Proletarische Lektüren – Kulturdebatten und Leseprogramme in Wien 1919-1925

Das Modul zeichnet nach, wie der Stellenwert der Leseerziehung im Rahmen der Bildungspolitik der österreichischen Sozialdemokratie bzw. des ›Roten Wien‹ ab 1919 abgesteckt wurde und, damit verbunden, welche Rolle dabei literarische Werke oder Theaterstücke einnehmen sollten bzw. können. Untersucht werden v.a. die programmatischen Organe wie Bildungsarbeit (BA), Der Kampf, aber auch die Arbeiterinnen-Zeitung sowie, als Kontrast, die Rote Fahne (insbesondere die Jgg. 1919-20). Neben der eher überraschenden Präsenz von O.M. Fontana (BA 1919) wird besonderer Akzent auf die Besprechungen durch F. Rosenfeld gelegt, der seit 1922 in der BA umfängliche Besprechungen und Überlegungen zu relevanten Themen (u.a. Bergwerkromane, russische Erzähler, Dirnen-Stoff, Zukunftsromane) vorgelegt hat und die Rubrik Bücherschau maßgeblich mitzugestalten unternahm. Auch die Frage, inwieweit das Theater und die Theaterkritik zur proletarischen Lesekultur beitragen können, wurde breit diskutiert, u.a. unter Beteiligung von O. Koenig, E. Reich oder R. Wagner, der proletarische Theaterkritik als grundlegenden Teil der sozialistischen Bildungsarbeit verstanden wissen wollte.

Von Primus-Heinz Kucher

Inhaltsverzeichnis

  1. Bildung und Kultur im Spannungsfeld von Rätegedanken und Republikgründung
  2. Kunstabende und die Gewinnung der Frauen
  3. Kontrastbeispiel: Die Rote Fahne
  4. Abgrenzungen nach Links
  5. Fritz Rosenfelds Literaturkritik als Literaturerziehung
  6. Proletarisches Theater und/als sozialistische Erziehung

1. Bildung und Kultur im Spannungsfeld von Rätegedanken und Republikgründung

Unmittelbar nach der Ausrufung und Konsolidierung der jungen Republik im November 1918, die im Selbstverständnis der österreichischen Sozialdemokratie bis etwa Ende 1920 als sozialistische mit marxistischen Strukturen wie Arbeiterräten und dessen radikalen gesellschaftlichen Vorstellungen, aber auch einem dezidiert revolutionären Kulturprogramm verstanden und zum Teil auch gelebt wurde1, entwickelte sich in den bereits vor 1914 begründeten und 1918 wieder eingerichteten Bildungsinstitutionen, in bestehenden wie neuen publizistischen Organen, eine lebhafte und breite Diskussion über den Stellenwert der Lese-Erziehung, der Literatur im Besonderen sowie der neuen Medien (Lichtbild, Film, Radio, Schallplatte). Die Positionen waren dabei zwar grundlegend von der vom Parteivorstand im November 1919 autorisierten Sozialdemokratischen Kunststelle und ihrem Leiter David J. Bach vorgegeben2, aber sie ließen, insbesondere in den ersten Jahren bis etwa 1921-22 sowie rund um das Krisenjahr 1927, zum Teil beachtliche, im Rückblick überraschende Spielräume in Bezug auf ein Ausloten unterschiedlicher Ansätze, bildungspolitischer Strategien, Debatten und Wertungen zu. Neben einem kulturpolitisch die Linke begünstigendem Umfeld, z.B. in Form von progressiven bürgerlichen wie radikal-aktivistischen Zeitschriften (Die Fackel, Der Friede, Die Gefährten, Merker, Der Ruf u.a.)3 verdanken sich diese Spielräume einerseits der Notwendigkeit, der heterogenen parteiinternen Intelligenz entgegenzukommen und deren Potential maximal auszureizen. Neben den loyalen und angesehenen Stimmen wie Max Adler, Emil Reich, Oskar Pollak, Otto Koenig, Josef Luitpold Stern, Richard Wagner oder Otto Leichter galt es, die jüngere Generation rund um Ernst Fischer, Elisa Karau, Leo Kofler, oder Fritz Rosenfeld, ja selbst deklarierte Linksdissidenten wie Franz Rothe4, der 1919 zur KPÖ wechseln wird, sowie Einzelstimmen wie Oskar Maurus Fontana, Hans Natonek und Leo Lania, in das Kultur- und Bildungsprogramm der SDAP einzubinden. Andererseits entsprangen sie dem Konkurrenz- bzw. Überlegendheitsgefühl der Kommunistischen Partei Österreichs und deren Bildungsprogramm im Umfeld der Zeitung Rote Fahne gegenüber sowie der Idee, der KPÖ so wenig Terrain wie nur möglich zuzugestehen. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass z.B. in der Bildungsarbeit neben dem eher konservativen Literaturkritiker Otto König auch Rosa Luxemburg mit einem ausführlichen Beitrag Der Weg der russischen Literatur zu Wort kommen konnte.5

Anknüpfend an klassische sozialdemokratische Bildungsziele sprach der aus der Gewerkschaftsbewegung kommende Robert Danneberg, zugleich verantwortlicher Herausgeber der Monatszeitschrift Bildungsarbeit, in der ersten Nachkriegsausgabe im August 1919, offen aus, dass auf dem Weg hin zu einer sozialistischen Gesellschaftsordnung „die unvergleichbare Lehre von Karl Marx und Friedrich Engels […] uns dabei Pfadfinder sein“ und die sozialistische Gesinnung zudem auf „wissenschaftliche Erkenntnis“ fundieren müsse, – womit unmissverständlich der Anspruch auf eine Vereinbarkeit von marxistischer Theorie und sozialdemokratischer (Bildungs)Praxis neben der stärker auf Ferdinand Lasalle Bezug nehmenden Synthese aus Arbeit und Wissenschaft vorgetragen wurde6. Vom nötigen „Bund der Arbeit und Wissenschaft“ und einem darauf abzustimmenden Konzept der Volksbildung spricht kurz darauf Emil Reich in seinem Programmbeitrag Bildungsarbeit!7

