Name einer Fabrik und der dazugehörigen Arbeitersiedlung. Die Fabrik, seit 1823 urkundlich belegt, war eine Textilfabrik und befindet sich in der niederösterreichischen Gemeinde Gramatneusiedl. Sie zählte, nach der Fusion mit einer Baumwoll-Spinnfabrik (Marienthaler und Trumauer Actien-Spinn-Fabriks-Gesellschaft) im Jahr 1864, zu den innovativsten im 19. Jhdt., entwickelte eine urbane, rationale Struktur mit moderner Infrastruktur (Betriebsfeuerwehr, Krankenhaus, Badeanstalt, Fabrikschule, Unterstützungskassen etc.) Bekannt geworden sind diese Fabrik und die dazugehörigen Arbeiterwohnanlagen durch die Untersuchung Die Arbeitslosen von Marienthal, durchgeführt von Marie Jahoda und Paul Lazarsfeld im Auftrag der Österreichischen Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle (durchgeführt 1931-32, veröffentlicht 1933), die heute als ein Klassiker der empirischen Sozialforschung gilt.

Materialien und Quellen:

Eintrag in dasrotewien: hier.

(in preparation)

Zwischen Juli 1929 und Jänner 1931 wurde die Textilfabrik Marienthal, ein Leitbetrieb seit Mitte/Ende des 19. Jahrhunderts in einer strukturschwachen Region Niederösterreichs geschlossen. Das bedeutete für nahezu alle der um die Fabrik gebauten Orte eine zuvor nie gekannte Arbeitslosigkeit. Auf Anregung von Otto Bauer, dem Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei, sollte dies zum Anlass einer empirischen Studie auf der Basis begleitender Feldforschung werden, die nominell der Sozialpsychologe Paul Lazarsfeld übernahm und deren Hauptautorin Marie Jahoda war. Die Ergebnisse dieser Studie, die 1933 veröffentlicht wurden, waren wegweisend, weil sie erstmals valide Daten über psychophysische Befindlichkeiten, Problemlagen und Strategien, mit dieser Erfahrung umzugehen bereitstellten.

Materialien und Quellen:

Eintrag in: dasrotewien.at; Eintrag in: Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich: ASGÖ;

Bericht in: Das Leben in Marienthal. In: Der Kuckuck, 2.7. 1933, S. 14-16;

Reinhard Müller: Marienthal. Das Dorf – Die Arbeitslosen – Die Studie. Innsbruck-Bozen-Wien: Studienverlag 2008; rez. von G. Jost im Forum Qualitative Sozialforschung 1/10/2009.

Video zur Ausstellung ‚Das Rote Wien‘ – Marienthal (2013): hier;

Die Arbeitslosen von Marienthal. In: ORF-Ö1, 8.4.2017; N. Seitz: Soziologische Feldforschung. Die Arbeitslosenstudie von Marienthal. In: Deutschlandfunk, 18.11.2021;

(PHK, work in progress)

Begründet 1920 durch den Komponisten und Dirigenten Hermann Scherchen (1891-1966), der 1912 die Uraufführung von Pierrot lunaire von Schönberg dirigierte, als Organ der ebf. Von ihm 1918 gegründeten, avantgardistisch sich positionierenden Neuen Musikgesellschaft.

1921 wurde sie vom Musikwissenschaftler Fritz Fridolin Windisch übernommen, erschien 1922-24 nicht. 1924 wurde Hans Mersmann mit der redaktionellen Leitung betraut, 1927 ging sie an den Schott-Verlag. Sie unterhielt enge Beziehungen zur Wiener Universal Edition und ihrer Schriftenreihe. Wichtiger Mitarbeiter aus Wien war u.a. Egon Wellesz. 1934 wurde sie von den Nazis gleichgeschaltet und als Neue Musikzeitschrift in angepasster Form weitergeführt.


Quellen und Dokumente

Digitaler Zugang zu allen Heften: Wikisource

Literatur

Stefan Schulze: >Melos< – die Geschichte einer außergewöhnlichen Musikzeitschrift. In: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 1999, 173-191.

Eintrag bei musikderzeit.de.

(PHK)

Mocca war eine von Juli 1928 bis August 1941 monatlich in Wien herausgegebene Publikumszeitschrift, die im Rob-Verlag des Malers und Karikaturisten Karl Rob (eigentlich Robitsek/Robitschek) erschien.

“Mit der Revue “Mocca, die den besten Monatsschriften Deutschlands ebenbürtig ist, dürfte eine Lücke in der heimischen Produktion dieser Art geschlossen worden sein”, war sich Rob in der ersten Ausgabe sicher. Obwohl als “Magazin für Alle (sic!)” angepriesen, zielte die zwischen 70 und 100 Seiten umfassende Mocca vor allem in den Anfangsjahren vorwiegend auf ein männliches, gebildetes und gut situiertes Zielpublikum ab, was sich sowohl in der Auswahl der Texte und des Bildmaterials als auch in den Werbeeinschaltungen widerspiegelte. Dazu gehörte – wie in beinahe allen Publikationen aus dem Hause Rob – auch der Abdruck erotischer Zeichnungen und Fotografien. Der Großteil dieser qualitativ hochwertigen Fotos stammte aus dem Wiener Atelier Manassé, das bekannt war für seine glamourös-erotisch inszenierten Frauenakte.

Über die gesamten Erscheinungsjahre Bestand hatten die dem Abenteuer-, Liebes- oder Krimi-Genre zuzurechnenden Kurzgeschichten und Novellen von nationalen und internationalen Autoren und Autorinnen wie Georg Fröschel, Gina Kaus, Karel Capek, Fritz Schick, Otto Soyka, Karl Schneller, Fritz Koselka, Mary Day Winn, Henry Melville, Friedrich Wallisch, Else Herzka Freistadt, Josef Weinheber oder Carl Julius Haidvogel. Ein fixes Element waren auch die mit zahlreichen Fotos ergänzten, stets ein wenig spöttisch-ironisch formulierten Reiseberichte aus aller Welt, die sich zu Beginn bevorzugt mit exotischen Destinationen in Afrika, Asien und Amerika auseinandersetzten, späterhin aber vor allem den Regionen Österreichs widmeten. Im Mittelpunkt stand dabei jedoch weniger die inhaltliche Information als vielmehr das spektakuläre Foto. Kurze Berichte über internationale Sportveranstaltungen waren ebenso charakteristisch für Mocca wie Karikaturen, Preisausschreiben und Witzseiten. 

Mit dem Beginn der 1930er Jahre erfuhr die Zeitschrift schrittweise eine inhaltliche Adaptierung insofern, als man von der anfänglichen starken Fokussierung auf ein männliches Lesepublikum abzurücken begann: Die schrittweise Hinwendung zur weiblichen Leserschaft zeigt sich – neben der entsprechenden Adaptierung der Werbeinserate – u.a. in der Tatsache, dass zwischen 1934 und 1939 unregelmäßig eine mehrseitige, mit zahlreichen Abbildungen versehene Modenbeilage für die Frau erschien, sowie vermehrt Kurzgeschichten abgedruckt wurden, die weibliche Identifikationsfiguren boten, sich dezidiert weiblichen Themen widmeten oder gar mit ansatzweise emanzipatorischem Gedankengut befassten. Darüber hinaus wurden nun regelmäßig Fotos von Kindern und/oder Tieren in liebenswert-unterhaltsamen Situationen und mit humorvollem Untertitel abgedruckt. Auch die Abbildungen nackter Frauenkörper wurden deutlich seltener bzw. durch Darstellungen lasziv wirkender Tänzerinnen in teils transparenter, teils sparsamer Bekleidung ersetzt;diese Akzentverschiebung dürfte auch auf mehrere Beschlagnahmungen im Jahr 1934 zurückzuführen sein.

 Zudem kamen, verspätet anknüpfend an das Konzept der „Neuen Frau“, vermehrt betont seriöse (z. T. bereits kolorierte) Portraits prominenter Frauen aus der internationalen Opern-, Theaterwelt, des österreichischen und deutschen Films und des Hollywood-Kinos zum Einsatz. 

