Nach dem Ende September 1930 erfolgten Rücktritt des parteilosen Johann Schober als Bundeskanzler und der Weigerung seiner beiden Koalitionspartner (Großdeutsche Volkspartei und Landbund), die Regierung ohne Neuwahlen unter Führung der Christlichsozialen fortzuführen, fanden am 9. November die letzten freien Nationalratswahlen der Ersten Republik statt. Die Wahlbeteiligung lag bei 90,2 % und erreichte damit einen Rekordwert.

Bereits ein Jahr zuvor, im Dezember 1929, hatte die Bundes-Verfassungsnovelle – das letzte große politische Kompromisswerk der Ersten Republik – neben einer Anhebung des aktiven Wahlalters auf 21 Jahre vor allem eine Machtverschiebung vom Parlament zum Bundespräsidenten und zur Bundesregierung mit sich gebracht. Dahinter stand nicht zuletzt die Absicht der Christlichsozialen Partei, den Einfluss der ohnehin geschwächten demokratischen Opposition – namentlich der Sozialdemokratie – zurückzudrängen; vordergründig lautete die Devise, die gegenseitige Blockadepolitik der beiden großen politischen Lager, die zu einer zunehmenden Lähmung des parlamentarischen Systems und einer Verschärfung des innenpolitischen Konflikts geführt hatte, zu unterbinden. Dieser Entwicklung zugrunde lag eine tiefgreifende „Legitimitätskrise der Ersten Republik“ (Hanisch, 307), die von drohendem ökonomischen Kollaps, mangelnder politischer Gesprächskultur und wachsender Gewaltbereitschaft geprägt war und die dazu führte, dass die parlamentarische Demokratie letztlich weder von der SDAP noch von den Anhängern des bürgerlichen Lagers als Regierungsform favorisiert wurde. Während erstere nach wie vor eine Verwirklichung der „sozialen Demokratie“ nach marxistischem Vorbild anstrebte, trat Ignaz Seipel für eine auf autoritärer Basis fußende „wahre Demokratie“ ein, die anstatt einer höheren BürgerInnenbeteiligung mehr Verantwortlichkeit der Regierungsspitze mit sich bringen sollte. Eine autoritäre Führerfigur forderten auch Teile des christlichsozialen Lagers und der sich zunehmend am faschistischen Vorbild Italiens orientierenden Heimwehr, allerdings an der Spitze eines berufsständisch organisierten Gesellschaftsmodells. Ihren öffentlichen Ausdruck fand diese Forderung im Korneuburger Eid, der im Mai 1930 im Rahmen der Generalversammlung des Heimatschutzverbandes Niederösterreich verlesen wurde und der sich explizit und offen „gegen den westlichen demokratischen Parlamentarismus und den Parteienstaat“ (zit. n. Hanisch, 290) wandte.

Nach einem hart geführten Wahlkampf, der auf allen Seiten darauf abzielte, den politischen Gegner in ein möglichst schlechtes Licht zu rücken, wurde die SDAP mit 41,1 % und 72 Mandaten zur stärksten Partei, gefolgt von der CSP – die in Wien, Niederösterreich und dem Burgenland „im Interesse der antimarxistischen Sache“ (NWJ, 11.10.1930, 1) gemeinsam mit den dortigen Heimwehrlandesorganisationen angetreten war – mit 66 Mandaten. Das dritte Lager konnte Zugewinne erzielen: Der Nationale Wirtschaftsblock und der Landbund als „Schober-Block“ erhielten 19 Mandate, der Heimatblock dagegen blieb mit 8 unter seinen Erwartungen zurück. Die Nationalsozialisten, die bei den eben erfolgten deutschen Reichstagswahlen bereits zweitstärkste Kraft geworden waren, erhielten in Österreich rund 99.300 Stimmen und damit kein Mandat.

Während die Arbeiterzeitung darauf pochte, die Wahl habe „die Schwäche der Heimwehren enthüllt“ und das Volk sich „gegen Fascismus und Korruption“ ausgesprochen (AZ, 10.11.1930, 1), sah das Neue Wiener Journal einen „Wahlsieg des Antimarxismus“ sowie „[e]ine überwältigende antimarxistische Mehrheit in ganz Österreich“ (NWJ, 10.11.1930, 1). Die Reichspost sprach von einem „Sieg der Regierung“, denn die SDAP habe „den Kampf um die Macht verloren“ (RP, 10.11.1930, 1). Es gab aber durchaus auch differenziertere Stimmen: Der Morgen sah die Christlichsoziale Partei vom Wählerwillen abgestraft für den „mutwilligerweise zum Rücktritt gezwungen[en]“ Hans Schober, der sich „ihrem Parteidiktat nicht fügen wollte“ und prophezeite dem ehemaligen Bundeskanzler, künftig „als Haupt einer bürgerlichen Gruppe“ ein „wichtige[r] politische[r]  Faktor“ (Der Morgen, 10.11.1930, 3) in der österreichischen Innenpolitik zu sein. Ludwig Hirschfeld appellierte seinerseits in der Neuen Freien Presse an die verantwortlichen Politiker, vor dem Hintergrund der großen ökonomischen Herausforderungen „eine Verständigung unter den Bürgerlichen“ herbeizuführen und richtete darüber hinaus mahnende Worte an die Leserschaft: „Denken wir daran, daß mindestens dreihunderttausend Stimmen, nämlich Heimwehren und Nationalsozialisten, für den radikalen Umsturz von rechts abgegeben worden sind.“ (NFP, 10.11.1930, 1-2).