In der Programmzeitschrift der österreichischen Sozialdemokratie schlechthin, im ‚austromarxistischen’ Der Kampf, kam der Bildungsarbeit und der Rolle der Literatur ebenfalls ein gewichtiger Stellenwert zu. Es waren dort die intellektuellen und politischen Eliten der Partei, die bereits in der ersten Nummer im Jänner 1919 die Eckpunkte der Diskussion absteckten: Max Adler in seinem Essay Die geistesgeschichtliche Bedeutung der materialistischen Geschichtsauffassung, Helene Bauer in ihrem Beitrag Sozialistische Bildungsfragen nach dem Umsturz, Emil Reich mit Das Theater und der Sozialismus, Oskar Trebitsch mit Die Partei und die geistigen Arbeiter sowie Richard Wagner mit seinem Beitrag Bildungsarbeit und Rätesystem.8 Auch die Literatur war, gemessen an der prioritären Ausrichtung der Zeitschrift an gesellschaftspolitischen Fragen und Herausforderungen, erstaunlich gut und vielstimmig vertreten: vorwiegend über Besprechungen, die oft ins Grundsätzliche tendierten, etwa zu Heinrich Mann (Der Untertan), Walter Hasenclever (Antigone), Rudolf J. Kreuz (Die große Phrase) oder Martin Andersen Nexö (Stine Menschenkind), mitunter auch in Personalunion aus Schriftsteller, Kritiker und Rezensent wie z.B. im Fall von Paul Hatvani, der Carl Sternheims Chronik von des zwanzigsten Jahrhunderts Beginn (1918) besprach. Demgegenüber waren Fragen der Bildung und im Besonderen der proletarischen Lektüre in der Arbeiter-Zeitung 1919 den politisch prioritären Diskussionen (Sozialpolitik, sozialistische Gesellschaft, Ernährungsfrage, Wahlbewegung) vorerst untergeordnet; selbst die Sonntagsbeilage brachte 1919 nur gelegentlich Beiträge zur Literatur, d.h. oft nur als Nachrufe (Altenberg, Mehring z.B.), Theaterkritik oder Allgemeines zur Lektüreerziehung. Ähnlich präsentierte sich die monatlich erscheinende Arbeiterinnen-Zeitung, die von Adelheid Popp herausgegeben wurde und deren verantwortliche Redakteurin Eugenie Brandl war. Erst ab 1922 nahm darin die Literatur einen größeren Stellenwert ein, wobei zunächst Erinnerungsbücher, z.B. Ich bekenne von Klara Müller-Jahnke oder ein Briefband Rosa Luxemburgs, im Vordergrund standen und offenbar als Begleittexte zu den Leitartikeln, etwa zur mehrteiligen und programmatischen Artikelserie Mutterschaft von Marianna Hilferding gedacht waren9. Die Ausrichtung an den Bedürfnissen der proletarischen Lebenswelt prägt auch die (sehr sporadische) Rubrik Was die Arbeiterinnen lesen sollen: Die Hausfrau, der Einkaufskorb und der Konsumverein von Emmy Freundlich, Frauenarbeit in der kapitalistischen Gesellschaft von Adelheid Popp und Wie will und soll das Proletariat seine Kinder erziehen? von Therese Schlesinger, – durchwegs Broschüren und sozialistische Gebrauchsliteratur, die besonders zum Kolportieren im Zuge von Maiveranstaltungen empfohlen werden10. Ab 1923 zeichnete Berta Pauli für die Mehrzahl der Beiträge zur Literatur verantwortlich, die ein breites Spektrum abdeckten, und zwar von Schillers Kabale und Liebe, über Erzählungen von Gottfried Keller und Marie von Ebner Eschenbach bis hin zu Thematisierungen des § 144 auf der Bühne oder Victor Marguerittes umstrittenen und „als abscheulicher Sumpf“ verworfenen Garçonne-Roman11.

2. Kunstabende und die Gewinnung der Frauen

Schwerpunkte der Diskussion im Bereich Bildung-Lektüren in den beiden gewichtigen Organen Die Bildungsarbeit bzw. Der Kampf bildeten bis 1922-23 neben der Organisation der Bildungsarbeit insgesamt, die Gewinnung der Frauen für die Sozialdemokratie über spezifische Bildungsangebote, die Frage des Theaters sowie die Gestaltung der Fest- und Feierkultur, ergänzt um Besprechungen, die literaturpolitische Akzente zu setzen trachteten.

Ausgehend von einer nüchternen Analyse des enttäuschenden Stimmverhaltens der Frauen bei den Wahlen im Oktober 1920 (um 5-7% geringerer Anteil für die SDAP im Vergleich mit den männlichen Stimmen/Wahlkreis) versuchte Friedrich Weiß ein speziell auf die Frauen abgestimmtes Programm vorzulegen. Dieses griff auf an sich traditionelle Zuschreibungen zurück, wonach Frauen, auch proletarische Frauen, offenbar von einer stärkeren „Gebundenheit“ an die „Hauswirtschaft“ und damit einhergehend einem „geringeren politischen Interesse“ weiterhin geprägt seien und der „Inhalt des Bildungswesens“ entsprechend ausgerichtet sein sollte. Es käme darauf an, „die besondere, vom durchschnittlichen männlichen Wesen abweichende seelische Natur der Masse der Frauen“ zu beachten, d.h. deren „stärkere gefühlsmäßige Richtung und das geringere Interesse und Verständnis vieler Frauen für theoretische, begriffsmäßige Ausführungen“ in Rechnung zu stellen. Als erfolgversprechende Strategie brachte Weiß die Literatur ins Spiel, auch hierbei auf diskutable stereotypische Bilder zurückgreifend, wenn er meinte, „auf das Gefühlsleben der Frau kann am stärksten die Dichtung einwirken, die Veranstaltung von ‚Kunstabenden als Kampfmittel’ (gesperrt gedr. im Orig.)12.

Wie solche Kunstabende aussehen, welche Rolle die Literatur dabei einnehmen könne, skizziert Oskar Maurus Fontana, der 1919-21 maßgeblich die Konturen proletarisch-sozialistischer Literatur-Erziehung und –Kritik in der Bildungsarbeit mitskizziert hat13, in einem weiteren Beitrag in derselben Nummer der Zeitschrift. Ausgangspunkt ist dabei die Überlegung, der Dichter sei ohnehin „von Geburt an Revolutionär“ und „nur Mißverständnisse, Verwirrungen des Tages verhindern oft, daß er mit dem politischen Kämpfer gemeinsam marschiert.“ Geradezu messianisch fügt Fontana ein breites Spektrum dichterischer und politischer Stimmen, „Wegbereiter des Sozialismus, die Märtyrer dieser Revolution“ zu einem in fünf Gruppen gegliederten Chor zusammen14. Klassische europäische Stimmen seit der Aufklärung kommen dabei neben sehr aktuellen, akzentuiert politischen Texten zu stehen, z.B. gleich in der ersten Gruppe, in der nach Jean J. Rousseau  mit Geburt, Giuseppe Mazzinis Die revolutionäre Initiative in Europa und Ferdinand Freiligraths Wann ich Demokrat wurde mit Pjotr Kropotkin, Rosa Luxemburg und Kurt Eisner Repräsentanten revolutionärer Konzepte und Akteure aus der Spartakus- bzw. der Münchener Rätebewegung angeführt werden, was in einer dezidiert dem Parteivorstand zugeordneten Plattform einigermaßen verwundert. Man kann daraus nur den Schluss ziehen, dass ungeachtet der tagespolitischen Konfrontation mit der KPÖ, die im Grunde keine vergleichbare Herausforderung darstellte wie dies in der Weimarer Republik in der Konfrontation zwischen Sozialdemokratie und USPD und KPD der Fall war, und trotz der Abgrenzung zum sowjetischen Modell15 maßgebliche marxistische Positionen als vereinbar mit der Sozialdemokratie ausgegeben wurden sowie Protagonisten der revolutionären Bewegung (Liebknecht, Luxemburg, Eisner, Toller u.a.) eine Vorbildfunktion auch in der Wiener Perspektive einnehmen konnten. Von Kurt Eisner wurde darüber hinaus 1919 in der Arbeiter-Zeitung eine Weihnachtslegende abgedruckt.16