Wurde in den ersten Jahren noch völlig auf konkrete Bezugnahmen zum aktuellen Zeitgeschehen verzichtet – so fanden etwa weder die nationalsozialistische Machtübernahme in Deutschland 1933 noch die Februarkämpfe im Österreich des Jahres 1934 Erwähnung – ,  änderte sich dies ebenfalls ab den frühen 1930ern: Fotografien mit knappen Kommentaren wiesen z. B. auf die Eröffnung der Glockner Hochalmstraße im Jahr 1935 hin; 1936 erschien ein mehrseitiger, ebenfalls bebildeter Augenzeugenbericht aus dem Spanischen Bürgerkrieg. Während des Zweiten Weltkrieges enthielt Mocca zwar vereinzelt Fotografien aus dem Soldatenleben mit kurzem Kommentar, verzichtete allerdings auf Berichterstattungen von der Front und hielt sich bei den politischen Kommentaren eher zurück. Eine der wenigen Ausnahmen betraf etwa die “Heimkehr” Danzigs ins Deutsche Reich (12/1939).

Bis zur Arisierung im Juli 1938 erschien Mocca im Rob-Verlag, danach bis zur Einstellung des Blattes (die letzte Ausgabe erschien im August 1941) im Südostdeutschen Verlag mit dem Titelzusatz ‘aus Wien’.


Literatur

Anton Holzer, Rasende Reporter. Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus. Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945, Darmstadt: Primus, 2014, S. 476; Karl Robitsek. In: Handbuch österreichischer Autorinnen und Autoren jüdischer Herkunft. 18.-20. Jahrhundert, Bd. 2, hg. v. Österreichische Nationalbibliothek, München 2002, S. 1128; 

Quellen und Dokumente

1. Ausgabe von MoccaJuli 1928; Typisches Aktfoto aus dem Ateliér Manassé. In: Mocca, September 1928, S. 18; Eröffnung der Glocknerstraße. In: Mocca, November 1934, S. 11; Barcelona im Blutrausch des Bürgerkriegs. In: Mocca, Oktober 1936, S. 8; Modenbeilage. In: Mocca, März 1938, S. 32-35; Greta Garbo. In: Mocca, August 1930, S. 2; Marlene Dietrich. In: Mocca, Mai 1935, S. 37; Joan Crawford. In:Mocca, Juli 1937, S. 34; Katherine Hepburn. In: Mocca, Oktober 1939, S. 50; Weibliche Polizistinnen. In: Mocca, September 1936, S. 17; Reisebericht Japan. In: Mocca, September 1937, S. 10.

(MK)

Eine illustrierte Revue (ab 1926 Untertitel: Das Blatt der eleganten Dame, ab 1931 Almanach der Dame)

Redakteur: Ludwig Hirschfeld (bis 1926), Erscheinungsweise: monatlich, H. 1-2: Okt.-Nov. 1918; ab Juni 1923 halbmonatlich; Umfang: 64 bzw. 56 Seiten (1918) ab 1923 36-48 Seiten; ab 1931 wieder monatlich. Druck: Friedrich Jasper; Preis 6 Kronen/Ausgabe, ab 1925 2,50 Schilling, ab 1930 dann 1,80.- bis 1932.

Letzte Ausgabe: H. 2-3; Nov.-Dez. 1939.

Auflagenhöhe: nicht bekannt


Diese Zeitschrift verstand sich als illustrierte Revue für nahezu alle kulturellen Sparten sowie Alltagsbereiche; als eigene Rubriken wurden die Felder Kunst, Theater, Mode, gesellschaftliches Leben, wissenschaftliche und technische Leistungen regelmäßig (aber nicht durchgängig) geführt. Vom ersten Heft an kennzeichnete auch ein Porträt-Foto-Teil die Zeitschrift (meist auf Frauen/Künstlerinnen fokussiert) sowie ein farblicher Mode-Teil, für den Arnold Bachwitz verantwortlich zeichnete, der 1926 auch ein Jahr lang. Für den Bereich der Kunstkritik war Adalbert F. Seligmann zuständig.

Die Zs. verschrieb sich „keine[r] Tendenz außer jener, „Gutes und Gediegenes zu bringen“.

Von Beginn an verstand sich die Zs. auch als Sprachrohr der zeitgenössischen Literatur und druckte sowohl Primärtexte (v.a. Erzählungen, Gedichte) als auch Theaterkritiken und Buchbesprechungen ab. Folgendes Autorenspektrum wurde den LeserInnen schon in H.1 (1918) in Aussicht gestellt: R. Auernheimer, H. Bahr, P. Busson, A. Grünewald, N. Jacques, H. u. Th. Mann, R. Michel, H. Müller, A. Petzold, Th. Rittner, Roda-Roda, H. Salus, R. Schaukal, A. Schnitzler, M. Stona, K.H Strobl, A. Wildgans.

Für den kulturkritisch-essayistischen Teil waren u.a. Julius Bittner, Sigmund Freud, Karl Glossy und Felix Weingartner vorgesehen. Zwischen 1920 und 1926 erschienen ferner Sonderhefte, die einzelnen Künstlern oder Kunstrichtungen gewidmet waren wie z.B. dem Maler Jehudo Epstein, Arthur Schnitzler oder dem Österreichischen Kunstgewerbe.

Ab 1920 erweiterte sich das MitarbeiterInnen bzw. BeiträgerInnen-Spektrum von Jahr zu Jahr; 1920 stießen z.B. hinzu: Ea v. Allesch (Mode), Bruno Frank, Egon Friedell, Georg Fröschel, Hans Liebstoeckl (Theaterkritik), Theodor Lessing (Kulturkritik), Ernst Lothar und Oskar Strnad (Architketur, Bühnenbild), 1921: Grete Bodenwieser (Tanz), Max Essenther, Franz K. Ginzkey, Felix A. Harta (Kunst), Helene Scheu-Riesz, Moritz Scheyer und Elsa Tauber (Alltagskultur), 1922 L. Andro/Therese Rie, Walter Angel, Bela Balázs, Alexander Engel, Gisela Berger, Hanns Saßmann  und Kurt Sonnenfeld, Julian Sternberg, der in der Folge die Rubrik ›Bücher, von denen man spricht‹ betreute oder 1923 Elsa Bienenfeld, Josef F. Perkonig, Maria Peteani, Max Pollak, Alice Schalek und Erwin Weill. Ab dem Juniheft 1923 erschienen in der MW auch mehrere Folgen des Romans Das entschwundene Ich von L. Andro. 1924 stießen als BeiträgerInnen schließlich noch Paul Elbogen, Friedrich (Ferenc) Karinthy, Max Mell, Thekla Merwin, Robert Neumann, Arthur Schnitzler, Richard Specht und Grete Urbanitzky hinzu sowie aus dem Kunstbereich Oskar Kokoschka und die Fotografin Trude Fleischmann. Somit deckte die Zs. nach wenigen Jahren fast den gesamten zeitgenössischen Kunst-, Kultur- und Literaturbereich ab, insbesondere des bürgerlichen Spektrums. 1925 bereicherten auch ein Ged. von Klara Blum (H.19/1925,14) sowie die in zwei Teilen veröffentl. Erz. Der Mond lacht von Leo Perutz das Text- und Beiträgerfeld; 1926 Robert Neumann, von dem 1927 erstmals Parodien im Vorabdruck erschienen, und Ann T. Leitich.

Ab H. 19/1926 übernahm Bachwitz die Redaktion, doch schon 1927 kam es zu einem neuerlichen Wechsel; ab Okt. 1927 (H.9) führte die Zs. den Untertitel ›Kultur und Gesellschaft‹ (bis H.24/1928) und wurde von Josef Eberhart als ‚Schriftleiter‘ (!) geführt. Ab H. 8/1929 wurde im Impressum der Eigentümer, der A. Luser-Verlag, als in Berlin ansässig (mit Niederlassung in Wien) geführt, auch ein für den deutschen Markt zuständiger Schriftleiter in Gestalt von Ferdinand Risch kam hinzu, der 1930 durch Alexander Schilling-Schletter ausgewechselt wurde. Ab Jänner 1931 lautete der Untertitel Almanach der Dame; ab März 1932 zeichnete der Wiener Verleger Wolfgang Foges als Schriftleiter verantwortlich. Ihm wurde ab Mai 1934 Guido Zernatto als Redakteur zur Seite gestellt.