Am 4. Dezember 1930 wurde die christlichsozial geführte Regierung Ender, die mit dem Schoberblock koalierte, angelobt, die Sozialdemokratie ging einmal mehr in Opposition. Der notwendige breite politische Konsens blieb aber aus; im Gegenteil setzte in den folgenden Jahren eine weitere Spaltung sowie eine „tiefgreifende Militarisierung der Gesellschaft“ ein, an der Heimwehr und Schutzbund – die paramilitärischen Organisationen der CSP und der SDAP –, maßgeblichen Anteil hatten, indem sie Schritt für Schritt „dem Staat das Gewaltmonopol entzogen“ (Hanisch, 289) und damit den Weg für die Ausschaltung des Parlaments durch die Regierung Dollfuß freimachten.


Quellen und Dokumente

Statistische Narichten. Sonderheft zu den Nationalratswahlen vom 9. November 1930; Nationalratswahlen 1919-1930 (in absoluten Prozenten und Mandaten); Zusammensetzung des Nationalrates in Mandaten, 1919-1934; Abschied von Schober. In: NFP, 26.9.1930, 1-2; Auf jeden Fall eine entschlußfähige Regierung. In: RP, 30.9.1930, 2; Der Rücktritt der Bundesregierung. In: WZ, 27.9.1930, 1; Antimarxistischer Kampfbund. Einheitsfront der Christlichsozialen und des Heimatblocks in Wien und Niederösterreich. In: Neues Wiener Journal, 11.10.1930, 1; Die Sozialdemokraten die stärkste Partei! In: AZ, 10.11.1930, S. 1; Ludwig Hirschfeld, Wiener Wahlsonntag. In: NFP, 10.11.1930, 1-2; Wahlsieg des Antimarxismus. In: Neues Wiener Journal, 10.11.1930, 1; Sieg der Regierung! In: RP, 10.11.1930, 1; Großer Wahlsieg der Demokratie. In: Der Morgen. Wiener Montagsblatt, 10.11.1930, 1-4; Die neue Regierung Schober-Ender gebildet! In: Arbeiterwille, 4.12.1930, 1; Sieg der Mäßigung. In: NFP, 4.12.1930, 1;

Literatur

Herbert Dachs (Hg.), Handbuch des politischen Systems Österreichs. Erste Republik 1918-1933, Wien 1995; Thomas Pfaffenhuemer, Der Weg war kein Ziel. Die Entwicklung des modernen Wahlrechts in Österreich. In: Peter Filzmaier/Peter Plaikner/Karl A. Duffek (Hg.), Stichwort Wählen (Edition Politische Kommunikation, Bd. 2), Wien, Köln, Weimar 2009, 77-96; Ernst Hanisch, Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert (Österreichische Geschichte 1890-1990), Wien 22005; Robert Kriechbaumer, Die großen Erzählungen der Politik: Politische Kultur und Parteien in Österreich von der Jahrhundertwende bis 1945, Wien, Köln, Weimar 2001; Gernot Stimmer, Eliten in Österreich, 1848-1970  (Studien zur Politik und Verwaltung, Bd. 57), Wien, Köln, Graz 1995.

 (MK)

Am 16. Februar 1919, rund drei Monate nach Ausrufung der Republik, fanden die  Wahlen zur konstituierenden Nationalversammlung für Deutsch-Österreich statt, aus der die Sozialdemokraten (SDAP) mit 72 Mandaten als stärkste Kraft hervorgingen. Bereits ein Monat später trat der neue Staatskanzler Karl Renner an die Spitze einer sozialdemokratisch-christlichsozialen Koalitionsregierung, die vor dem Hintergrund des politischen, sozialen und ökonomischen Umbruchs von 1918 bewusst die Zusammenarbeit über Parteigrenzen hinweg in den Mittelpunkt stellte und sich dem „Primat der Ruhe und Ordnung“ verpflichtet sah (Hanisch, S. 269). 

Während innerhalb der sozialdemokratischen Partei der sozialreformerische Flügel dominierte, fand bei den Christlichsozialen nach und nach eine Machtverschiebung statt, in deren Verlauf sich der streitbare bürgerliche Flügel um Ignaz Seipel und Leopold Kunschak gegen die konsensbereiten bäuerlichen Kräfte um Jodok Fink durchzusetzte. Im Juni 1920 zerbrach die Koalition an den immer deutlicher hervortretenden ideologischen Gegensätzen zwischen den beiden Parteien; Auslöser war letzlich eine Anfrage der Großdeutschen im Zusammenhang mit dem Wehrmachtsgesetz. Dennoch gelang es den politischen Lagern, nach langwierigen Verhandlungen am 1. Oktober noch den Beschluss über die Bundesverfassung zu verabschieden.

Am 17. Oktober 1920 fanden die ersten Nationalratswahlen in Österreich statt. Die Christlichsozialen wurden mit 41,8 % der Stimmen zur stärksten Kraft, während die Sozialdemokraten mit 36 % auf Platz zwei landeten. Die Großdeutschen, ein Zusammenschluss aus vier Parteien, u. a. den Nationalsozialisten, konnten 17,3 % der Stimmen auf sich vereinen. 

Der Christlichsoziale Michael Mayr wurde am 20. November 1920 zum Bundeskanzler ernannt und übernahm vorübergehend auch die Führung des Staatsamtes für Äußeres. Das christlichsoziale Minderheitskabinett wurde in der Folge von den Großdeutschen gestützt, war bis 21. Juni 1921 im Amt und wurde anschließend von der Bundesregierung Schober I abgelöst. Die SDAP dagegen wechselte in die Opposition und sollte bis 1945 nicht mehr Regierungsmitglied sein.