Skeptisch gegenüber Vorschlägen, die Frauen über eine aktivere „Frauenpresse“ oder Bildungsarbeit für die Anliegen des Sozialismus zu gewinnen, zeigt sich ein programmatisch angelegter Beitrag von Rosa Löwy in der Arbeiterinnen-Zeitung unter dem Titel Frauenagitation. Als zentrales Problem sei zunächst die wirtschaftliche Notlage und die technische Rückständigkeit in der Hauswirtschaft anzusehen, deren Überwindung, z.B. durch verstärkten Ausbau von Gemeinschaftsküchen oder Waschanlagen, den Genossenschaftsgedanken stärken und die Frauen in weiterer Folge aus ihrer eher aufgezwungenen passiven Haltung herausführen könnte.17

In der Roten Fahne wiederum, die 1920 die Rubrik Aus der Frauenbewegung ihrer Sonntagsausgabe beigefügt hat, verläuft die Frontstellung nicht nur gegen die fortbestehenden kapitalistischen Machtverhältnisse, sondern dezidiert auch gegen die Reformbemühungen der Republik bzw. der Sozialdemokratie. Die zum Titel eines Programmbeitrags gemachte Frage Was hat die demokratische Republik den Frauen gebracht? wird lakonisch mit „Nicht viel“ beantwortet. Denn vieles von dem, was vor den Wahlen von 1919 der Sozialdemokratie als Forderung gegolten hätte, insbesondere der Ausbau von nötigen Mütter-, Säuglings- und Kinderheimen sowie öffentliche Schulausspeisungen, werde nun der privaten Wohltätigkeit überlassen. Daher „sehen die proletarischen Frauen immer deutlicher, daß in der demokratischen Republik niemals proletarische Frauenforderungen und Fraueninteressen ihre restlose Erfüllung finden werden. Sie bedeutet gegenüber der Monarchie wohl einen Fortschritt […] Sie kann und darf aber nicht das Ziel unserer Forderungen sein. Die endliche Befreiung der Frau kann nur durch die völlige Beseitigung des Privateigentums erfolgen.“18 [Gesp. gedr. im Orig.].

Diesem klassenkämpferischen, auf Veränderung der Machtverhältnisse ausgerichteten Ziel, ist hier unausgesprochen auch die Bildungsfrage untergeordnet, die erstaunlicherweise in Programmartikeln der Roten Fahne 1919-20 nur selten prominent platziert und wenn, dann meist im Zusammenhang mit Entwicklungen in Sowjetrussland19 und der Vision einer künftigen kommunistischen Gesellschaft, in der „die Kunst den Bedürfnissen des Volkes dienstbar“ zu sein habe, angesprochen wird.20 Vor diesem Hintergrund wundert es nicht, dass dem Aspekt eines spezifisch proletarischen Lektüreprogramms keine allzu große Bedeutung zugemessen erscheint. Es wird einerseits auf die Zukunft unter der Perspektive und Prämisse der Brechung der materiellen und damit auch kulturellen und künstlerischen Macht der Bourgeoisie verschoben, andererseits – meist unkommentiert – in die Feuilletonbeilage der Sonntagsausgabe gerückt. Das dabei anzutreffende Text- und Autorenspektrum unterscheidet sich überraschenderweise nicht grundsätzlich vom Autorenspektrum in der Bildungsarbeit oder in den Feuilletonbeilagen der Arbeiter-Zeitung, sieht man von einer gewissen Fokussierung auf Texte zur proletarisch-revolutionären Bewegung bei vergleichsweise knapperer oder fehlender Kommentierung derselben ab. Im Jahr 1919 (2. Jahreshälfte) lassen sich unter den knapp sechzig in Feuilletonbeilagen präsentierten Texten folgende Akzente ausmachen: eine klassisch-emanzipatorische Gruppe mit Freiligrath, Heine und Prutz, eine programmatisch auf die revolutionäre bzw. kommunistische Bewegung hin ausgerichtete, vorwiegend nichtliterarische Textgruppe mit Barthel, Kropotkin, Liebknecht, Lunatscharski, Luxemburg, Mühsam, Prager und Rühle, eine Akzentsetzung auf russische und französische, vorwiegend ‚bürgerliche’ Literatur mit Andrejew, Gorki und Turgenjew bzw. mit Daudet, Maupassant und Laborde, ferner die zeitgenössischen deutschen Autoren im Umfeld der Revolution wie Barthel, Eisner, Landauer, Lania und Mühsam, schließlich eine heterogen internationale Textgruppe  mit Jucchani, Mackay, Nexö, Strindberg und Whitmann sowie einige Interview-Texte und nicht namentlich gezeichnete Beiträge. Auch die ersten drei Monate des Jahrgangs 1920 brachten keine grundlegend neuen Akzente, im Gegenteil. Das Spektrum der literarischen Texte verschob sich sogar sichtbar hin auf Autoren aus dem 19. Jahrhundert: Ludwig Anzengruber, Georg Büchner,  Richard Dehmel, Heinrich Heine, Anton Tschechow, Josef Popper-Lynkeus, Walt Whitmann und Johann/Janos Lékai, ein Bruder von Maria Leitner sowie Hermynia Zur Mühlen. Insofern traf auch auf Österreich/Wien sowohl für die Rote Fahne/KPÖ als auch für die Sozialdemokratie in verwandter Weise zu, was die Literaturpolitik der KPD um 1920-22 kennzeichnete: ein Nebeneinander von klassischem Erbe und einer Rezeption eines quasi namensgleichen internationalen Spektrums – Zola, Lemmonier, Nexö, Tolstoi, Gorki, Falkberget, Sinclair – das als unmittelbare Vorläufer bzw. Mitstreiter einer proletarischen Literatur und Lesehaltung angesehen wurde.

