verführung, hier sind seine Höhen und seine Abgründe. Hier sehen wir einmal seine Tragödie, eine seiner Tragödien, so genau, als habe ein kundiger Reporter sie beschrieben, so menschlich durchleuchtet, als sei ein großer Dichter mit seinem Herzen am Werk gewesen.

            Das Amerikanische an dieser Tragödie sind die sozialen Verhältnisse. Die Straßenbettler-Prophetie von Clydes Vater, sein gutgläubig stümperndes Predigertum ist amerikanisch. Und amerikanisch ist der krasse Gegensatz zwischen den Leuten, die zu viel Geld, und denen, die gar kein Geld haben. Amerikanisch scheint die allgemeine Ansicht, daß Armut eine Schande ist. Und das Schachspiel politischer Parteien, das die Verwaltung wie die Justiz mit in seine Kombinationen und Spekulationen wie selbstverständlich einbezieht. Manches von diesen Dingen, mancher von diesen Zuständen braucht freilich nur mit anderen Lokalfarben getüncht zu werden und paßt auch, je nach der Farbe, anderswohin, als nach Amerika. Doch dieses Buch ist amerikanischem Boden entwachsen, ist von einem amerikanischen Geist ersonnen und von der Urfarbe der Vereinigten Staaten nicht zu lösen. Ins allgemein Menschliche, ins allgemein Gültige aber wächst die Tragödie des jungen Menschen, der arm geboren ist, der mittellos, wehrlos, führerlos und hilflos einer Welt voll Glanz, Luxus, Schönheit und Freude gegenübersteht. Die Tragödie eines jungen Menschen, der Leidenschaft und Phantasie genug besitzt, um mit allen seinen Trieben von dieser Welt des Reichtums in Brand gesteckt zu werden, der hinreichend sinnlich, unverbraucht und unerfahren ist, um sich, wie man das bei uns nennt, zu „verplempern“, der dann in Verwirrung gerät und unschuldig schuldig wird. Sehr viele Leute gibt es, besonders Frauen, die aus Sympathie und Mitleid für die reizende, ehrenhafte Roberta den jungen Clyde streng verurteilen und ihn ehrlos nennen. Mag sein, daß sie recht haben, mag auch sein, daß Clyde ehrlos ist, obwohl er im Grunde jenseits der landläufigen Ehrbegriffe steht. Den Satten und Baldgesättigten fällt es sehr leicht, eine Ehre zu haben und sie ohne jede Probe, ohne jede Versuchung zu behalten. Wer aber die Armut kennt, denkt über diese „ehrenhaften“ und „ehrenwerten“ Leute doch anders. Und wer die bitterste, schmerzhafteste Armut erlebt hat, die Armut am Rande des Reichtums, in naher Nachbarschaft des üppigen Schwelgens, muß den unglücklichen Clyde so tief verstehen, muß sich ihm so brüderlich verbunden fühlen, daß er zu gar keinem Urteil über den vom Schicksal Vernichteten gelangt, sondern nur zu fieberndem Erschüttertsein.

            Eine amerikanische Tragödie ist auch der andere Roman von Theodor Dreiser „Jennie Gerhardt“. Aber auch diese Dichtung ragt weit über ihren Schauplatz hinweg ins Ewigmenschliche. Wie es überall und zu allen Zeiten junge Männer gibt und gegeben hat, deren Schicksal dem des Clyde Griffith gleicht, so gab und gibt es überall, zu allen Zeiten Jennie Gerhardts. Jung, schön, bescheiden und arm. Liebevoll und opfermutig. Hingebend und pflichtbewusst. Naiv und selbstlos. Ein Spielzeug männlicher Begierden. Dann in ihrer seelischen Reinheit gefühlt, die Frau, der Männer wirkliche Herzensneigung entgegenbringen. Sie hat Pech, denn sie ist arm. Immer hat sie Pech und immer trägt sie ihr Unglück sanft, still, geduldig. Ein reicher älterer Mann, der sie, ein halbes Kind noch, verführt, will sie heiraten, weil sich die Folgen einstellen und weil er sie liebgewonnen hat. Er stirbt plötzlich. Ein junger Mensch aus reichem Hause nimmt sie, reißt sie einfach an sich, weil ihre Schönheit seine Sinne entfacht; verliebt sich dann in sie, verzeiht ihr die uneheliche Tochter, die sie von dem älteren Herrn hat, denn der wollte sie ja heiraten. Dieser junge Mensch lebt mit Jennie wie Mann und Frau. Jahrelang. Gewöhnt sich an sie, an ihre magdliche Zärtlichkeit, an ihre Treue, an den Zauber ihrer „schüchternen Seele“ … und vermählt sich zuletzt mit einer anderen, mit einer Dame aus seinen Kreisen. Jennie bleibt allein mit ihrer Tochter, die sie durch einen raschen Tod verliert. Den Geliebten sieht sie nur einmal noch, als sie den Sterbenden bis an sein Ende pflegt. Eine ergreifende Gestalt, so lebendig, so wahr und so bestrickend wie nur irgendeine der wunderbaren Frauengestalten in irgendeinem der unvergänglichen Dichterwerke. Es sind noch einige prachtvolle Gestalten in diesem Buch. Jennies Vater, der einfache, glaubensstarke, sittenstrenge Deutsche. Jennies Mutter, der alten Millerin und vielleicht auch der Marthe Schwerdtlein ein bißchen verwandt; vor allem: Lester, der Geliebte, und das Schicksal ihres Lebens.