Aufgrund der Volksabstimmung vom 10. Oktober 1920, die über den Verbleib Südkärntens bei Österreich entschieden hatte, wurde die Nationalratswahl in Kärnten erst am 19. Juni 1921 nachgeholt. Das Burgenland, seit November 1921 Österreich zugehörig, wählte am 18. Juni 1922. In beiden Bundesländern konnten die Sozialdemokraten die meisten Stimmen erlangen.

Quellen und Dokumente

Zusammensetzung des Nationalrates in Mandaten, 1919-1934 [Online verfügbar]; Nationalratswahlen 1919-1930, in Prozenten und Mandaten [Online verfügbar]; Der Riss in der zweiten Koalition. In: Reichspost, 11.6.1920, 1-4; Demission der sozialdemokratischen Mitglieder der Regierung. In: AZ, 11.6.1920, 1; Die Regierungskrise. In: Reichspost, 14.6.1920, 1; Auswahl an Reaktionen auf den Ausgang der Nationalratswahlen 1920 in der österreichischen Presse [Online verfügbar]; Ergebnisse der nachgeholten Nationalratswahl in Kärnten. In: WZ, 20.6.1920, 1; Ergebnisse der nachgeholten Nationalratswahl im Burgenland. In: WZ, 21.6.1921, 6.

Literatur

Herbert Dachs (Hg.), Handbuch des politischen Systems Österreichs. Erste Republik 1918-1933, Wien 1995; Ernst Hanisch, Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert (Österreichische Geschichte 1890-1990), Wien 22005; Robert Kriechbaumer, Die großen Erzählungen der Politik: Politische Kultur und Parteien in Österreich von der Jahrhundertwende bis 1945, Wien, Köln, Weimar 2001. Hermann J. W. Kuprian, „Mayr, Michael“. In: Neue Deutsche Biographie 16 (1990), S. 565 f. [Online verfügbar]; Alfred Pfoser, Andreas Weigl, Die erste Stunde Null. Gründungsjahre der österreichischen Republik 1918-1922, Salzburg, Wien 2017; Gernot Stimmer, Eliten in Österreich, 1848-1970 (Studien zur Politik und Verwaltung, Bd. 57), Wien, Köln, Graz 1995; 

(MK)

Gegründet 1912 anlässlich der 5. Jahresversammlung des Deutschen Werkbundes in Wien. Zu den Gründungsmitgliedern zählten Josef Frank, Josef Hoffmann, Ernst Lichtblau, Koloman Moser, Oskar Strnad u.a.m. Der ÖWB orientierte sich grundlegend zwar am deutschen Modell, verfocht aber, nach einer Phase kriegs- und nachkriegsbedingter Stagnation, auch eigenständige Ansätze. Letzteres äußerte sich z.B. in der stärkeren Orientierung auf den sozialen Wohnbau ab 1920, sichtbar etwa in der Errichtung des Winarsky-Hofes als Gemeinschaftsprojekt von J. Frank, O. Strnad und Oskar Wlach. Phasenweise wirkten auch Künstler wie Anton Hanak an ÖWB-Aktivitäten mit. 1927 wirkte Frank, wesentlich der Motor des ÖWB, auch bei der Stuttgarter Werkbundsiedlung mit, die den Anstoß für das 1930 begonnene, 1932 fertiggestellte Wiener Werkbund-Siedlungsprojekt gab, zu dem es eine begleitende Werkbund-Ausstellung gab. 1934 kam es zu einer Spaltung innerhalb des Werkbundes.

Materialien und Quellen:

Eintrag in WOKA (Engl.): hier.

Forschungsliteratur:

Astrid Gmeiner, Gottfried Pirhofer: Der Österreichische Werkbund. Alternative zur klassischen Moderne in Architektur, Raum- und Produktgestaltung. Salzburg 1985;

(in preparation, PHK)

Als private Kunstschule für Frauen und Mädchen wurde diese Bildungseinrichtung 1897 gegründet. Maßgebliche Initiatorinnen waren neben Rosa Mayreder die Malerinnen Tina Blau (1845-1916) und Olga Prager (1872-1930). A.F. Seligmann, bei dem Prager Privatunterricht nahm, wurde zum ersten Leiter bis 1908 gewählt; danach übte der Bildhauer Richard Kauffungen (1854-1942) bis 1926 die Direktionsfunktion aus. Von 1927 bis 1938 folgte ihm der Bildhauer Heinrich Zita (1882-1951) in diese Funktion nach.