1927 erweiterte sich das internationale Betragsspektrum um den Text Hysterie von Katherine Mansfield sowie um Beiträge des französ. Schriftstellers Maurice Dekobra, die vorwiegend im Umfeld von Neue Frau-Tätigkeiten (Stenotypistinnen-Erzählungen z.B.) angesiedelt waren. Trotz mancher interess. Zugänge bis 1930 wie z.B.  Franz Nabl, Grete v. Urbanitzky, Emil Szittya, Paul Frischauer, gelegentlichen Beiträgen von Gina Kaus sowie von Else Hofmann für die moderne Malerei dünnte sich aber das literarische BeiträgerInnen-Spektrum deutlich aus; an Stelle von L. Hirschfeld widmete sich ab 1928 Emmy Stricker dem Theaterbereich; ferner ist noch der Sportroman Turbo Heysing von Theodor H. Mayer zu erwähnen, der 1928 in 21 Fortsetzungen zum Abdruck kam. 1931 trugen wiederum vermehrt internat. Autoren zum Zs.-Profil bei wie z.B. John Galsworthy, František Langer oder Luigi Pirandello. Auch Paul Hatvani, Maria Lazar und Friedrich Torberg verstärkten 1931 das Spektrum, zu dem 1932 Theodor Kramer, Maria Lazar, Alfred Polgar und Emil Lucka, 1933-34 sowohl Anna Gmeyner mit dem Fortsetzungsroman Mary Ann wartet… (ab H.9/1933), Hans Fallada, Irmgard Keun als auch die nationalen Autoren Robert Hohlbaum und Karl Springenschmid hinzustießen. Ab Mitte 1935 schrumpfte der literarische Teil nur mehr auf zwei-drei Beiträge weitgehend kaum bekannter Autoren. Zu den meist abgedruckten Autoren zählten z.B. 1936-37 Peter Fabrizius und Rosa Schafer. Das erste Heft nach dem Anschluss, das Aprilheft 1938, spiegelte umgehend die neuen Machtverhältnisse, indem eine vierseitige Beilage dem Auftreten Hitlers in Wien gewidmet war.


Quellen und Dokumente

Digitalisate online abrufbar: Projekt ANNO der ONB.

Leo Perutz: Der Mond lacht. In: Moderne Welt 7 (1925), H. 1, S. 8f., Else Hofmann: An südlichen Gestaden. Zu Bildern von Josef Floch. In: Moderne Welt 11 (1930), H. 8, S. 2f., Anna Gmeyner: Mary-Ann wartet. In: Moderne Welt 14 (1933), H. 9, S. 53f.

(PHK)

Als Vorspann zu dieser 1925 v. St. Zweig im Neue Freie Presse-Feuilleton entfachten, dem Amerika(nismus)-Diskurs der Zwischenkriegszeit zuzuschlagenden Diskussion zu nennen sind u.a. F. Saltens Radio-enthusiastischer Neujahrsbeitrag Moderne Wunder (NFP 1.1.1925) bzw. die Rez. zu Alice Salomons Reisebericht Kultur im Werden von H. Scheu-Riesz, der zufolge mit der Zäsur Erster Weltkrieg der (Aber-)Glaube, „daß die Europäer […] eine höhere Kultur besitzen als die Amerikaner“, obsolet geworden ist: Angesichts der nur mehr von „kulturellen Leistungen der Vergangenheit“ zehrenden u. sich in Nationalismen („Atomnationen“) aufreibenden europ. „Kultur im Vergehen“ fordert Sch.-R. provokant die „Einwanderung von Pilgervätern an die verwilderten Gestade von Europa“, um „hier die Urwälder des Aberglaubens, der Vorurteile, des unfruchtbaren Hasses und der hartnäckigen Feigheit [zu] lichten“ u. die „Gemeinschaftsideale der Treue, des Dienstes und der Wahrheit auf[zu]richten“ (NFP 24.1.1925). Eine Woche später äußert sich Zweig skeptisch zur von den USA überschwappenden „Welle der Einförmigkeit“, der er den v. Russland herdrängenden „Wille[n] zur Monotonie“ als Pendant an die Seite stellt. Die Monotonisierung der Welt als das „entscheidendste Phänomen unserer Zeit“ wird mit Hinweis auf v.a. den „herdenhafte[n] Geschmack“ in Sachen Tanz, Mode und Kino veranschaulicht. Z.s Ausführungen zeugen von Wehmut über den Untergang der ‚Welt von gestern‘, lassen sich aber nicht mit platt-reaktionärem Kulturkonservativismus identifizieren: Die geistigen Eliten werden angehalten, „sich nicht [zu] vergeuden in prahlerische Distanzierungen“, sondern ‚äußerlich‘ teilzuhaben an der neuen (technisierten) Welt, die begrüßenswerte „Bequemlichkeiten“ bietet (s. Verkehrswesen). Besorgt zeigt sich Z. aber über ‚innerliche‘ Umstellungen, d.h. über die sukzessive Installierung einer „Massenseele“, die anfällig für polit. Manipulation sei: Der Weltkrieg und die Amerikanisierung sind demnach Phasen der „Selbstaufgabe“ des kritischen Individuums (NFP 31.1.1925). Die gegen „Trauerreden, wie die von Stefan Zweig“ zielende Replik F. Saltens begrüßt „eine Nivellierung […] nach oben“, indem S. bs. das Kunst-demokratisierende Potenzial v. Kino u. Radio u. deren ‚aufklärerische‘, ‚völkerverbindende‘ Wirkung („der Banause in Wien oder Berlin hat niemals vorher einen so deutlichen Begriff von Amerika gehabt wie heute“), unterstützt v. verkehrstechnischen Neuerungen (Luftfahrt), hervorkehrt (NFP 8.2.1925). A.T. Leitich bricht in ihrer Stellungnahme eine dezidiert(er) philo-amerikanistische Lanze für Amerika (vgl. NFP 25.3.1925), obgleich L. z.B. im Roman Ursula entdeckt Amerika (1928) bei der für amerikakritische Reden typ. Dichotomie amerik. Zivilisation (Vermassung) vs. europ. Kultur (Individualismus) letztere tendenziell favorisiert.

An Zweigs Essay knüpft 1928 auch E. Lothar in der Kulturbund-Rede Boykott des Gefühls an, der ‚Monotonisierung‘ als Kennwort für die Zwischenkriegszeit diskutiert (vgl. Unterberger: Auftakt).


Quellen und Dokumente

Helene Scheu-Riesz: Kultur im Werden. In: Neue Freie Presse (24.1.1925), S. 11.

Felix Salten: Moderne Wunder. In: Neue Freie Presse (1.1.1925), S. 1-3.

Stefan Zweig: Die Monotonisierung der Welt. In: Neue Freie Presse (31.1.1925), S. 1-4.

Felix Salten: Monotonisierung der Welt? In: Neue Freie Presse (8.2.1925), S. 1-3.

Ann Tizia Leitich: Ein Wort für Amerika. Noch einmal „Monotonisierung der Welt“. In: Neue Freie Presse (25.3.1925), S. 1-4.

Literatur

Robert B. MacFarland: Amerika in Wien, Wien in Amerika. Felix Saltens Antwort auf Stefan Zweigs „Monotonisierung der Welt“. In: Siegfried Mattl/Werner Michael Schwarz (Hgg.): Felix Salten. Schriftsteller – Journalist – Exilant. Wien: Holzhausen 2006 (= Wiener Persönlichkeiten; Bd. 5), S. 154-161, ders.: Migration as Mediation. Neue Freie Presse American Correspondent Ann Tizia Leitich and Stefan Zweig’s „Die Monotonisierung der Welt“. In: Seminar: A Journal of Germanic Studies 42 (2006), Nr. 3, S. 242-260, Rebecca Unterberger: „Amerika, du hast es besser“? ‚Reisebeschreibung‘ aus der Neuen Welt. In: Primus-Heinz Kucher/Julia Bertschik (Hgg.): „baustelle kultur“. Diskurslagen in der österreichischen Literatur 1918–1933/38. Bielefeld: Aisthesis 2011, S. 125-158, dies.: Auftakt: Ein janusköpfiges Jahr. In: Julia Bertschik u.a.: 1928 – Ein Jahr wird besichtigt. Wien: Sonderzahl 2014; P.H. Kucher über Arthur Rundt. In: Literatur und Kritik, H.513/14, Mai 2017, S.99-109.