            Ein Verwandter an Format und Art dieses Lester ist der Held in Dreisers frühem Romanwerk „Der Titan“. Frank Algernon Cowperwood hat die frische, draufgängerische Manier, Frauen zu nehmen. Aber er nimmt viele. Er nimmt sie wie ein Raubtier seine Beute, wie ein kleiner Junge das ersehnte Spielzeug. Er ist gierig und naiv. Er ist raffiniert und unschuldig. Er hat einen unbeugsamen Willen, eine Riesenkraft des Herzens wie des Verstandes und er wirkt wie ein Element. Von Jugend an ist er entschlossen, eine Großmacht in der Finanzwelt zu werden. Man wirft ihn nieder, man sperrt ihn ein, aber man kann ihn nicht besiegen. In Philadelphia wird es sein Ruin, daß er die Tochter eines einflußreichen Mannes verführt hat. Er heiratet sie nach seiner Scheidung. In Chicago wird er beinahe vernichtet, weil er ein Verhältnis mit der Gattin eines Finanzmagnaten begann. Er überwindet alles; er ringt auch die Eifersucht seiner zweiten Gemahlin nieder, die er oft und oft betrügt; er macht Schluß mit ihr, als er, schon über Fünfzig in leidenschaftlicher Liebe zu einer Achtzehnjährigen entbrennt. Liebe und Geschäft, Geschäft und Liebe, Erfolg und Niederlage und trotzdem wieder Erfolg füllen diese drei Bände, die eben erschienen. In langen, gründlichen Auseinandersetzungen werden gewaltige Spekulationen, Börsenmanöver, Gründungen und Geldkrisen beschrieben. Wer etwas von diesen Dingen versteht, wird gespannt und gefesselt sein. Aber auch diejenigen, denen das Geschäftswesen fremd bleibt, folgen interessiert. Denn in diesen Kapiteln wird der Aufstieg der U.S.A. von den Sklavereikriegen bis zum Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts erzählt. Objektiver und nicht so parteiisch gefärbt wie in Myers „Entstehung der großen amerikanischen Vermögen.“

            Ein bedeutsamer Mann, der mächtige Unternehmungen beherrschte, sagte mir einmal vor langer Zeit: „Was soll unsereinen an der modernen Literatur reizen? Es steht nirgendwo etwas von den Dingen, die wichtig sind, mit denen sich die Welt beschäftigt, nichts von den Kämpfen, Arbeiten, Entdeckungen und Wagnissen, durch die wir alle eigentlich vorwärts kommen.“ An diesen Mann muß ich jetzt denken. Wenn er noch lebte, er hätte sich am „Titan“ gefreut.

            Aber unzählig Lebende werden an sich an Theodor Dreiser freuen und Unzählige, die nach uns leben, werden an diesem großen Dichter Erschütterung und Erhebung finden. Mögen heute auch einige der Meinung sein, Dreiser sei nicht modern, sei eine trockene Wiederholung Zolas, er ist weder trocken, noch eine Wiederholung, so wenig wie er wahrscheinlich in Wirklichkeit als Mensch mürrisch ist. Und er bleibt so zeitlos modern, wie alles, was einfach und tief, wahrhaft und menschlich ist, immer modern sein wird. Er ist so wahr wie das Leben selbst, so unbarmherzig wie das Schicksal, von so echter Tragik wie der Tragiker der Antike, so reich an Gestalten wie nur ein wirklicher Schöpfer; er liebt die Menschheit, glaubt an die Zukunft, wie nur ein großer Dichter zu glauben und zu lieben vermag. Und sein Feld ist die junge amerikanische Erde, die so reich ist an Erlebnissen und Dramen des Alltags, daß sie ganz natürlich ihre eigenen, großen Dichter hervorbringen muß. Heute gehört Theodor Dreiser zu den stärksten dichterischen Erscheinungen der Welt und „drüben“ scheint er vorläufig der weitaus stärkste zu sein.

In: Neue Freie Presse, 7.10.1928, S. 1-4.