Die WFA blühte rasch auf und bot nach 1918 auch drei akademische Klassen (Bildhauerei, Malerei, Graphik) an. In diesen lehrten u.a. Rudolf Jettmar, Josef Stoitzner und Ludwig Michalek. Die Hauptlehrer wurden um 1920 als Professoren in den Staatsdienst übernommen. 1926 wurde der Verein umbenannt in Wiener Frauenakademie und Schule für freie und angewandte Kunst; im selben Jahr fing die Stadt Wien an, einen oder zwei Freiplätze zu finanzieren, die öffent. Ausgeschrieben wurden. 1928 wurde das dreißigjährige Bestehen gefeiert, u.a. mit einer Ausstellung sowie mit Resonanz in allen Zeitungen und einem Radiovortrag, gestaltet von Richard Harlfinger, der seit 1917 selbst an der WFA als Lehrer tätig war. 1929 trat die WFA Mitglied dem ›Bund österreichischer Frauenvereine‹ bei. Die bis 1936 über verschiedene Lokale im 1. Bezirk verteilte und erst ab 1936 im 3. Bezirk (Siegelgasse 2–4) in einem renovierten Schulbau angesiedelte Schule zählte um 1930 rund 300 Schülerinnen und 17 Lehrkräfte. Sie wurde in zahlreichen Tageszeitungen beworben bzw. es wurde in Zeitungen von der AZ über die NFP, NWJ bis hin zu Der Tag und zur WrZtg. über ihr Angebot bzw. ihre Aktivitäten berichtet. Seit 1928 wurden regelmäßig Ausstellungen im ›Österreichischen Museum für Kunst und Industrie‹ eingerichtet. Mit der Wirtschaftskrise nach 1933 ging und der sog. 1000 Mark-Sperre 1933 ging auch die Zahl der Schülerinnen um rund 40% zurück. Nichtsdestotrotz konnte die WFA mit ihrer Ausstellung zur Mode im Wandel der Zeit (gemeins. mit der Zs. Moderne Welt und der Sezession) im April desselben Jahres beträchtliche Resonanz erzielen. Das vierzigjährige Bestandsjubiläum 1937 wurde nur mehr durch eine kleine Ausstellung und einen Radiobeitrag publik gemacht. Nach dem Anschluss wurde diese Einrichtung im Nov. 1938 der Gemeinde Wien übertragen (formell am 1.3.1939 übernommen) und Teil der NS-Kunstpropaganda.


Quellen und Dokumente

Jily Kjäer: Die Entwicklung der Wiener Frauenakademie. In: Wiener Frauenakademie (1928), H. 4, S. 4, Ina Frank: Ausstellung der Wiener Frauenakademie. In: Die Österreicherin (1928), H. 5, S. 6f., Ankündigung in: Radio Wien (1928), H. 26, S. 911, A. F. Seligmann: Mode im Wandel der Jahrhunderte. Eine Veranstaltung der Wiener Frauenakademie. In: Die Moderne Welt 14 (1933), H. 7, S. 10, Frauenakademie – „Kunstschule der Stadt Wien“. Uebernahme in die Obhut der Gemeinde. In: Kleine Volks-Zeitung, 1.3.1939, S. 5.

Literatur

S. Plakolm-Forsthuber: Vom Ende der Wiener Frauenakademie in der NS-Zeit. In: H. Seiger, M. Lunardi, P.J. Populorum (Hgg.): Die Wiener Akademie der bildenden Künste und die faschistische Kulturpolitik. Wien 1990, 217-246; P. Melichar: Der Wiener Kunstmarkt der Zwischenkriegszeit. In: ÖZG, 17/2006 (Online verfügbar); O. Stieglitz, G. Zeillinger (Hgg.): Der Bildhauer Richard Kauffungen (1854-1942). Zwischen Ringstraße, Künstlerhaus und Frauenkunstschule. = Europ. Hochschulschriften. Reihe XXVIII, Kunstgeschichte, Bd. 426. Frankfurt/M. u.a. 2008, 121-177.

(PHK)

siehe: Wissenschaftliche Weltauffassung

(in Vorbereitung)

Buch-, Kunst- und Musikverlag, gegründet 1919.

Quellen und Materialien:

Eintrag bei: Geschichte Wien: hier.

Eintrag bei: Murray Hall: Verlagsgeschichte: hier.

(in Arbeit)

Aus der zwischen 1907 und 1920 wöchentlich erscheinenden, nationalzionistisch ausgerichteten Jüdische Zeitung hervorgehend erschien die Wiener Morgenzeitung (WMZ) in der mit 30. Dezember 1918 gegründeten Jüdischen Zeitungs- und Verlagsgesellschaft m.b.H., die in der Wiener Taborstraße angesiedelt war. Mitbegründet u.a. von den Zionisten Isidor Margulies, Adolf Stand und Adolf Böhm wurde die erste Ausgabe am 19. Jänner 1919 publiziert. Prägende Figur und langjähriger Chefredakteur und Herausgeber wurde Robert Stricker, der aus der 1896 neugegründeten zionistischen Studentenverbindung Veritas kam, Mitherausgeber der Jüdischen Volksstimme und Gefolgsmann Theodor Herzls war. Er formulierte im Programmartikel der ersten Ausgabe:

Die Presse ist eine scharfe, gewichtige Waffe, und das Volk, welches über eine gute Presse verfügt, kann sich rasch und leicht zu seinem Rechte durchschlagen. […] Die „Wiener Morgenzeitung“ wurde von Juden gegründet und wird von Juden geschrieben, welche den geraden Weg gehen wollen, weil sie überzeugt sind, daß er allein zum jüdischen Volksrecht und zur heilsamen Verständigung mit anderen Völkern führt.  […] Die „Wiener Morgenzeitung“ ist ein Judenblatt. Anderen brennt dieser Name wie ein Schandmal auf der Stirn, sie will ihn gerne tragen. (WMZ, 19.1.1919, S. 1)

Die WMZ stellte nach dem Ersten Weltkrieg die einzige deutschsprachige jüdische Tageszeitung Europas dar und war eng mit der Jüdischnationalen Partei in Österreich verbunden, die durch Stricker bei den Wahlen zur Konstituierenden Nationalversammlung ein Mandat erreichen konnte. Sie erreichte eine Auflage von 8.000 Stück. Neben jüdischen Aspekten in Kultur und Politik wurden mit der im Frühjahr 1919 von Anitta Müller-Cohen redigierten Beilage Frauenrecht und Frauenarbeit früh emanzipatorische Themenstellungen forciert. Auch die der Sozialdemokratie nahestehende Klara Mautner konnte sich insbesondere mit Sozialreportagen und Feuilletons zwischen 1922-1927 als Autorin positionieren; als Feuilletonisten und Kritiker wirkten zudem Otto Abeles und Oskar Rosenfeld mit. Im Feuilleton kamen Erzählungen und Romane jüdischer Autor/innen, darunter auch Übersetzungen zum Abdruck, u.a. von Mosche Smilansky, Leopold Kompert, Schalom Asch und Joseph Opatoshu.