3. Kontrastbeispiel: Die Rote Fahne

Eine Diskussion über den Stellenwert der Literatur und der Lektüreerziehung entwickelt sich demnach um 1920 prononcierter in der sozialdemokratischen als in der kommunistischen Presse. Über sporadische Einzelbeiträge hinaus wird nämlich eine solche in der Roten Fahne erst ab Mitte der 1920er Jahre fassbar, als einige an Literatur interessierte Intellektuelle definitiv zur KPÖ wechselten wie Ernst Fabri oder Leo Lania, die zuvor oder gleichzeitig – insbesondere Lania – längere Zeit auch in der sozialdemokratischen Presse an einschlägigen Debatten teilgenommen hatten bzw. als Impulsgeber für literaturpolitisch wie auch ästhetisch zeitaktuelle Fragen fungierten21.

Neben der bereits erwähnten, im Rückblick eher überraschenden Rolle von O.M. Fontana in der Bildungsarbeit bis 1921, die tendenziell auf ein ausgewogenes, aber als ‚proletarisch’ deklariertes Lektüreprogramm (klassische – internationale und zeitaktuelle Texte/Autoren) abgestellt war22, ist vor allem die Ausrichtung an der russischen und skandinavischen Literatur sowie an Positionierungsaspekten wie z.B. Pazifismus, Kriegs- bzw. kriegskritische Literatur oder Arbeiterbiographien in Erinnerung zu rufen.

Zwei Nummern des Jahrgangs 1920 brachten ins Grundsätzliche zielende Beiträge: zum einen Otto Hellers Übersicht zu Texten der Erziehung und Volkskultur in Sowjetrussland, zum anderen der weit ausgreifende Essay von Rosa Luxemburg, der gleichzeitig Teil ihres Vorworts zu der von ihr übersetzten Autobiographie von Wladimir Korolenko war.23 Ihre Präsenz in der sozialdemokratischen Bildungsarbeit überrascht nur im Rückblick. Sie ist als klares Indiz dafür lesbar, wie umfassend der Anspruch auf Besetzung politisch-kultureller Räume durch die Sozialdemokratie war, die 1919-20 über ihre starke Präsenz in den Arbeiterräten neben ihrer Beteiligung an einer bürgerlichen Regierung ein austromarxistisches und zugleich antibolschewistisches Profil propagierte unter dem Praetext, die Gefahr der Spaltung innerhalb der sozialistisch-revolutionären Arbeiterbewegung zu minimieren. Vor diesem Hintergrund schien es unabdingbar – zumindest auf der Ebene der Strategiediskussion und wesentlich ausformuliert durch Max und Friedrich Adler – klassische sozialdemokratische Positionen mit solchen aus der unmittelbaren revolutionären, partiell auch kommunistischen Erfahrung seit 1917/18 nach Möglichkeit zur Deckung zu bringen und als spezifisch österreichische, revolutionären und demokratischen Variante einer sozialistischen Utopie zu positionieren.24

Luxemburg versammelt in ihrem Essay ein breites Spektrum russischer Autoren seit dem Dekabristenaufstand (1825) mit durchaus differenten ideologischen und ästhetischen Zügen, die sie keineswegs als unüberbrückbare nebeneinanderstellt und die daher in gewisser Weise den austromarxistischen Vorstellungen entgegenkamen. Denn das eigentlich „Kennzeichnende dieser so jäh emporgekommenen russischen Literatur ist, daß sie aus Opposition zu dem herrschenden Regime, aus Kampfgeist geboren wurde. Daraus erklärt sich der Reichtum und die Tiefe ihres geistigen Gehalts, die Vollendung und Originalität ihrer künstlerischen Form.“25 Seit Puschkin und Lermontow über Dostojewski bis herauf zu Andrejew stünde sie im Zeichen eines Kampfes gegen die Finsternis, gegen Unkultur und Unterdrückung. Gleichzeitig verwahrt sich Luxemburg gegen jegliche und voreilige Zuschreibungen dergestalt, dieses Engagement als Tendenzkunst oder nach den Schablonen ‚reaktionär’ versus ‚fortschrittlich’ festmachen zu wollen.26 Aus dieser Grundhaltung heraus nimmt sie konservativ-reaktionäre Züge einzelner Texte von Dostojewski und Tolstoi in Schutz, habe doch deren Werk insgesamt „aufrüttelnd, erhebend, befreiend“ gewirkt. Selbst Leonid Andrejew, Vertreter der russischen Dekadenz, wird positiv von D’Annunzio abgehoben, könne nämlich seine dekadente Empfindungslage auf Erfahrungen des Schmerzes, der Hoffnungslosigkeit und Leidens vor dem Hintergrund des Russisch-Japanischen Krieges (1905) und der Schrecken der Konterrevolution von 1907f. zurückgeführt werden.

Einen Wendepunkt hinsichtlich der Literaturkritik und Lektüre-Reflexion stellte die schrittweise Übernahme der Literatur-Ressorts durch Fritz Rosenfeld im Lauf des Jahres 1922 dar, der an die Stelle von O.M. Fontana trat und mit Richard Wagner die kritische, bildungsbürgerliche Positionen stärker hinterfragende Gruppierung innerhalb des ständigen Mitarbeiterkreises stärkte. Bereits sein erster programmatisch ausgerichteter Beitrag Einiges über Ziele und Methodik des Arbeiter-Literaturunterrichts steckt nicht nur neue Konturen ab, er verrät bereits, welches Potential und welche Kenntnis der europäischen Literatur der zu jenem Zeitpunkt noch sehr junge Rosenfeld einzubringen versprach. Methodisch an den zeitgenössischen Ideen des Arbeitsunterrichts ausgerichtet (dialogisches Lernen, begleitende Reflexion, Anbindung an eigenen Lebenskontext, Problemzentriertheit anstelle chronologischer Darlegung), fokussiert Rosenfeld nach dem Motto ‚mehr Kaiser, weniger Schiller’ einerseits auf die Gegenwart – „die Literatur der Mitlebenden steht an erster Stelle“ – andererseits distanziert er sich von jeglicher „Betonung des nationalen Elements“.27 Und: „Anstelle des Nationalkampfes, den Chauvinistengeschreibsel predigt, trete der Klassenkampf“, weshalb bei der Auswahl der zu bearbeitenden Texte „revolutionäre Dichtung in jedem Sinne ins Auge gefaßt“ werden müsse, was wiederum die Möglichkeit eröffne, von klassischen Texten wie z.B. Lessings Emilia Galotti über Heine, Tolstoi und Anatole France Brücken in die Gegenwart, z.B. zu Upton Sinclair oder Ernst Toller zu schlagen und somit die „Erlebnismöglichkeiten des Proletariers“ anzusprechen28. Dadurch, dass Rosenfeld am Ende seines Beitrags die historisch-strukturelle Perspektive aufgreift – neben dem Revolutionären gelten ihm das Leiden und das reine Menschentum als ‚proletarische Erlebnispotentiale’ – relativiert er seine  polemisch wirkende Verwerfung von Traditionszusammenhängen sowie die impliziten (Ab)Wertungen überzeitlicher Kunstwerke. Mit anderen Worten: in dieser Kontextualisierung gewinnen Autoren wie Dante, Goethe, Grillparzer, Kleist, Hebbel, Molière und selbst Novalis ihren Raum neben der heroischen Linie von Dostojewski über Ibsen bis zu Wedekind und Kaiser zurück.