(RU)

Wien, 14. September bis 10. Oktober 1924

Dieses groß angelegte Musik- und Theaterfest wurde nach einem ersten Versuch im Jahr 1920, der nur mäßige Resonanz nach sich gezogen hatte, unter der Gesamtkoordination von David J. Bach, dem Leiter der Sozialdemokratischen Kunststelle u. Redakteur der AZ, 1924 zu einer großen Leistungsschau des künstlerisch-kulturellen Lebens Wiens organisiert. Dies gelang trotz schwieriger finanzieller Verhältnisse – die NFP berichtet von einem kreditierten Gesamtkostenrahmen von 1,5 Milliarden Kronen (!) – u. kaum erst überwundenem Höhepunkt der seit 1922 anhaltenden Inflationsperiode. Alle wichtigen Kunstsparten und Institutionen waren eingebunden, die renommierten wie die kleineren Bühnen, die Konzerthäuser wie die Secession, das Künstlerhaus, die Galerie im Schloss Belvedere oder das Museum für Kunst und Industrie.

Im Bereich der Musik spannte sich der Bogen von der tonalen Moderne und Komponisten wie Hugo Kauder, Carl Lafitte und Anna Mahler bis hin zur Zweiten Wiener Schule der Zwölftonmusik und des Kreises rund um Arnold Schönberg, Anton Webern und Josef Mathias Hauer. Begleitet war das Aufführungsprogramm von Kongressen u. Ausstellungen wie z.B. über Ernste Musik in Wien von Bruckner bis in die jüngste Gegenwart (im Rathaus). In Rahmen des Festes kamen neben einem Mozart-Zyklus und Strauß-Kompositionen u.a. G. Mahlers nachgelassene Fragmente der 10.Symphonie zur Aufführung.

Das Theaterprogramm vereinte klass. Wiener Autoren von Grillparzer, Nestroy über Anzengruber bis Hofmannsthal u. Schnitzler; es gab aber auch zahlr. jungen Dramatikern die Möglichkeit, sich gut zu präsentieren, z.B. Walter Eidlitz mit seinem Märchendrama Der Kaiser im Walde (27.9.), Ernst Fischer, dessen Das Schwert des Attila im Burgth. seine UA am 30.9. erlebte, Richard Billinger mit Der Knecht (2.10.), Hedwig Rossi mit Sieben Jahre und ein Tag (25.9.). K. Kraus zeichnete dabei für die Inszen. von Nestroys Posse Eine Wohnung zu vermieten, verantwortlich. Wie breit es angelegt war, unterstreichen auch die Auff. von Jaakobs Traum von Richard Beer-Hofmann (2.10.), die Inszenierung des Apostelspiels von Max Mell (4.10.), des rundum erneuerten Volksstück vom Doktor Faust durch Richard v. Kralik oder die UA von Molières Der Bürger als Edelmann in der Bearb. von H. v. Hofmannsthal u. der Vertonung durch R. Strauß sowie der UA von Beethovens Die Ruinen von Athen, versehen mit Texten von Hofmannsthal. An auswärtigen Produktionen kam Ernst Barlachs Der tote Tag am 24.9.  zur Aufführung.

Sondernummer der Zeitschrift MA

Ein besonderer Schwerpunkt, zugleich jener von größter internat. Beteiligung, galt der zeitaktuellen Theatertechnik in Gestalt der von Friedrich Kiesler kuratierten Internationalen Ausstellung neuer Theatertechnik im Konzerthaus, gerahmt von einer von Joseph Gregor zusammengestellten theatergeschichtl. Ausstellung in der Albertina. Mittelpunkt der Kieslerschen Ausstellung war seine sog. u. zugleich vieldiskutierte Raumbühne, an der Vorträge, z.B. von Bela Balázs, Tanzvorführungen, u.a. von Grete Bodenwieser u. Gisa Geert stattfanden, u. sog. reflektorische Lichtspiele von Hirschfeld-Mach, und die am 2.10.1924 mit Im Dunkel, einem Kammerspiel von Paul Frischauer, ihre Bewährungsprobe lieferte. Angekündigt war auch eine Auff. von Iwan Golls Methusalem für den 10.10. 1924, die jedoch aufgr. strittiger Vereinbarungen nicht zustande kommen konnte. Die bedeutendste Gruppe der internat. Avantgarde, die in Wien rund 200 Werke, darunter etwa 60 Bühnenbilder, ausstellte, war jene der ital. Futuristen, angeführt von Enrico Prampolini, über die auch die Zs. Der Sturm berichtete. Weiters stellte El Lissitzky aus, von Férnand Leger wurde der kubistische Kurzfilm Ballet Mécanique vorgeführt und eine Reihe weiterer Künstler der internat. Avantgarde waren anwesend oder trugen vor: Theo van Doesburg, George Grosz, Tommaso Marinetti, Vsevolod Meyerhold, László Moholy-Nagy, Oskar Schlemmer, Lothar Schreyer u.a. Die Avantgarde-Zs. MA widmete dem Musik- u. Theaterfest eine mehrsprachige Sondernummer, in der u.a. auch programmat. Texte zum Abdruck kamen.


Quellen und Dokumente

Das Programm des Musik- und Theaterfestes der Stadt Wien 1924. In: Neue Freie Presse, 12.4.1924, S. 11, Moderne Theaterkunst. Eröffung der Ausstellung in der “Albertina”. In: Neues Wiener Abendblatt, 13.9.1924, S. 4, Das Musik- und Theaterfest der Stadt Wien 1924. In: Arbeiter-Zeitung, 15.9.1924, S. 3, Sondernummer der Zs. MA 9 (1924), H. 8, Karikaturen zum Musik- und Theaterfest. In: Illustrierte Kronenzeitung, 25.9.1924, S. 1, Heinrich Kralik: “Die Ruinen von Athen.” Ein Festspiel mit Tänzen und Chören. In: Neues Wiener Tagblatt, 21.9.1924, S. 10, Julius Korngold: Das Musik- und Theaterfest. Konzerte. In: Neue Freie Presse, 21.10.1924, S. 1-3, Edwin Rollett: Premiere auf der Raumbühne. In: Wiener Zeitung, 4.10.1924, S. 5, Otto Koenig: Das Apostelspiel. (Zur Erstaufführung im Theater in der Josefstadt) In: Arbeiter-Zeitung, 5.10.1924, S. 10, Renato Mordo: Kieslers Raumbühne in praktischer Anwendung. In: Neues Wiener Journal, 12.10.1924, S. 15f.

Literatur

B. F. Dolbin: Die internationale Ausstellung neuer Theatertechnik in Wien. In: Der Sturm 1925, 97-100; D. Bogner: Wien 1920-1930. »Es war als würde Utopia Realität werden«. In: Österreichisches Museum für angewandte Kunst/G. Egger, H. Fux, W. Mrazek, K. Rossacher (Hg.): Alte und Moderne Kunst Nr. 190/91 (1983), 35-48, wiederabgedruckt in: D. Bogner, G. Bogner, A. Hubin, M.Milleutz (Hgg.): Perspektiven in Bewegung. Wien 2017, 325-352 (Online verfügbar), B. Lesák: Eine neue Stadtkultur. Das Musik- und Theaterfest der Stadt Wien 1924. In: Österr. Friedrich und Lilian Kiesler-Privatstiftung (Hg.): Wien 1924. Station der Avantgarde (2018), 8-14 (with an english version available); A. Larcati: Zur Rezeption des italienischen Futurismus in Wien während der 1920er und 1930er Jahre. In: P.- H. Kucher (Hg.): Verdrängte Moderne – vergessene Avantgarde. Göttingen 2016, 95-115.

(PHK)

1919-1937, Wien; ab 1929 Titeländerung zu Anbruch. Untertitel: Halbmonatsschrift für moderne Musik (bis 1923), Monatsschrift für moderne Musik (bis 1934), Österreichische Zeitschrift für Musik (ab 1934).