Der Verlag hatte durchwegs mit finanziellen Sorgen zu kämpfen. Am 17. September 1927 erschien ohne Vorankündigung die letzte Ausgabe der WMZ, am 29. März 1928 wurde das Konkursverfahren gegen die Gesellschaft eröffnet.


Quellen und Dokumente

Digitalisierte Ausgaben: Compact Memory, UB Goethe-Universität Frankfurt am Main

Robert Stricker: Ein Judenblatt. In: Wiener Morgenzeitung, 19.1.1919, S. 1, Bruno Frei: Unheilbar. In: Wiener Morgenzeitung, 19.1.1920, S. 1, Else Feldmann: Die Juden in Lainz. In: Wiener Morgenzeitung, 24.7.1921, S. 4f., Otto Abeles: Franz Werfels „Bocksgesang“. (Uraufführung im Raimund-Theater.). In: Wiener Morgenzeitung, 12.3.1922, S. 5, Oskar Rosenfeld: Sommertage in Abbazia. Ouvertüre. In: Wiener Morgenzeitung, 22.7.1922, S. 3, Klara Mautner: Strindberg als Erzieher. In: Wiener Morgenzeitung, 22.10.1922, S. 11, E. G. Fried: Das Modebuch. Die Bücher des Schaufenster [zu Hugo Bettauers Freudlose Gasse]. In: Wiener Morgenzeitung, Literaturbeilage, 19.3.1924, S. 1,  Anitta Müller-Cohen: Die Frauenfrage in Palästina. In: Wiener Morgenzeitung, 28.8.1927, S. 4f.

Rettungsaktion für die „Wiener Morgenzeitung“. In: Jüdische Presse, 11.3.1921, S. 3.

Literatur

Dieter Hecht: Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt. In: Frank Stern, Barbara Eichinger (Hg.): Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938. Akkulturation – Antisemitismus – Zionismus, S. 99-114 (2009), D. H.: Jüdischnational-Zionistische Parteizeitungen. In: Chilufim 7/2009, S. 67-82, Dieter Mühl: Die Wiener Morgenzeitung und Robert Stricker. Jüdischnational-zionistischer Journalismus in Wien. In: Michael Nagel (Hg.): Zwischen Selbstbehauptung und Verfolgung. Deutsch-jüdische Zeitungen und Zeitschriften von der Aufklärung bis zum Nationalsozialismus, S. 253–268 (2002).

(ME)

(jiddisch ווילנער טרופע Vilner trupe)

Dieses Ensemble aus jiddischen Schauspielerinnen und Schauspielern entstand 1916 und zwar vermutlich im Zug der Auflösung des Wilnaer Staatstheaters. Noch während des Ersten Weltkrieges kam das zunächst in Grodno, Bialystok und Kowno auftretende Ensemble nach Warschau. Erstmals berichtete in Österreich die Wiener Morgenzeitung im Juli 1920 über diese Theatergruppe, die in Warschau den Namen WT annahm. 1921 folgten weitere Berichte, die bereits in höchsten Tönen von der Qualität und vom Erfolg dieses Ensembles sprachen, welche wesentlich von der Regiekunst Stanislawskis inspiriert war sowie auf die Aufführung von Theaterstücken An-skis, insbesondere des Dibbuk/Dybuk (UA, 9.12.1920 in Warschau) zurückging. Mit diesem Stück unternahm das Ensemble auch eine Reihe von Tourneen durch Europa und später auch in die USA. Im deutschsprachigen Raum gastierte die WT zuerst im Sept. 1921 in Berlin (auf Einladung von Sammy Gronemann und dem Hg. der Zs. Ost-West, Leo Winz) mit Die verlassene Schenke von Perez Hirschbein (erregte dabei die Aufmerksamkeit von M. Reinhardt ebenso wie jene von A. Döblin); in Wien gastierte sie im Okt.-Dez. 1922 in der Rolandbühne (Freie Jüd. Volksbühne) mit dem als „Sensation“ (NWJ) aufgefassten Dibbuk, aber auch mit Uriel Acosta von K. Gutzkow und anderen, auch nichtjüdischen Stücken. R. Musil feierte in einer Besprechung für die Prager Ztg. Bohemia die „schauspielerische Kultur“, die sprachlichen Leistungen sowie die der „Umwelt chassidischer Sagen“ entnommenen Stoffe und hob insbesondere die Schauspielerin Mirjam Orleska hervor (8.12.1922). Auf dem Spielplan der Truppe standen ferner auch R. Beer-Hofmanns Jaakovs Traum, Hebbels Judith, Schillers Don Carlos sowie Stücke von Leonid Andrejew, Michail Arzybaschew, Schalom Asch, David Pinski oder Scholem Alejchem u.a. Der Erfolg dieser Aufführungen führte zur Verlängerung des Gastspiels in den Jänner 1923 hinein (auf der Rolandbühne) sowie bis Anfang Februar auf dem Lustspieltheater, wo neben dem Dybuk auch A. Weiters Der Stumme zur Aufführung gelangte.