In einer Reihe von Beiträgen demonstriert Rosenfeld in der Rubrik Bücherschau eindrucksvoll seine Überlegungen. Neben Beiträgen zur russischen und skandinavischen (nordischen) Literatur wird dies vor allem in einem ausgreifenden Zyklus thematischer Besprechungen von insgesamt dreißig Texten unter dem Titel In den Tiefen der Erde (I-V) sichtbar, – Besprechungen, die durch das Rahmenthema ‚Arbeit’, und ‚Bergwerk’ in ihren vielfältigen Facetten verbunden sind. Ausgehend von einer aus heutiger Sicht verkürzt anmutenden, weil ausschließlich auf einen „Kampf ums Dasein“, einen „Kampf gegen die Tücke der Brotspenderin und Erzfeindin Erde“ enggeführten Reflexion der Gestaltungsprobleme „aller Bergmannsdichtung“ setzt Rosenfeld an den Beginn den „Anklageroman“ Germinal von Emile Zola. Diesem spricht er zwar, geprägt durch die Naturalismusdebatte (Tendenzaspekt, Forcierung des Hässlichen, Gemeinen, Triebhaften gegenüber dem Menschlichen) „dichterische Unzulänglichkeit“ zu; er kommt jedoch nicht umhin, den Blick „in Abgrundtiefen der leidenden Menschenseele“ trotz „Warnung vor dunklem Fanatismus“ als „menschlich ergreifende Schilderung jedes soziale Empfinden aufpeitschender Verhältnisse“ anzuerkennen, womit Rosenfeld ein vorsichtiges Abrücken von festgelegten literaturpolitischen Positionierungen aus der Vorkriegszeit einleitet.29 Unter den fünf Texten dieser ersten Besprechung kommt Bernhard Kellermanns sehr erfolgreichen, technikeuphorischen Roman Der Tunnel (1913), das „imposante Phantasiegemälde“ einer unterirdischen Verbindung zwischen Europa und Amerika, dessen Verwirklichung nicht nur unter Einsatz modernster Technik, sondern auch im Kampf gegen „die Aasgeier des Menschenmarktes, der kapitalistischen Gesellschaft“ angestrebt werde, Rosenfelds Erwartungen am nächsten, näher jedenfalls als der wohl als „eigenartig und kühn“, jedoch „nicht so überwältigend“ wirkende Klassiker von Jules Vernes30 oder E.T.A. Hoffmanns Bergwerke zu Falun. Insgesamt wird der Mehrzahl der besprochenen Bücher künstlerische Qualität abgesprochen, insbesondere jenen im dritten Teil (N. Lambrecht, M. Jokai, F. Adamus, A. Perfall und F. Werner)31; auch vom sozialistischen Standpunkt her seien nur wenige empfehlenswert. Nicht unproblematisch, aber stärker als Zola wird z.B. Camille Lemonnier und sein Roman Der eiserne Moloch angesehen; Johan Falkbergets In der äußersten Finsternis(1912) gilt Rosenfeld als beeindruckende „ewige Kunst“32, während die Texte aus der letzten Gruppe – fast durchwegs bekanntere Autoren – trotz ideologischer Nähe mitunter zwiespältig aufgenommen werden. An Franz Jungs Roman Die Eroberung der Maschinen stört Rosenfeld die seiner Meinung nach mäßig gelungene Verbindung zwischen der sprachexperimentellen Anlage und der Idee, die Masse zur „Trägerin des Geschehens“ zu machen, was zu „nüchternen Tatsachenfeststellungen“ führe, weniger aber zu Dichtung. Hermynia Zur Mühlens heute in Vergessenheit geratener Bergarbeiterroman Licht (1922), in dem der Einfluss Sinclairs fühlbar sei, behandle dagegen „mit erstaunlicher dichterischer Kraft“ ihr Thema der „Bewußtseinserweckung des Proletariats“ („wohl vom Standpunkt des Kommunismus“, so in einer Klammeranmerkung), bringe aber inhaltlich „nichts Neues“.33 Fasziniert und zugleich verunsichert zeigt sich Rosenfeld vom Roman Das Metall der Toten (El metal de los muertos, 1920) der spanischen Autorin Concha Espina und zwar aufgrund des Ineinandergreifens von „religiöse[r] Inbrunst und brutalem Radikalismus“ am Beispiel der „Bergsklaven“ in  den Kupferminen Südspaniens.34 Hans Kaltnekers Drama Das Bergwerk [1918] bildet, anlässlich der 1000. Wiener Arbeitervorstellung im Raimundtheater den Abschluss dieses Besprechungszyklus. Es weise zwar technische Fehler auf, wirke an Tollers Masse Mensch oder an Sinclairs König Kohle angelehnt, zeichne sich aber durch einen „heiße[n] Atem tiefer Menschlichkeit“ aus, der die „Erinnerungen an formale und inhaltliche Vorbilder [verscheucht]“, weshalb es „nicht vergessen werden darf.“35

Kurz darauf stößt Rosenfeld mit einer ausgreifenden Sammelbesprechung Russische Erzähler nach. Außer im Fall von Boris Sawinko und dessen Erinnerungen eines Terroristen handelt es sich hierbei um Vorkriegstexte von Autoren bürgerlicher Provenienz, deren Werke psychologische Grenzfälle oder Degenerationsprozesse eines „durch und durch verfaulten russischen Bürgertums“ thematisieren36. Auf diese Weise werde die Komplexität und Modernität der russischen Literatur neben ihrer Bindung an Kultur- und Gesellschaftsfragen deutlich. Fjodor Sologub, Michael Kusmin, Nikolaj Ljeskow und Leonid Andrejew bilden die konkreten Referenzen; Sologubs Der kleine Dämon wird Heinrich Manns Professor Unrat zur Seite gestellt, Kusmins Der zärtliche Josef wegen des modernen, Form und Narration aufsprengenden Gestus und der radikalen Verinnerlichung gerühmt, die in Andrejews Geschichte von den sieben Gehenkten eine weitere Zuspitzung erfahre, womit Rosenfeld neben die große Tradition der Realisten eine kritische bürgerliche Moderne stellt ohne marxistische Grundpositionen aufgeben zu wollen. Weitere Beiträge Rosenfelds widmeten sich 1923 Knut Hamsun, dem Genre Zukunftsroman oder dem Themenfeld Die Dirne, unter dem z.B. Der Mädchenhirt von Egon E. Kisch sowie die vielbeachtete deutsche Ausgabe von Alexej Kuprins Die Gruft vorgestellt wurden.37 1924 folgte schließlich eine Romain Rolland-Würdigung in zwei Teilen.