Die Zeitschrift, eine der bedeutendsten im gesamtdeutschsprachigen Raum, erschien im Verlag der ›Universal Edition‹ (UE) in Wien seit November 1919. Die UE war einer der wichtigsten europäischen Musikverlage, der den Großteil der klassischen wie zeitgenössischen Moderne vertrieb bzw. unter Vertrag hatte, Bis 1922 wurden 20 Nummern/Jahrgang, oft in Doppelheft-Ausgaben, ab 1923 zehn in 6-8 Heften herausgegeben. Der Umfang schwankte zwischen 165 Seiten im Jahr 1933 und 664 Seiten im Jahre 1920. Die Auflagenhöhe ist nicht mehr bekannt, dürfte aber Mitte der 1920er Jahre zwischen 5.000 und 10.000 Ex. gelegen haben.

Erster „Schriftleiter“ war Otto Schneider, der in Berlin ›Neue Musik-Aufführungen‹ verantwortete, ab H.3/1919 firmierte im Impressum jedoch Alfred Kalmus (1889-1972). Im Oktober 1920 übernahm Paul A. Pisk diese Funktion, die er im Jänner 1922 an Paul Stefan abgab (offiziell ab April 1922), der diese bis zur Einstellung der Zs. innehatte; es waren dies durchwegs Schüler des Wiener Musikwissenschaftlers Guido Adler bzw. von  Arnold Schönberg und Franz Schreker. Die Zs. positionierte sich folglich von Beginn an als Sprachrohr einer neuen Generation von Komponisten und Musikwissenschaftlern, die einerseits das Bekenntnis zum Neuen vereinte, aber andererseits auch unterschiedliche Positionen zu Aspekten der Form und Tonalität sowie zu Beziehungen zwischen der Musik und anderen Künsten einnahmen. Zentrale Referenzen waren in den ersten Jahren Gustav Mahler, Franz Schreker und Arnold Schönberg, flankiert von einer 1920-21 einsetzenden Auseinandersetzung mit der internationalen, insbesondere der russisch-sowjetischen sowie der französischen Moderne/Avantgarde, aber auch mit Aufmerksamkeit auf die umliegenden Entwicklungen wie z.B. in der tschechischen oder italienischen Musik. Die anfänglichen Spartentitel Allgemeiner, Besonderer und Glossen-Teil wurde 1922 aufgegeben und in der Folge den jeweiligen Schwerpunkten angepasst. Diese Hefte, Komponisten oder neuen zeitgenössischen Tendenzen gewidmet, erschienen bereits ab Jänner bzw. April 1920 (zu F. Schreker bzw. G. Mahler) u. umfassten ein weites Spektrum, das von Fragen der Opernentwicklung, über den Jazz (April 1925) und Tanz (März 1926) bis hin zu einem Heft zu Musik und Maschine (Okt.-Nov. 1926) oder zur französischen Moderne  u. Avantgarde (Honegger, Milhaud, Satie, April-Mai 1930) reichte. Einen bedeutenden Teil der Hefte nahmen (v.a. verlagseigene) Ankündigungen über neue verfügbare Werke resp. Noten ein, ferner Konzertanzeigen, Aufführungsbesprechungen, aber auch Forschungsberichte. Das Mitarbeiterspektrum war beeindruckend u. den Hg. gelang es immer wieder, zu den Themenheften die Experten schlechthin, d.h. in gesamteuropäischer u. transatlantischer Perspektive, zu versammeln. In der Disk. über Strawinsky anlässl. der Londoner u. Pariser Aufführungen von Le sacre du printemps (1921-22) ergriff z.B. der einflussreiche New Yorker Musikkritiker Paul Rosenfeld leidenschaftl. für Strawinsky Partei, weil mit ihm „die Rhythmen der Maschine in die Kunst der Musik ihren Einzug [halten]“ (MdA, 11-1921, 191), skeptisch über ihn urteilte dagegen Th. W. Adorno anlässl. des Frankfurter Strawinsky-Festes 1925; zum Jazzheft trugen z.B. neben A. Jemnitz der fanzös. Komponist Darius Milhaud, die Kritiker Percy A. Grainiger, César Searchinger und v.a. Louis Gruenberg, Schönberg-Schüler, der die erste Aufführung von dessen Pierrot lunaire in New York verantwortete u. selbst auch Komponist war, bei. Im Tanz-Heft war u.a. auch B. Balázs, H. v. Hofmannsthal, Rudolf Laban oder Oskar Schlemmer vertreten, in jenem über Musik und Maschine Max Brandt u. Lazlo Moholy-Nagy. Unter den renommierten deutschen Kritikern waren Paul Bekker, Hans Heinsheimer, H.H. Stuckenschmidt u. Adolf Weismann, von den österreichischen neben P. Stefan R. S. Hoffmann, Paul A. Pisk, Erwin Stein Egon Wellesz, aber auch Ernst Krenek regelmäßig mit Beitr. vertreten. Die Zs. war auch Plattform für mehrere Kontroversen, etwa in H. 6/1930 zwischen Adorno und Krenek über die Gewichtung der Begriffe ›Fortschritt‹ und ›Reaktion‹ sowie für grundsätzliche, über die Musik hinausreichende Problemstellungen. So thematisiert z.B. das von A. Lunartscharsky eingeleitete Sowjetrußland-Heft (8/10/1931) den veränderten Stellenwert der Musik in der UdSSR, d.h. ihre ausdrückliche Anbindung an „die Politik der Kommunistischen Partei der Sowjetunion“ (ebd.,178) oder in H. 2/3/1932 unter dem Titel Kasse und Kunst P. Bekker die finanziell prekäre Lage der Theater- und Opernhäuser vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise. Kritisch positioniert sich die Zs. in H. 8/1933 zur Umgestaltung des Operntheaters in Deutschland durch H. Heinsheimer, der eine eklatante Reduktion der Präsenz moderner Musik-Kompositionen zugunsten klassischer und deutscher sowie eine Ausweitung des Operettenangebots beklagt. In H. 6/1934 wiederum erläutert Krenek (systemkonform) den Stellenwert der Musik in der berufsständischen Ordnung und bezieht sich darauf auf die Schrift von H. Schmitz, Die berufsständische Ordnung nach der ›Quadragesimo anno‹“ und verknüpfte diese mit seinen eigenen Überlegungen zu einer Reformulierung der Beziehungen zwischen Künstlern/Autoren und den Institutionen der Öffentlichkeit. Mit Jänner 1935 wird das Verhältnis zur UE einvernehmlich gelöst und die Zs. im Untertitel in Österreichische Zeitschrift für Musik umbenannt, womit die bisherige Ausrichtung auf die spezif. ‚moderne‘ Musik auch programmat. wegfiel, was sich in der Beitragsstruktur der letzten beiden Jahrgänge auch entsprechend niederschlug.


Literatur

I.Bürgers: „Das Modell einer Musikzeitschrift. Vor fünfzig Jahren erlosch der ‚Anbruch‘“. In: Neue Zeitschrift für Musik N.7/8(1988), 74-75;  O. Hass: Ole Hass: Musikblätter des Anbruch 1919-1937, Einleitung, Chronologischer Kalender und Index zur Zeitschrift. Veröffentlichung des Répertoire Internationale de la Presse Musicale (RIPM). Baltimore 2004; Einleitung online verfügbar; P-H. Kucher: Modernismus-AvantgardeIsmus am Beispiel der Debatten in den Musikblättern des Anbruch (1919-1930). In: Ders. (Hg.): Verdrängte Moderne – vergessene Avantgarde. Diskurskonstellationen zwischen Literatur, Theater, Kunst und Musik in Österreich 1918-1938. Göttingen 2016, 187-215.

Eintrag bei musiklexikon.at, Eintrag zu A. Kalmus bei lexm.uni-hamburg.de.

(PHK)

Untertitel: Wochenschrift für kulturellen Sozialismus

Zeitschrift des aktivistisch-linken Flügels innerhalb der Wiener Sozialdemokratie, hg. von M. Ermers, ab März 1919 – August 1920.