Aus: Wiener Morgenzeitung, 18.7.1920, S. 3

Danach setzte das Ensemble seine Gastspiele in Lemberg sowie in London und anderen englischen Städten mit ähnlicher Resonanz fort, u.a. auch mit Liebelei von A. Schnitzler und Der Weibsteufel von Schönherr. Im August 1924 gastierten die Wilnaer mit dem eher hölzernen Stück Doktor Kohn von Max Nordau sowie mit dem günstiger aufgenommenen Ein verworfener Winkel von Perez Hirschbein wieder am Wiener Carltheater. Unter den Schauspielern fand sich auch L. Halpern. Im Zuge des Musik- und Theaterfestes der Stadt Wien hielt sich auch der künstlerische Direktor der Truppe David Herman (1879-1937, Warschau) im Oktober 1924 in Wien auf, worüber z.B. die Morgenzeitung ausführlich berichtete. Das Interesse am jüd.-jidd. Theater führte ebf. im Okt. 1924 zu Überlegungen, unter Mitwirkung von Schauspielern der Wilnaer Truppe in Wien eine ihr verwandte Kleinkunstbühne zu eröffnen. Die internat. Resonanz, insbes. auf die Dybuk-Aufführungen, ermöglichte im Feb. 1925 die erste deutschsprach. Aufführung dieses Stücks in Wien (RolandbF. RosenfeldF. Rosenfeld aufgrund ihrer Bearbeitung und Herauslösung aus dem legendenartigen kulturellen Umfeld als von „ungeheurer BühnenAZrkung“ (AZ, 4.3.1925) empfand. Im Zuge verschiedener Veranstaltungen traten Ende der 1920er Jahre immer wieder in Wien weilende Mitglieder des Ensembles als Vortragende in Erscheinung, so z.B. Luba Kadison oder Jehuda Ehrenkranz, letzterer anlässlich eines Scholem-Alejchem Gedenkfeier im Mai 1926 sowie in mehreren Lesungen in den Jüd. Künstlerspielen, aber auch in Prag (bis in die 1930er Jahre hinein). Im selben Jahr absolvierte das Ensemble zuerst eine Rumänien-, danach eine, so Wiener Zeitungsberichte, weniger erfolgreiche (als erwartet) USA (New York, v.a. am Maurice Schwartz Yiddish Theatre)- und 1927 eine Argentinien-Gastspieltournee. 1928-29 berichteten Wiener Zeitungen zwar gelegentlich von Schauspielern aus dem Ensemble und deren Auftritte; das Ensemble selbst trat jedoch erst im Jänner und Februar 1930 (Der Tag, 24.1.1930,7) sowie im Mai- Juni und Oktober-Dezember 1930 mit einem umfangreichen Programm wieder in den Künstlerspielen sowie im Theater ›Reklame‹ (Taborstraße) auf, beginnend mit Schwer zu sein ein Jud von Alejchem über Der Dorfjunge von A. Kobrin bis hin zu Reklame von František Langer, Sintflut von H. Berger und selbst einem bunten Sylvesterabend am 31.12.1930. Auch im Folgejahr blieben die Wilnaer vorerst (bis Ende Februar) in Wien und setzten ihr Gastspielprogramm mit Der Teufel lacht von Sophie Bieloe, ferner mit Tag und Nacht von An-Ski fort, wobei Alex Stein Regie führte (und als Schauspieler auftrat), gefolgt von Die Tage unseres Lebens von L. Andrejew, Der Jazzsänger (nach dem gleichnamigen ersten Tonfilm) und Tewe der Milchiger, wiederum von Alejchem. Ende Dez. 1932 traf die Truppe nochmals in Wien ein, und spielte im Jänner-Februar u.a. Herschele Ostropoler von M. Liftschütz und im Mai Kidusch Haschem von Schalom Asch. Im Juli 1934 trat das Ensemble ein letztes Mal in Wien unter A. Stein auf, danach gab es nur noch vereinzelt bis 1937 Rezitationsabende unter Beteiligung (ehemaliger) WT-Schauspielerinnen und Schauspieler, was auch mit der Auflösung des Ensembles 1935 aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten zusammenhing.


Literatur

Michael Brenner: Deutsch-jüdische Kultur in der Weimarer Republik. München 2000 (engl. Originalausg. 1996), 218-220; Mirosława M. Bułat: Wilnaer Truppe. In: D. Diner (Hg.): Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur (EJGK). Bd. 6: Ta–Z. Stuttgart-Weimar 2015, 414-417; Debra Caplan: Yiddish Empire. The Vilna Troup, Jewish Theater and the Art of Itinerancy. Michigan 2018; Brigitte Dallinger: Quellenedition zur Geschichte des jüdischen Theaters in Wien. = Conditio Judaica, 42, Tübingen 2003; Salcia Landmann: „Der Dibbuk“ von An-Ski. Zur Aufführungsgeschichte. In: Diess.: An-Ski: Der Dibbuk. Frankfurt am Main 1989, Robert MusilRobert Musil: Die Wilnaer Truppe in Wien. In: Bohemia (Prag) 8.12. 1922, ferner in: ders.: Ges. Werke Bd. 9, hg. von A. Frisé. Reinbek 1981, 1613-1615; Shelly Zer-Zion: Habima. Eine hebräische Bühne in der Weimarer Republik. Paderborn 2016 (aus dem Hebr. Übers.), 123-129; Armin A. Wallas: „Jiddisches Theater“. Das Gastspiel der Wilnaer Truppe in Wien 1922/23. In: Das Jüdische Echo, vol. 44/1991, 179-192.