An diesen Basisreferenzen – skandinavische, russische, französische Literatur sowie thematische Akzente in verschiedenen Kontexten von Arbeit, Zukunft, Technik oder Figurentypen als soziale Phänomene – wird sich in den 1920er Jahren wenig ändern. Proletarische Literatur- und Leseerziehung zielte, wie auch Lanias Sammelbesprechung Dichter für das revolutionäre Proletariat (1925) bestätigt, die 1920er Jahre hindurch stets auf eine Verbindung zwischen einem klassisch-emanzipatorischen Textkanon (Büchner, Heine, Zola bis Nexö) und zeitnäheren, mit den revolutionären Umbrüchen enger verflochtenen Autoren, wobei sowohl die internationale Perspektive im Blick behalten wird als auch Entwicklungen in der Proletarischen Literaturdebatte in der Weimarer Republik, so z.B. Max Hermann Neißes Versuch, „eine proletarische Literaturgeschichte aufzubauen“38.

4. Abgrenzungen nach Links

Eine lebhafte Diskussion entwickelte sich ab 1919 auch im Hinblick auf das Theater, die Theaterkritik und deren Stellenwert für proletarische bzw. sozialistische Bildungsarbeit. Emil Reich eröffnete diese Diskussion im Kampf mit dem Grundsatzbeitrag Das Theater und der Sozialismus, in dem er das Theater als wichtige Plattform für volksbildnerische Arbeit generell sowie als aufklärerische im sozialistischen Sinn definierte.39 Kritischer positionierte sich 1921 Ludwig Klebinder über die Arbeitervorstellungen klassischer Werke im Rahmen der >Kunststelle<, die ihn in eine Polemik mit Otto Koenig verwickelte40. Klebinder fragt sich, ob „ […] die heutigen Arbeitervorstellungen, soweit sie der Popularisierung wichtiger Dichterwerke dienen, ihren eigentlichen Bildungszweck [erreichen] und verneint dies mit Verweis auf die mangelnde Vorbereitung des Publikums sowie auf die Inadäquatheit des Ambientes. Diese Debatte, durchaus konventionell mit Koenig ausgetragen, der den gegen die Bemühungen der Kunststelle und der Arbeiter-Zeitung gerichteten Vorwurf als (auch) persönliche Desavouierung großer Anstrengungen empfand und zurückwies41, geriet alsbald in den Schatten der zeitaktuellen Debatte über eine anstehende Vertrustung des Theaters am drohenden Beispiel der Volkoper. Hintergrund dieser Debatte war die Karriere des Bankiers und dilettierenden Schriftstellers Richard Kola, der über ein Geflecht an Firmen in der Papier- und Druckindustrie mehrere Zeitungen in Wien kontrollierte, im Dezember 1920 den Rikola-Verlag begründete sowie Mehrheitsanteile an diversen Theatern (Raimund-Theater, Stadttheater, Theater an der Wien) besaß42.

Ein genaueres Hinsehen auf das ansehnliche wie heterogene Spektrum der Theaterkritik in der Rubrik Kunst und Wissen der AZ zeigt allerdings, dass im Grunde Kritik an der generellen Ausrichtung der Rubrik und der Kunststellen-Arbeit von einem sozialistisch-proletarischen Standpunkt aus durchaus formulierbar war. Aber auch seitens der von Klebinder kritisierten Literaturredakteure Bach und König wurde der Versuch unternommen, den tendenziell bürgerlichen Theaterbetrieb in seiner Programmgestaltung zu hinterfragen und Akzente zu forcieren, die vom Unterhaltungs- und Repräsentationstheater weg in Richtung eines sowohl künstlerisch als auch politisch fortschrittlichen Theaters deuteten. Mit anderen Worten: es findet sich in der AZ in den Jahrgängen 1921-23 ein Nebeneinander von bemerkenswert kritischen, auf eine sozialistisch-proletarische Lese- und Theaterkultur ausgerichteten Beiträgen und in der Diktion recht konventionellen Aufführungsbesprechungen. Letztere orientierten sich eher affirmativ am Angebot und verfuhren dabei ähnlich (hierarchisch) wie bürgerliche Zeitschriften: beginnend beim Burgtheater und seinem (eher klassischen) Programm, um sich danach durch ein ideologisch wie ästhetisch teils fragwürdiges, oft unterhaltungstriviales, gelegentlich aber auch hochwertigeres Angebotsspektrum  zu mühen, wobei sich Bach und Koenig bei einzelnen Autoren schwer taten, nötige Distanzen erkennbar scharf herauszuarbeiten, etwa im Fall von Hermann Bahr.43 Trotzdem ist nicht zu übersehen, dass bei aller Kompromissbereitschaft eine wenn schon nicht akzentuiert proletarische, so doch sozialistische und kritische Rezeptionshaltung angestrebt worden ist. 1922 etwa werden mehrere Aufführungen von Hauptmann-Stücken und Verfilmungen, darunter Die Weber, Vor Sonnenaufgang oder Hanneles Himmelfahrt, besprochen, ferner Wedekinds Lulu, Schönherrs heftig diskutiertes Es-Stück mit seinem Kampf um einen Fötus zwischen einer rationalen Mann-Figur und einer das ‚Weib-Prinzip’ verkörpernden Frau, Stringbergs Fräulein Julie nebst Klassikern der internationalen ‚proletarisch-revolutionären’ Literatur und Kunst wie Nexö, Sinclair oder George Grosz.