Cover der Zs. Neue Erde, 1919

Die Zeitschrift, zu der in den 36 Heften des Jg. 1919 neben Ermers selbst v.a. Gertrud Mira (Kunst und Gesellschaft), Ludwig Neumann (Rätesystem, Sozialisierung), Otto Neurath (Sozialisierung, Rätewesen), Franz Oppenheimer (Siedlungsbewegung), Käthe Pick, Josef Popper-Lynkeus, Ernst Wagner (Kunsterziehung, Besprechungen), Julius Wilhelm (Stadt-Land-Differenzen), Fritz Wittels (Nährpflicht), gelegentlich auch Siegfried Bernfeld (Schule, Judentum), Georg Kulka (Literatur) und Heinrich Margulies (Jüd. Sozialismus), Adele Jellinek (Bolschewismus, neuer Mensch), Sigmund Kaff (Demokratie, Parlamentarismus) Karl Polány (Marxismus, Kapitalismus), Heinrich Steinitz (Staat, Ökonomie) u.a. beitrugen, allerdings viele Beträge auch anonym blieben, verstand sich als breites und international ausgerichtetes Diskussionsorgan, das oft in Konflikt mit der Parteilinie geriet. Sie wurde aber auch von der KPÖ als zu pluralistisch entschieden abgelehnt.

Zur internationalen Ausrichtung trugen Beiträge von Henri Barbusse und Romain Rolland bei, Gastkommentare von F.W. Foerster, T.G. Masaryk oder Otto Rühle sowie der Abdruck von Texten von Maxim Gorki, Kazuko Okakura oder Walt Whitman.

1920 erschienen nur mehr 11 Hefte; das Spektrum der Beiträger ging deutlich zurück und verlagerte sich zunehmend auf Fragen veränderten Perspektiven der Sozialisierung nach dem Ende der Räterepubliken und der sich stabilisierenden Machtverhältnisse in Österreich, welche neue Einschätzungen der Optionen und Beziehungen zwischen Arbeiterbewegung und Sozialismus-Konzepten erforderten.

Die Zeitschrift veröffentlichte auch zahlreiche programmat. Manifeste (der Clarté-Bewegung, Young Democracy-Programm, Schulrepublik Jasnaja Poljana, Syndikalismus, Protest-Manifeste betr. Räte-Bewegungen etc.) und versah diese z.T. mit redaktionellen Kommentaren. In H. 5/6/1920 erschien auch der Programmessay Gemeinschaftstheater von Ernst Diebold.


Quellen und Dokumente

Wir erleben Wunder! In: Die soziale Revolution, 1.2.1919, S. 4.

Literatur

Armin A. Wallas: Zeitschriften und Anthologien des Expressionismus in Österreich. Analytische Bibliographie und Register. Bd. 1 (1995), 344-361; Ders.: Österreichische Literatur-, Kultur- und Theaterzeitschriften im Umfeld von Expressionismus, Aktivismus und Zionismus. Hg. von A. M. Lauritsch. Wuppertal 2008, 92-93.

(PHK)

Die Diskussion über Aspekte von (neuer) Sachlichkeit (n.S.) als kultureller und künstlerischer Habitus bzw. ästhetischer Verfahrensweise setzte in Österreich auf verschiedenen Ebenen bereits lange vor der Ausstellung Neue Sachlichkeit.Deutsche Malerei seit dem Expressionismus in der Kunsthalle Mannheim (Juni-Sept. 1925) ein. Bereits 1908 hatte Adolf Loos seinen – auch für die n. S. – wegweisenden Essay Ornament ist Verbrechen geschrieben, in den Folgejahren mehrmals als Vortrag gehalten, wenngleich erst 1929 erstmals publiziert. Als früher programmat. Beitrag, der zumindest in der Architektur, im Technik-Diskurs und in der bildenden Kunst Resonanz hatte, wurde er zwar verhalten rezipiert, z.B. 1927 in einem Beitrag von M. Ermers in der Ztg. Der Tag. In der zeitgenöss. Literatur- u. Kulturkritik haben ihn immerhin Döblin und später auch W. Benjamin recht geschätzt, so W. Delabar anlässl. der Neuaufl. der essayist. Schriften von Loos. Döblin, dessen sog. ›Berliner Programm‹ (1913) als frühes, auf den (Neu)Sachlichkeits-Diskurs vorausweisendes Manifest gilt, hat bereits im Nov. 1909 in einem Brief an H. Walden den von Loos geprägten Begriff der ›essentiellen Sachlichkeit‹ aufgegriffen und 1911 in einer Besprechung, diesmal mit Bezug auf E. Mach, als grundlegendes Wollen der Kunst „die Reduktion auf die sachlichste Formel“ bzw. als Baustein einer Ästhetik der Sachlichkeit formuliert (Kiesel, 2004, 305f.). Die expressionistische Bewegung und der Weltkrieg haben diese frühen Diskussionsansätze allerdings nachhaltig überschattet.

Der Terminus ›Sachlichkeit‹, der ab 1919-20 in verschiedensten Kontexten, v.a. in der Kunst- und Literaturkritik, wieder Verwendung findet, war nicht nur ein dominantes ästhetisch-habituelles „Phänomen der Weimarer Republik“ (Becker, 2000,I,6), sondern auch ein Schlüsselbegriff der österr. Zwischenkriegszeit. Er wurde allerdings, was in der Folge zu Unschärfen u. Missverständnissen führte, zunächst auf höchst unterschiedl. Werke projiziert wie z.B., um nur zwei Fälle zu nennen, auf den histor. Roman Der Roßtäuscher von Emil Scholl durch St. Zweig (NFP, 6.8.1920, 8) oder auf eine Werkausstellung des Malers Anton Faistauer (in einem Bericht für die AZ) durch O. Stoessl. In seiner Besprechung der Kriegserinnerungen Als Soldat im Prager Corps (1922) von E. E. Kisch hob A. P[olgar] ebenfalls nicht nur die Sachlichkeit dieser Erinnerungen bzw. Tagebuchblätter hervor, sondern präzisierte diese durch Verfahrensweisen, die später zum Grundbestand der neusachlichen Bewegung werden sollten: durch Reporterpflicht: „Er spart mit Schilderungen, gibt Berichte“ (Der Tag, 10.12.1922). Den Terminus ›Sachlichkeit‹ (betreffend Sprachverwendung und eine damit verbundene Entsentimentalisierung) verwenden Polgar, aber auch M. Scheyer, ferner im Hinblick auf die UA von K. Schönherrs Stück Es im Dt. Volkstheater Ende Dez. 1922, wenn es heißt, der Text ziele auf „eine Sachlichkeit, die alles Menschliche erstickt“.