Quellen und Dokumente

A. Kleinmann: Jüdisches Theater in Warschau. In: Wiener Morgenzeitung, 18.7.1920, S. 3-4; A. Roisig: An der Grenze zweier Welten. In: NFP, 16.4.1921, S. 1-2; K. Maril: Jüdisches Theater in Berlin (über P. Hirschbein). In: Wiener Morgenzeitung, 15.9.1921, S. 10; N.N.: Spielplan der Wilnaer. In: Wiener Morgenzeitung, 15.2.1922, S. 5; H. M[argulies]: Die Wilnaer Truppe. In: NWJ, 1.11.1922, S. 6; O.A[beles]. Der fünfte Abend der Wilnaer. (Über Arzybaschew). In: Wiener Morgenzetung, 12.11.1922, S. 10; Uriel Acosta-Annonce. In: Wiener Morgenzeitung, 27.12.1922, S. 6; O.Abeles: Der Dorfsjing. (inkl. Annonce). In: Wiener Morgenzeitung, 26.11.1922, S. 10; e. kl.: Gastspiele der Wilnaer (Bilanz).In: NFP, 24.1.1923, S. 8; S. Gronemann: Die Wilnaer Truppe (Frühgeschichte). In: Wiener Morgenzeitung, 25.7.1924R. Hualla>; R. Hualla: Doktor Kohn. In: Der Tag, 14.8.1924, S. 7; N.N.: Ein jüdischer Regisseur. D. Herman in Wien. In: Wiener Morgenzeitung, 12.10. 1924, S. 10-11; N.N.: P. Hirschbein: Ein verworfener Winkel. In: NFP, 17.8.1924, S. 12; S. Meisels: Sch. An-Ski. Zur bevorstehenden deutschen Aufführung des Dybuk. In: NWJ, 27.2.1925, S. 8; F. R[osenfeld]: Der deutsche Dybuk. In: AZ, 4.3.1925, S. 9; F.R.: Wilnaer Truppe – H. Berger: Die Sintflut. In: AZ, 25.12.1930, S. 9; Die Wilnaer Truppe in Wien. In: NWJ, 30.12.1932, S. 6; M.S.: Über Gastspiel der WT: M. Liftschütz: Herschele Ostropoler. In: Der jüdische Arbeiter, 3.2.1933, S. 6.

(PHK)

Aus: Arbeiter-Zeitung, 13.10.1929, S. 17

Titel eines Beitrags, den O. Neurath am 13. Oktober 1929 in der AZ veröffentlicht hat. Dieser Beitrag baut auf die zuvor, d.h. im August 1929, veröffentlichte Programmschrift des Vereins Ernst Mach (VEM) auf (gegr. im Nov. 1928) unter dem Titel Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis auf (ohne namentl. Verfassernennung, doch weitgehend von Neurath, R. Carnap u. H. Hahn stammend) und ist Moritz Schlick zum Dank gewidmet, der im selben Jahr einen Ruf an die Univ. Bonn abgelehnt u. seit 1922/24 einen informellen Diskussionskreis zu Aspekten des logischen Empirismus bzw. des Neopositivismus (Schlick-Zirkel) aufgebaut hat. Das Konzept der wiss. Weltanschauung wurde erstmals öffentlich am Prager Kongress für Erkenntnislehreim Sept. 1929 vorgestellt, der u.a. vom VEM mitorganisiert worden war.

Die ‚wissenschaftl. Weltauffassung‘ (WWA) wird in Teil II (305-308) dieser Programmschrift näher ausgeführt. Sie charakterisiere sich nicht so sehr durch eigene Thesen, „als vielmehr durch die grundsätzliche Einstellung“. Als Ziel wird eine „Einheitswissenschaft“ formuliert, d.h. die Herstellung von Beziehungen zwischen den „Leistungen dereinzelnen Forscher auf verschiedenen Wissenschaftsgebieten“, womit die „Kollektivarbeit“ betont wird, aber auch die Suche „nach einem neutralen Formelsystem, einer von den Schlacken der historischen Sprache befreiten Symbolik“. Klarheit versus Dunkelheit, Oberfläche versus unergründliche Tiefen, Analyse versus Intuition: „Die wissenschaftliche Weltauffassung kennt keine unlösbaren Rätsel“ (WWA, 305). Die Klärung von Aussagen bzw. Problemen ist die Grundlage philosophischen Arbeitens und zwar auf das Basis der logischen Analyse (mit Bezug auf B. Russel und L. Wittgenstein). Diese Methode der logischen Analyse unterscheide die WWA und ihren neuen empirischen Positivismus vonälteren, stärker biologisch-psychologisch ausgerichteten Formen. Metaphysik wird als Irrweg abgelehnt, ebensodie Vorstellung, Denken könne aus sich heraus, ohne Erfahrungsmaterial zu Erkenntnissen führen. Dagegen kenne die WWA nur „Erfahrungssätze über Gegenstände aller Art und die analytischen Sätze der Logik und Mathematik.“ (WWA, 307). Die wissenschaftl. Beschreibung von Fragestellungen habe sich daher auf die empirische Oberfläche zu konzentrieren und nicht auf ihr sog. „Wesen“ oder auf subjektiv erlebte Qualitäten; letztere sind „nur Erlebnisse, nicht Erkenntnisse“ (WWA, 308).