Richard Wagner stellte daraufhin neuerlich die Theaterkritik in den sozialdemokratischen „Arbeiterblättern“ zur Diskussion, wenn er in einem heftig umstrittenen Beitrag schon einleitend meint, man könnte „mitunter leicht in Zweifel geraten, ob man eine proletarische oder eine bürgerliche Zeitung in der Hand hat. So völlig gleichartig sind oft Inhalt und Ton der Besprechung.“44 Wagner hinterfragt die „bourgeoise Übung“, die Aufführungen der wichtigen Bühnen, vor allem Neuinszenierungen „als den unentbehrlichsten Gegenstand der kulturellen Besprechungen zu betrachten“ und „sei das neue Stücke für die Arbeiter noch so gleichgültig“, womit eine ziemlich klare Frontstellung zur Theaterkritik, dominierend in der Rubrik ‚Kunst und Wissen’ in der Arbeiter-Zeitung, die vor allem David J. Bach verantwortete, bezogen wurde. Müsse diese, so Wagner, in der Arbeiterpresse denselben Raum einnehmen wie in der bürgerlichen? Wäre, so seine Kritik, „nicht die regelmäßige Berichterstattung über Arbeitervorträge und neue sozialistische Schriften von weit größerer Wichtigkeit“ sowie „die sehr eingehende, regelmäßige Besprechung der Kinostücke, natürlich vom Standpunkt proletarischer Erziehungsarbeit aus“, spiele doch letzteres, das Kino, eine vergleichsweise größere Rolle im Alltagsleben des Proletariats?45

Wenn Theaterkritik nur „neutrale Einführung der Arbeiter in das bürgerliche Theater“ sein wolle, dann habe sie, trotz bester Absichten, ihren Zweck verfehlt. Wagner erinnert daran, dass die „gesamte bürgerlich-kapitalistische Kultur […] Klassenkultur ist“, was eine grundlegende oppositionelle „Kampfstellung“ erfordere sowie die Analyse ihres Klassencharakters, womit eine geradezu klassisch-marxistische Positionierung zum Ausdruck kommt:

Die proletarische Theaterkritik darf nicht nur ästhetische Untersuchung, sie muß zugleich soziologische Studie sein und dies in ganz gründlicher Weise, weil der ästhetische Gehalt jedes Kunstwerkes in den Gesellschaftsverhältnissen unlösbar verwurzelt ist […]

und daher in den Schluss mündet:

Proletarische Theaterkritik muß sozialistische Bildungsarbeit sein. Sozialistische Bildungsarbeit aber ist immer auch Klassenkampf.46

So klassenkampfbetont hat es D. J. Bach gewiss nicht gesehen, obwohl auch er, ja selbst Koenig, der schon 1921 Josef Mayerhofers Komödie Umsturz als „proletarische Komödie“ betitelt hatte47, den Aspekt der Verknüpfung von Literatur- bzw. Theaterkritik mit sozialistischer Bildungsarbeit jederzeit unterschrieben hätte.