1923-24 verwendete B. Balázs in mehreren Besprechungen von Theateraufführungen und Neuerscheinungen ebenfalls den Terminus ›Sachlichkeit‹ und zwar mit unterschiedlichen semantischen Implikationen. Während er z.B. das „tragische Material“ des von ihm hochgeschätzten Kaltneker-Dramas Das Bergwerk mit „der ernsten Sachlichkeit eines anständigen Reports“ auf die Bühne gebracht sieht, erscheint ihm dieselbe Sachlichkeit in G. Reuters Roman Benedikta als „Standpunkt der Gleichgültigkeit“, wobei er, durchaus ambivalent, die Kältemetapher erstmals ins Spiel bringt: als „eine Kälte der Unbeteiligtheit“ (Der Tag, 23.1.1924, 7). Auch im Zusammenhang mit der Aufführung von Wedekinds Der Kammersänger, der sein Künstlertum bloß als Pflichterfüllung verstehe, als Beruf, der ihm keine Zeit gebe, Mensch zu sein, akzentuiert Balázs das Konzept der Sachlichkeit: „Mit genialer Sachlichkeit wird hier das Problem der Sachlichkeit aufgeworfen, wenn er schreibt…“ (Der Tag, 29. 3. 1924, 7). Auch im Zusammenhang mit der Konstruktivismus-Diskussion in der avantgard. Zs. MA des ungar. Exils in Wien widmet sich Heft 5-6/1923 (das erste deutschsprachige Heft) im Kontext der Architektur-Debatte Aspekten sachlich-funktionalen Bauens, insbes. A. Behne in seinem programmat. Beitrag Architektur. ›Sachlichkeit‹ wird ferner als wichtiges Kriterium eines Zyklus von Kriegszeichnungen von Otto Dix herausgestellt, als wesentlich für deren „Wahrheitsfanatismus“, so in der Publikationsanzeige (Österreich. Buchhändler-Correspondenz, 1924), als qualitativ neue Dimension der Reportagen von E. E. Kisch (durch R. Olden), aber auch im Grundsatzbeitrag Entgötterte Kunst von L. Lania zur zeitgenössischen amerikanischen Literatur (AZ, 20.6. 1924, 7) sowie in seinen aufsehenerregenden Tatsachen- und Reportage-Romanen Gewehre auf Reisen und Die Totengräber Deutschlands (beide 1924). Neben Kisch und Lania war es u.a. Joseph Roth, der das Konzept der ›Tatsachenpoetik‹ durch Texte an den Schnittflächen von Reportage, (Zeit)Bericht u. Entsentimentalisierung nachhaltig und als Aspekt neusachl. Kunst- u. Literaturverständnisses durchsetzte, z.B. durch sein Feuilleton Bekenntnis zum Gleisdreieck in der Frankfurter Zeitung (16. 7. 1924). Der Begriff ›Sachlichkeit‹ besetzte noch vor der Mannheimer Ausstellung zudem eine Reihe von Diskursen quer durch Bereiche der Alltagskultur, des Habitus wie künstlerischer Verfahrensweisen. G. Kaus sprach z.B. im Nov. 1925 in ihrer Besprechung des gleichnamigen Buches von M. Lichnowsky Der Kampf mit dem Fachmann von einem „Bedürfnis nach Sachlichkeit“, als „Ausdruck des Gemeinschaftsgefühls“ (Hofeneder, 462). Hans Margulies stellte in einer Besprechung für den Tag von drei Neuerscheinungen der Reihe ›Außenseiter der Gesellschaft‹ wiederum Kisch mit seinem eher wenig beachteten Buch Der Fall des Generalstabchefs Redl (1925) aufgrund seiner „unsentimentalen[…] Sachlichkeit“ als dem Typus des anglo-amerikanischen Publizisten nahestehenden, d.h. an der Reportage orientierten Schriftsteller-Publizisten heraus (und widmete in derselben Besprechung auch E. Weiß‘ Roman Der Fall Vukobrankovics, 1924) Augenmerk. K. Edschmid kommentierte dagegen 1926 in der NFP in Männertypen der Gegenwart skeptisch die „uniforme Gleichheit“, Ausdruck der zeitgenössischen „ungeheuren Sachlichkeit“, würde sich doch das Individuelle und Heroische dabei nahezu unkenntlich machen. E. Lothar widmete sich 1926 in einem Feuilleton ebenfalls Aspekten der Sach- bzw. der Unsachlichkeit u. lamentierte darin v.a. über den Überhang der Phrase, der Partei, der Rhetorik, des „Hochstaplertums des Geistes“, bei dem das ›Sachliche‹ auf der Strecke bleibe. Im selben Jahr erschien auch ein programmatisch ausgerichteter Beitrag von Heinrich Strobel über „Neue Sachlichkeit“ in der Musik in den Wiener Musikblättern des Anbruch sowie einer über Herbert Plohberger als wichtigsten Repräsentanten der Neuen Sachlichkeit in der Malerei im Anschluss an seine Ausstellung in der Galerie Würthle (Der Tag, 18.12. 1926,6) sowie Amerika ist anders von A. Rundt. Vor allem aber erschien Lanias Grundsatzbeitrag Reportage als soziale Funktion in der Literarischen Welt, der durch mehrere Buchbesprechungen, die (auch) in der AZ erschienen, u.a. über Sinclair Lewis, vorbereitet bzw. begleitet wurde. Mit C. Sternheims Lustspiel Uznach oder die neue Sachlichkeit (1926, Wr. EA Nov. 1927) eroberte dieser Begriff auch die Bühne (in Wien wie in Berlin, in Wien mit Marlene Dietrich besetzt). Neben der zeitgenössischen Wiener (und internat.) Musikmoderne (vgl. Strobel, MdA 1926) wurde er wiederholt auch auf die Jazz-Musik angewendet, z.B. auf die Jazzsymphonien von D. Dauber (Die Bühne H.163). Das NWJ druckte im Febr. 1927 einen Beitrag des (nicht unumstrittenen) Kritikers Moritz Lederer ab, in dem sich dieser mit Blick auf die ökonom. Sachzwänge des Bühnenbetriebs ironisch mit der Figur des neuachl. Autors S. auseinandersetzt und dann festhält: „der heutige Autor steht auf dem Boden der Tatsachen…“ Ebenfalls 1927 hielt A. Loos einen stark besuchten Vortrag über die Geburt der Form, der von E(rmers) im Tag als ein Schlüsseldokument der Sachlichkeits-Diskussion in der Architektur gewürdigt wurde. Das Jahr 1928 bringt eine pointierte Zuspitzung der Debatte: eröffnet durch den Vortrag Boykott des Gefühls von E. Lothar am 17.1. im (Wiener) Kulturbund. Sie richtet sich partiell gegen überzogene Erwartungen und Phraseologie im Umfeld der Amerikanismus-Debatte (NWJ, 18.1.1928,4-5), gegen den Schlagwort- und Kampfcharakter als „Grimasse der Zeit“ (Der Tag, 11.3.1928, 18), gegen die Häufung von Kriminal- und Verbrechensstücken auf deutschen Theatern (NWJ. 3.6.1928,28), setzt (Frei)Körperkultur, Sport, Tanz u. Neue Sachlichkeit in ein „Geschwister“-Verhältnis (NWJ, 15.7.1928, 16), markiert(stereotyp)-ironisch Geschlechterrollen wie z.B. F. Heller im Tag (23.9. 1928) oder R. J. Kreutz in der NFP u.v.a.m. Kurzum, ›Neue Sachlichkeit‹ steigt spätestens 1928 zu einem Referenzbegriff für nahezu alle Bereiche des Lebens u. der Kunst auf, in denen Wandel geortet u. (euphorisch bzw. skeptisch) beobachtet wird. Entsprechend häufiger auch die Anwendung des Begriffs auf literar. Neuerscheinungen oder Inszenierungen auf der Bühne, z.B. über E. Colerus Roman Die neue Rasse, in dem u.a. neusachliche Frauentypen als „das große Fragezeichen dieser Zeit“ thematisiert werden (NWJ, 20.10.1928, 3), V. Baum in der Zs. Uhu an den Novellen B. Franks „die sachliche Gewissenhaftigkeit, die so zeitgemäß ist“ herausstreicht (Uhu, 4/1928, 122) oder eine Lulu-Aufführung in den Münchener Kammerspielen insofern Neue Sachlichkeit zelebriere, als mithilfe von Jazz, Filmbildern u. Lichtsignalen „der Text zum Tönen und Leuchten“ gebracht werde (NWJ, 30.11.1928, 12). Seit 1927 erscheinen bekanntlich vermehrt Romane u.a. Texte, die auch in der Theoriedisk. über den Begriff N.S. u. dessen ästhet. Selbstverständnis eine Rolle spielen: Brods Die Frau, nach der man sich sehnt, Lanias Indeta, die Fabrik der Nachrichten, J. Roths Die Flucht ohne Ende (alle 1927) oder V. Baums Hell in Frauensee u. v.a. stud. Chem: Helene Willfüer, F. Bruckners Schauspiel Krankheit der Jugend, M. Hartwigs Ekstasen oder J. Lederers Das Mädchen George (1928), gefolgt wiederum von V. Baums Bestseller Menschen im Hotel, G. Fröschels Der Richter ohne Gnade, R. Neumanns Sintflut oder J. Roths Der stumme Prophet (alle 1929), die sämtliche auch registriert werden. 1929 ebbt die Debatte vorübergehend ab, inkludiert aber auch kuriose Aspekte, z.B. in einem Beitrag in der Stunde über die „Köpfung“ von Litfaßsäulen oder Erika Manns Manifest Die Bohème ist tot, d.h. Opfer des Sports und der neuen Sachlichkeit (Der Tag, 10.11.1929,21). Im Folgejahr 1930 taucht der Begriff über 200 Mal im publizist.-krit. Diskurs auf; vorwiegend in ironisch-polemischen Kontexten der Abgrenzung, vielfach aber auch im Zusammenhang mit Kunst-, Photographie- und Kunstgewerbe-Ausstellungen. Die prominenteste war wohl die Kunstgewerbe-Ausst. in Stockholm, die, so M. Lazar, in einem Bericht, versch. Aspekte ‚alter‘ und ‚neuer‘ Sachlichkeit präsentierte. (Neue) Sachlichkeit stand auch im Zentrum versch. Vorträge, z.B. durch F. Kainz in seinem Urania-Zyklus im Mai 1930, aber auch, scharf ablehnend, als „entästhetisierte Kunst“ bei R. Cysarz, ebf. in der Urania (NWJ, 16.12.1930,10). Auch der konservative Kulturphilosoph Aurel Wolfram sprach sich vehement gegen diese Richtung in einem Feuilleton in der Wr. Ztg. aus. Gewogener hingegen die Berichterstattung von E. Weill über eine englischsprach. G.B. Shaw-Aufführung in neusachlichem Stil (NWJ,22.3.1930,4-5), über den Erwerb des T. Impekoven-Schwanks Die neue Sachlichkeit für das Neue Wiener Schauspielhaus (ab Okt. 1930) oder die Kurzbesprechung von E. Glaesers Jahrgang 1902 sowie des NovellenBd. Die Liebesehe (Wr. Ztg. 30.1. 1930,6). Vor dem Hintergrund der steigenden Wirtschaftskrise tritt ab 1931 die Attraktivität, auch als habituell-moderner Faktor, der neuen Sachlichkeit weiter in den Hintergrund. Zwar bekennen sich noch W. Hausenstein in einem Rembrandt-Vortrag im Kulturbund (NFP, 21.4.1931,7) sowie Paul Frischauer in einem Radiovortrag (18.9. 1931) zu ihm, letzterer in Verbindung mit einem Appell, Aspekte des Amerikanismus mit Errungenschaften wisss. Fortschritts nutzbringend zu verknüpfen. Dagegen wendete F. Rosenfeld ein, die „neue Sachlichkeit existiert nur in den ästhetischen Abhandlungen der Literaten“ u. kritisiert die Standpunktlosigkeit der Reportage (AZ, 29.7.1931,7), aber auch K. Blum bezeichnete die (Berliner) Sachlichkeit in ihrem Feuilleton Großstadt in der Depression u.a. wie folgt: „Nichts als die äußerlich kalte Form eines innerlich überhitzten Wesens.“ (AZ, 22.11.1931, 17). Obwohl 1932 gewichtige Romane österr. Autoren erschienen, die u.a. auch neusachliche Aspekte aufweisen, H. Brochs Hugeneau oder die Sachlichkeit, R. Neumanns Die Macht und R. Brunngrabers in der Ztg. Der Tag auch als „angewandte Soziologie“ wahrgenommener Karl und das 20.Jahrhundert (zuerst als Fs-Roman in der AZ), überwiegt in der öffentl. Diskussion ein skeptischer, ironisch-verfremdender, aber auch dämonisierender Ton. Als Habitus einer orientierungslosen Generation wird sie in der AZ denunziert, als rhetorische Floskel in verschiedenen Feuilletons im Tag instrumentalisiert, als „nichts anderes als Materialismus“ bzw. „Entseelung“ in der Reichspost (RP, 4.8.1932, 13) verworfen; einzig L. Lania wirft sich in einem Dos Passos-Beitrag, in dem er insbes. den Aspekt der Montage herausarbeitet, für sie in die Bresche (AZ, 13.9.1932, 7). Von einer „Renaissance des Gefühls“ mit impliziter Verabschiedung neusachlicher Haltungen sprach 1933 J. R. Kreutz; sodass diese, zumindest im publizistisch-feuilletonistischen Diskurs zunehmend auf unverfängliche Bereiche wie die Architektur, Photographie oder (meist nur im Sinn von „Anklänge“) die Malerei begrenzt wurde. J. Ilg, Mitarb. der (dt.nationalen) Wiener Allgem. Zeitung, verwendete alsbald, d.h. in einem Beitr. über O. Dix, den Begriff der „sogenannten Neuen Sachlichkeit“ (Der Tag, 18.9.1934,6), womit die Marginalisierung dieses den Modernisierungsanspruch der 1920er Jahre ausdrückenden Konzepts auch die bildende Kunst erreichte, wie dies ein Kommentar zur Kunstausst. 1934 (Der Tag, 7.12.1934,7) deutlich macht. Wohl erinnert 1935 O. M. Fontana in einer Bespr. des Theaterstücks Der Fall Claasen unvoreingenommen an die Neue Sachlichkeit, dann nochmals 1938 anlässl. der Auff. der Komödie Liebesheirat von H. Jaray (Der Tag, 12.1.1938,4), aber er blieb eine der seltenen Stimmen im Chor zunehmender Banalisierung, oberflächlicher Historisierung oder Verdrängung dieser Aufbruchserfahrung der 1920er Jahre.