Teil III der Programmschrift widmet sich den sog. ›Problemgebieten‹. Darunter werden folgende angeführt: 1. Die Grundlagen der Arithmetik, als in histor. Richtung wichtige Wissenschaft, die Anstöße zur Entwicklung der modernen Logik geliefert habe, aber einer Überprüfung ihrer Fundamente bedürfe, weil Widersprüche, die sog. ‚Paradoxien der Mengenlehre‘ aufgetreten seien. In diesem Zusammenhang wären auch die axiomatische Methode sowie die Aufstellung von Axiomensystemen für spezif. mathemat. Gebiete kontinuierlich zu überprüfen; 2. Grundlagen der Physik und dabei v.a. die Frage nach der „Bewältigung der Wirklichkeit durch wissenschaftliche Systeme, insbesondere durch Hypothesen- und Axiomensysteme“ (WWA, 310) u. verbunden mit einer weiteren Schärfung in der Begriffsbildung (betr. Raum, Zeit, Substanz, Kausalität u.a.), die durch die Fortschritte seit Helmholtz, Machu. Einstein den meisten anderen Wissenschaften bereits einen Schritt voraussei. Daran schließen 3. Grundlagen der Geometrie an, die sich insbes. mit Fragen einer nichteuklidischen Geometrie bzw. der seit Gauß entstandenen physikal. Geometrie befasst, welche dieeuklidische Geometrie von der mathematischen zunehmend geschieden u. axiomatisiert hat. Auch mit der Logik wurde sie in Beziehung gesetzt als eine„Theorie bestimmter Relationsstrukturen“ (WWA, 312), ferner 4. Grundlagen der Biologie und Psychologie. Dabei weist die Programmschrift auf die Versuche hin, beide Wissenschaftsgebiete metaphysisch besetzen zu wollen, einerseits durch den Vitalismus, andererseits durch sprachliche Praxen, die metaphysisch und durch das Konzept der Seele mitbestimmt sind, während behavioristische Ansätze grundlegend als der WWA „nahe“ eingestuft werden sowie 5. Grundlagen der Sozialwissenschaften. Auf diesem Feld sei noch mehr begriffliche Klärung nötig als in den zuvor genannten, z.B. in den Gebieten der Geschichte und der Nationalökonomie. Ein bündiger Abschnitt IV fasst Rück- und Ausblick zusammen, markiert nochmals die Differenzen zur herkömmlichenPhilosophie (Sätze aufstellen vs. Sätze erklären, Ablehnung des Begriffs der Idee) und forciert den der Erfahrung: „Es gibt keinen Weg zur inhaltlichenErkenntnis neben dem der Erfahrung“ Ebd., 314), weshalb die WWA auch als Erfahrungswissenschaft gelten könne, die dem Leben der Gegenwart nicht nur nahestehe, sondern ihm „dient“ (Ebd., 315). Der abschließende Teil besteht auseinem Literaturverzeichnis der Mitglieder des Wiener Kreis (Bergmann, Carnap, Feigl, Ph. Frank, Gödel, Hahn, Kraft, Menger, Natkin, Neurath, O. Hahn-Neurath, Radaković, Schlick, Waismann), unter deneneinige Schriften (insbes. betr. Carnap, Schlick) zusammengefasst u. erklärt werden, an das sich ein weiteres von dem Kreis nahestehender Wissenschaftler anschließt (Dubislav, J. Frank, Grelling, Härlen, Kaila, Loewy, Ramsey,Reichenbach, Reidemeister, Zilsel sowie Einstein, Russel und Wittgenstein.

Neuraths WWA-Beitr. in der AZ unterscheidet sich einerseits grundlegend von der Programmschrift, indem er das Konzept der WWA an eine politische wie ideologische Bewegung, jene der sozialdemokratisch organisierten Arbeiterschaft, heranzuführen unternimmt (und dabei eine historische und symbolische Sprache aufruft), andererseits relativiert er durch den systematischen Rekurs auf das Konzept von Einheits-und  Erfahrungswissenschaft, dem er auch den wissenschaftlichen Sozialismus zur Seite stellt, zugleich dessen traditionelle politische Rhetorik. Teilnahme an den modernen Entwicklungen über Integration der WWA in die Arbeiterbildung trage dazu bei, den Einfluss der kathol. Theologie zurückzudrängen, aber auch über die „altmodischen und unvollkommenen Werkzeuge des Materialismus“ der frühen Arbeiterbildungsbewegung hinauszugelangen.

Diese Position blieb verständlicherweise sowohl innerhalb des Wiener Kreises nicht unumstritten, so positionierte sich V. Kraft deutlich dagegen, als auch innerhalb des linken Flügels der SDAPÖ, dem Neurath sonst zugerechnet worden ist.


Quellen und Dokumente

Prager Kongreß für Erkenntnislehre. In: Prager Tagblatt, 27.9.1929, S. 7, Die Tagung der Wiener Freidenker. In: Arbeiter-Zeitung, 24.2.1931, S. 4, Felix Weltsch: Schöpfende und ordnende Philosophie. In: Prager Tagblatt, 4.11.1931, S. 4,

Literatur

O. Neurath: Gesammelte philosophische und methodologische Schriften. Bd. 1, hg. von R. Haller u. H. Rutte; V. Kraft: Der Wiener Kreis. Der Ursprung des Neopositivismus. Wien 1950, 31997; F. Stadler: Vom Positivismus zur wissenschaftlichen Weltauffassung. Wien 1982; Ders.: Studien zum Wiener Kreis. Wien 1997 (engl. 2001: The Vienna Circle); K. Sigmund: Sie nannten sich Wiener Kreis. Exaktes Denken am Rand des Untergangs. Wiesbaden 2015; Ch. Limbeck-Lilienau: Der Wiener Kreis: Texte und Bilder zum Logischen Empirismus. Wien-Münster 2015.

Eintrag bei wien.gv.at, bei anthrowiki.at, bei Universität Wien – Wiener Kreis, bei britannica.com sowie bei scienceblog.at.
Ferner (mit Audiodokumenten): Österreichische Mediathek: hier.

(PHK)