  1. Man denke z.B. an die anfängliche Parallelität von Parlamentarismus und Rätegedanken, der u.a. von Max Adler, dem gewichtigen Theoretiker des Austromarxismus, leidenschaftlich verfochten wurde. Dazu etwa sein programmatisch ausgerichteter Artikel Probleme der sozialen Revolution. Die Eigenart des Rätesystems. In: AZ, 1. Mai 1919, S. 9-10; ferner seine Polemik gegen die ‚Abspaltung’ der Partei der Kommunisten von der sozialistischen Bewegung, für ihn ein „akuter Rückfall in den utopischen Sozialismus“ und das Beharren auf Marx und Engels als Leitfiguren auch der Sozialdemokratie. Vgl. M. Adler: Sozialismus und Kommunismus. In: Der Kampf. Sozialdemokratische Monatsschrift. Wien 1919, S. 252-256, bes. S. 253.
  2. Vgl. Alfred Pfoser: Literatur und Austromarxismus. Wien: Löcker 1980, S. 59-64. Eine erste Bilanz, aufschlussreich für das Selbstverständnis dieser Institution, legte David Bach bereits im Artikel Die Kunststelle der Arbeiterschaft, AZ, 30.10.1921, S. 7, vor.
  3. Armin A. Wallas: Österreichische Literatur-, Kultur-, und Theaterzeitschriften im Umfeld von Expressionismus, Aktivismus und Zionismus. Wuppertal: Arco 2008, bes. S. 43ff.
  4. Vgl. z.B. die scharfe Debatte zwischen O. Bauer und F. Rothe im Kampf, 1919.
  5. BA, Nr. 1920, S. 61-65.
  6. Robert Danneberg: Zu neuer Arbeit. In: Bildungsarbeit (BA) Nr. 1, Aug. 1919, S. 1-2.
  7. Emil Reich: Bildungsarbeit! In: BA, Nr.3-4, Okt. 1919, S. 1-2, bes. S. 2.
  8. Der Kampf. Sozialdemokratische Monatsschrift. Jg. 12, Nr. 1, Jänner 1919, 634-637 bzw. S. 693ff.
  9. Arbeiterinnen Zeitung Nr. 2/1922, S. 2-3 bzw. Nr. 12/1923, S. 5-6 (Briefwechsel zwischen R. Luxemburg und Karl und Luise Kautsky).
  10. Ebd. Nr. 5/1922, S. 8.
  11. Ebd. Nr. 3/1924, S. 8 (Margueritte), Nr. 6/1924, S. 9 (Schiller) bzw. Nr. 12/1924.
  12. Friedrich Weiß: Die Gewinnung der Frauen für den Sozialismus. In: BA, Nr. 11/1920, S.81-82, hier S. 81.
  13. Vgl. z.B. auch seine Beiträge: Vom Krieg zum Frieden in der Literatur; in: BA Nr.1-2/1919, S. 16 (Besprechung von 19 Texten); Programme für Vorlesungen; in: BA Nr.3-4/1919, S. 10; Die Ausstellung ‚Das billige Buch’; in: BA Nr 1/1920, S. 6 sowie: August Strindberg. In: BA Nr.4-5/1921, S. 39-40.
  14. O. M. Fontana: Kunstabende als Kampfmittel, BA, Nr. 11/1919, S. 86-87, hier S. 87.
  15. Dies wurde v.a. im Oktober 1920 im Zusammenhang mit der Diskussion um die ‚neue’ (dritte) Internationale deutlich, als z.B. Friedrich Adler diese als oktroyierte „Zusammenfassung der kommunistischen Parteien aller Länder“ sowie als Rückschritt dem Modell einer auf Arbeiterräten und Parteien gestützten Internationalen bezeichnete: „…daß die gemeinsame Aktion der Internationale hervorgehen muß aus der Anpassung der sozialistischen Parteien aller Länder aneinander. Wir bewundern die Energie und den Opfermut der russischen Revolutionäre, aber wir können nicht darauf verzichten, in die Internationale einzutreten als Gleiche unter Gleichen.“ (gesperrt gedr.), In: F. Adler: Möglichkeiten der Internationale. In: AZ, 10.10.1920, S. 9; dieser Beitrag wurde auch in den Zeitschriften L’Humanité (Paris) und Der Kampf, 1920, S. 353-356 abgedruckt.
  16. K. Eisner: Fisiko. Weihnachtslegende in drei Zeiten. In: AZ, 25.12.1919, S. 9.
  17. R. Löwy: Frauenagitation. In: Arbeiterinnen-Zeitung Nr. 5, 1.3.1921, S. 4-5.
  18. N.N.: Was hat die demokratische Republik den Frauen gebracht. In: Die Rote Fahne (RF), 22.2. 1920, S. 5.
  19. N.N.: Das Kulturwerk Sowjetrusslands. In: RF, 28.9.1919, S. 5f.
  20. N.N.: Die Kunst und der Kommunismus. In: Die soziale Revolution II, 12.4. 1919, S. 1.
  21. Vgl. z.B. Lanias Feuilletontexte 1923 und 1925 in der AZ, seine programmatischen Besprechung von U. Sinclair unter dem Titel Das Kapital und die Wissenschaft, AZ, 26.1.1924 S.9-10 bzw. Dichter für das revolutionäre Proletariat, AZ, 20.4.1925, S. 5 bis hin zu: Maschine und Dichtung. In: AZ, 22.11.1927.
  22. Fontana verfasste darüber hinaus auch Beiträge für die AZ, z.B. anlässlich des 50. Geburtstages von Heinrich Mann, AZ, 26.3.1921, S. 5.
  23. Otto Heller: Erziehung und Volkskultur in Sowjetrussland. In: BA Nr 4/1919, S. 31-32, wo neben Flugschriften ins Deutsche übersetzte Programmtexte von Lenin, Bogdanoff und v.a. Lunatscharskis Schrift Die Kulturaufgaben des Proletariats (dt. 1919) besprochen werden bzw. Rosa Luxemburg: Der Weg der modernen russischen Literatur. In: BA Nr. 7/8, S. 61-64.
  24. Vgl. dazu Rolf Reventlow: Zwischen Allierten und Bolschewiken. Arbeiterräte in Österreich 1918 bis 1923. Wien-Frankfurt-Zürich: Europaverlag 1969.
  25. Ebd. S. 61.
  26. Ebd. S. 62.
  27. F. Rosenfeld: Einiges über Ziele und Methodik des Arbeiter-Literaturunterrichts. In: BA, Nr. 6/1922, S. 43-44, hier S. 43.
  28. Ebd. S. 44.
  29. F. Rosenfeld: In den Tiefen der Erde I; in: BA 1922, S. 15-16. Die weiteren besprochenen Texte sind: B. Kellermann: Der Tunnel, Jules Verne: Reise zum Mittelpunkt der Erde, E.Th. A. Hoffmann: Die Bergwerke zu Falun, A. Strindberg: Das Märchen vom St. Gotthard und F. Molnar: Das Bergwerk.
  30. Ebd. S. 16.
  31. Ebd. S. 55-56.
  32. Ebd. S. 71.
  33. BA 1923, S. 66.
  34. Ebd. S. 67, vgl. auch die grundlegende Einschätzung ebd.: „Als Ganzes genommen trägt das Werk wohl alles an sich, was Dichtung geben kann: Beschreibung, Handlung, Menschenzeichnung, Problemgestaltung…“
  35. Ebd. S. 67.
  36. Ebd. S. 94-95, hier S. 94.
  37. Ebd. S. 7f. (Hamsun), S. 81-83 (Zukunftsromane) oder S. 74-76 (Dirne). Zu Kuprin vgl. auch: Berta Pauli.
  38. AZ, 20.4.1925, S. 5.
  39. E. Reich: Das Theater und der Sozialismus. In: Der Kampf, 1919, S.
  40. Ludwig Klebinder: Das Unzweckmäßige an den heutigen Arbeitervorstellungen. In: BA 1921, S. 20 bzw. Otto Koenig: Das Unzweckmäßige an den heutigen Arbeitervorstellungen; ebd. S. 36-37.
  41. Ebd. S. 20.
  42. AZ, 2.3. 1921, S. 6-7: Die Volksoper und die Vertrustung des Theaters. D. Bach, Verf. des Beitrages, warnt daher eindringlich davor, den Widerstand gegen den vorgeschobenen Rainer Simons, nicht aufzugeben: „Was unter Umständen ein Mittel sein könnte, jungen Talenten zu helfen, wird hier, durch die Macht des Kapitals, ein Mittel, jegliche Entwicklung zu unterbinden.“ (S.7) Zu Kola und dessen Rolle vgl. http://www.verlagsgeschiche.murrayhall.com/index.php?option=com
  43. Vgl. z.B. die Besprechung des Lustspiels Der Unmensch, AZ, 4.1.1921, S. 5, in dem zwar die „Gesinnung der Gesinnungslosigkeit“ angeprangert und Bahr als einst gefeierter Komödienschreiber nun als „von Weltanschauung (…) aufgetriebener Schwankdichter“ tituliert wird, aber trotzdem über die schauspielerische Leistung es nicht zur erwartbaren Verwerfung des Stückes selbst bzw. des Autors kommt.
  44. R. Wagner: Theaterkritik und Bildungsarbeit. In: Bildungsarbeit Nr. 7-8/1923, S. 62; Richard Wagner (1888-1941) kam eigentlich aus dem Umfeld von Julius Deutsch (Staatsekr. für Heerwesen), war 1918-19 einige Monate in Berlin, legte 1919 die Schrift Bildungsarbeit und Rätesystem vor, engagierte sich für die Gründung der Arbeiterhochschule und fand dann in der Gewerkschaftspresse ab 1925 seine feste Anstellung. Vgl. Ernst Glaser: Im Umfeld des Austromarxismus. Ein Beitrag zur Geistesgeschichte des österreichischen Sozialismus. Wien-München-Zürich 1981, S. 344f.
  45. BA 1923, S. 62.
  46. Ebd.
  47. AZ, 3.5.1921, S. 4, Rubrik Kunst und Wissen: Eine proletarische Komödie. Diese sei zwar „in Komposition und Situation ein bißchen stark unwirklich, und im dramaturgischen Endspiel nicht gerade sehr gerissen, aber sie steckt voll von unzähligen frischen Witzen, aktuellen Schlagern und wird beherrscht von einer so treffenden Satire (…) daß ihr Eindruck ein überaus lustiger, ihre Wirkung gerade als Maifestvorstellung eine unübertreffliche war.