Literatur:

Helmut Lethen: Verhaltenslehre der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. Frankfurt/M.: 1974; 21994; J. Heizmann: Joseph Roth und die Ästhetik der Neuen Sachlichkeit. Heidelberg 1990; H. Lethen: Der Habitus der Sachlichkeit in der Weimarer Republik. In: B. Weyergraf (Hg.): Literatur der Weimarer Republik 1918-1933. = Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 8, München 1995, 371-445; Sabina Becker: Neue Sachlichkeit. Köln-Weimar: 2000 (bes. Bd. 1: Die Ästhetik der neusachlichen Literatur); Helmuth Kiesel: Geschichte der literarischen Moderne. München 2004; Angela L. Oster: Neu-(k)alte Sachlichkeit. Herkunfts- und Wirkungslosigkeit eines Konzepts. Bespr. zu: M. Baßler, E. vaan der Knaap (Hgg.): Die (k)alte Sachlichkeit. Herkunft und Wirkungen eines Konzepts. Würzburg 2004; online verfügbar unter:  https://www.iaslonline.lmu.de/index.php?vorgang_id=1430; Mathias Uecker: Wirklichkeit und Literatur. Strategien dokumentarischen Schreibens in der Weimarer Republik. Frankfurt/M: 2007; Johannes G. Pankau: Einführung in die Literatur der Neuen Sachlichkeit. Darmstadt 2010; Veronika Hofeneder: „Denn Sachlichkeit ist ein Ausdruck des Gemeinschaftsgefühls, und der taktlose Mensch ist ein kostümierter Egoist.“ Dimensionen der (Neuen) Sachlichkeit bei Gina Kaus. In: P.-H. Kucher, J. Bertschik (Hgg.): „baustelle kultur“. Diskurslagen in der österreichischen Literatur 1918-1933/38. Bielefeld 2011, 453-473; Evelyne Polt-Heinzl: Österreichische Literatur zwischen den Kriegen. Plädoyer für eine Kanonrevision. Wien 2012; W. Delabar: Das Verbrechen namens Ornament. Bespr. der Neuaufl. von A. Loos‘ Gesammelte Schriften. In: literaturkritik.de, Nr.10/2015; online unter: https://literaturkritik.de/id/21161 (2015); Michael Schwaiger: »Hinter der Fassade der Wirklichkeit«. Leben und Werk von Leo Lania. Wien 2017, 109-206; Oliver Jahraus u.a. (Hg.): Sache/Ding, Versachlichung/Verdinglichung: eine ästhetische Leitdifferenz in der Medienkultur der Weimarer Republik. München 2017 (u.a. Beitr. P.M. Lützeler über H. Broch und die Neue Sachlichkeit, 127-140); P-H. Kucher: ‚Neusachliche‘ Romananfänge. Tatsachenpoetik, kalte Persona und dokumentarischer Stil von Hugo Bettauer bis Lili Grün. In: U. Krieg-Holz/ Ch. Schütte (Hgg): Textanfänge. Berlin 2019, = Texte u. Diskurse, Bd.3, 213-230.

Quellen und Dokumente:

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(PHK)